Raus aus der Wissenschaft
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Neue Daten der "nacaps"-Promovierendenbefragung zeigen: Der Anteil der Doktoranden, die ihre Zukunft in Hochschulen und Forschungsinstituten sehen, ist eingebrochen. Woran liegt das? Und was folgt daraus?
Bild: Mohamed Hassan form PxHere.
EINE AKADEMISCHE KARRIERE wird für Promovierende an deutschen Hochschulen deutlich unattraktiver, zeigen neue "nacaps"-Auswertungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW).
Die Abkürzung "nacaps" steht für "National Academics
Panel Study", es handelt sich um eine regelmäßig wiederholte, deutschlandweit repräsentative Längsschnittstudie über Promovierende und Promovierte. Die Ergebnisse lagen mir vorab vor und sind von
Dienstagnachmittag an online abrufbar.
Befragt, in welchem Beschäftigungssektor sie nach Abschluss ihrer Dissertation arbeiten wollen, nannten 2021/22 nur noch 14 Prozent der Doktoranden die Hochschulen, ein Rückgang um acht
Prozentpunkte gegenüber 2017/18. Weitere vier Prozent strebten 2021/22 eine Karriere an außeruniversitären Forschungseinrichtungen an, womit sich der Wert von 2017/18 sogar halbiert hat.
Die neuen "nacaps"-Ergebnisse passen zu den Zahlen einer anderen DZHW-Befragung, die im März Debatten in der Hochschulpolitik verursacht hatte. Laut "Barometer für die Wissenschaft", gaben darin
71 Prozent aller befristet beschäftigten Postdocs an, sie hätten in den vergangenen zwei Jahren ernsthaft den Ausstieg aus der Wissenschaft erwogen. Und nur noch 16 Prozent der Promovierenden
hatten als Berufsziel die Professur.
Wer in der Hochschulpolitik bislang noch bezweifelte, dass eine Nachwuchskrise in der deutschen Wissenschaft droht, bekommt durch die am Dienstag veröffentlichten "nacaps"-Daten ein weiteres
Warnsignal – und das kurz bevor der BMBF-Entwurf einer Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) abschließend im Bundestag verhandelt wird. Befragt wurden bei "nacaps" in
jeder der bislang drei Kohorten mindestens 15.000 Promovierende von über 60 Hochschulen.
"Der akademische Arbeitsmarkt
hat sich gedreht"
"Unsere Ergebnisse belegen, dass sich der akademische Arbeitsmarkt gedreht hat", sagt "nacaps"-Leiter Kolja Briedis. "Früher war es ein Arbeitgebermarkt. Jetzt ist es ein Arbeitnehmermarkt."
Gerade der hohe Anteil befristeter Arbeitsverträge in der Wissenschaft werde von jungen Forschenden heute viel stärker als Problem thematisiert als vor einigen Jahren. "Sie können es sich
leisten, weil in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels genügend Alternativen da sind."
Abgenommen hat laut "nacaps" auch die Präferenz für den öffentlichen Dienst (acht Prozent statt elf vier Jahre zuvor). Interessanterweise stagniert zugleich aber der Anteil der
Promovierenden, die in die Privatwirtschaft wollen (30 versus 29 Prozent). Stark gewachsen ist allein die Gruppe der Unentschlossenen (+12 Prozentpunkte auf 37 Prozent). Die Promovierenden
halten sich ihre Entscheidung also offen – aus Unsicherheit oder weil sie das Gefühl haben, es sich leisten zu können?
DZHW-Forscher Briedis sagt: "Nicht nur die Initiative #IchBinHanna hat die Debatte über Wissenschaftskarrieren verändert, auch Fragen der mentalen Gesundheit, des Mobbing und der
Machtverhältnisse und -abhängigkeiten spielen heute in der öffentlichen Wahrnehmung eine viel größere Rolle. All das führt dazu, dass sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
heute viel mehr Gedanken darüber machen, ob sie unter den herrschenden Bedingungen wirklich in der Wissenschaft weitermachen wollen."
Der hohe Anteil an Unentschlossenen könnte freilich darauf hindeuten, dass die – potenziellen – Vorteile einer akademischen Karriere durchaus noch wahrgenommen werden: vor allem die Chance, in
Forschung und Lehre der Neugier und den eigenen Interessen zu folgen. Aus Sicht von Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftspolitik eine echte Chance – wenn sie durch
Reformen eine echte Veränderungsbereitschaft signalisieren. "Im Augenblick aber", sagt Briedis, "erscheint vielen das Gras außerhalb der Wissenschaft grüner."
Längere Vertragslaufzeiten,
größere Stellenumfänge
Spannend ist, dass die Wahrnehmung einer mangelnden Attraktivität wissenschaftlicher Karrieren in der "nacaps"-Umfrage kontrastiert wird durch einige berichtete Verbesserungen, teilweise als
Folge der letzten WissZeitVG-Novelle, wie bereits deren Evaluation vor zwei Jahren belegte. So sind die durchschnittlichen Vertragslaufzeiten zwischen 2017/18 und 2021/22 gestiegen. 66 (statt 65) Prozent liegen
jetzt bei 24 bis 36 Monaten und 13 (statt neun) Prozent bei über drei Jahren. Und umgekehrt nur noch 20 Prozent unter zwei Jahre, ein Rückgang um fünf Prozentpunkte. "Das mag nach keinem
wahnsinnig großen Effekt aussehen, ist aber durchaus eine nennenswerte Verschiebung", sagt Briedis. Denn ein größerer Anteil der verbleibenden Kurzzeitverträge seien insofern sinnvoll, weil sie
der Überbrückung dienten.
Gleichzeitig vergrößerte sich der Umfang der Promotionsstellen. Inzwischen haben 54 Prozent der Stellen mindestens einen Zwei-Drittel-Umfang (2017/18: 48 Prozent) und nur noch 27 (statt 38
Prozent) sind mit disziplinenübergreifend mit weniger als 50 Prozent dotiert.
Wie aber ist zu interpretieren, dass die Promovierenden 2021/22 deutlich mehr Zeit für ihre Dissertation aufwanden als vier Jahre zuvor? Konkret: 49 Prozent berichteten, sie säßen mehr als 30
Stunden pro Woche dran, sieben Prozentpunkte mehr als vier Jahre vorher, wobei der Zuwachs allein im Bereich zwischen 40 Stunden und mehr stattfand. Mehr Leistungsdruck? Oder ein vorübergehender
Corona-Effekt, weil die Promovierenden mangels Freizeitalternativen und sozialer Kontakte mehr gearbeitet haben? Kolja Briedis sagt, womöglich spiegelten die Ergebnisse auch eine dauerhafte
Veränderung der akademischen Arbeitswelt nach der Pandemie wider, "mit mehr Homeoffice, mehr digitalen Besprechungen und dadurch weniger Zeit, die etwa für Pendelei draufgeht".
Sicherlich drückt die gestiegene Arbeitszeit auch den starken Trend zu kumulativen Dissertationen aus, die über die gesamte Promotionszeit hinweg aufgrund mehrerer Publikationstermine einen hohen
zeitlichen Aufwand erfordern. Inzwischen geben 39 Prozent der Promovierenden an, kumulativ zu promovieren, zehn Prozentpunkte mehr als 2017/18. Die klassische Monografie macht noch 47
Prozent aus, nach 51 Prozent vier Jahre zuvor. Was unter Qualitätsgesichtspunkten in jedem Fall positiv zu bewerten sein dürfte, bedeuten kumulative Promotionen doch, dass die einzelnen
Bestandteile über ein unabhängiges Peer-Review-Verfahren laufen. Auch werden deutlich mehr Betreuungsvereinbarungen schriftlich fixiert.
Dass mit 16 Prozent inzwischen dreimal so viele Promovierende zwischen 2500 und 3000 Euro pro Monat verdienen und statt 19 nur noch 13 Prozent unter 1000 Euro, sieht dagegen nur auf den ersten
Blick wie ein signifikanter Fortschritt aus. Nach Abzug der Inflation dürfte vom realen Zuwachs nicht mehr so viel übrig geblieben sein.
Stimmen aus Hochschulen und Politik zu den neuen "nacaps"-Ergebnissen
"Ausufernde Befristung macht Wissenschaft als Beruf unattraktiv", kommentierte Amrei Bahr von der Initiative "#IchbinHanna" auf Anfrage. "Die
Reform des WissZeitVG muss dem endlich ein Ende machen: mit einer Befristungshöchstquote und einer frühzeitigen Anschlusszusage".
Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Lambert T. Koch, sagte, erhalte die Ergebnisse "in der Tat für alarmierend Sie rufen Politik und
Hochschulen zum raschen und konzertierten Handeln auf." Es gehe nicht nur um verlässlichere und attraktivere Karriereperspektiven, sondern auch um ein breiteres Spektrum an dauerhaften
Beschäftigungsoptionen neben der Professur. Ein Maßnahmenpaket in diese Richtung umzusetzen, könne nur gelingen, wenn Bund und Länder rasch die gesetzgeberischen und finanziellen Voraussetzungen
dafür schaffen. "Wir haben keine Zeit mehr für ideologisches Geplänkel."
Die grüne Bundestagsabgeordnete Laura Kraft sagte, wenn Deutschland ein attraktiver Hochschulstandort bleiben solle, "müssen wir endlich für
verlässlichere Beschäftigungsverhältnisse sorgen." Mit einer Reform des WissZeitVG allein sei es hierbei nicht getan. "Wir brauchen strukturelle und finanzielle Veränderungen im
Hochschulsystem. Das wird eine Aufgabe der Politik für die nächsten zehn Jahre und darüber hinaus." Ein erster Schritt in die richtige Richtung könne das von uns Grünen mitinitiierte
Bund-Länder-Programm für moderne Personalstrukturen sein. "Ich erwarte dazu ein entsprechendes Konzept bis spätestens September aus dem BMBF." Auch der Wissenschaftsrat erarbeitet
gerade Vorschläge zu dem Thema. "Diese Expertise sollten wir nutzen."
Krafts FDP-Kollege Stephan Seiter sagte, die Studienergebnisse stellten den Ländern ein schlechtes Zeugnis hinsichtlich ihrer Attraktivität
als Arbeitgeber aus. "Landesregierungen in allen Bundesländern haben sich über Jahrzehnte hinweg vor der Frage gedrückt, welche Mittel sie den Hochschulen zur Gestaltung eines wirklich
attraktiven Arbeitsumfeldes an die Hand geben möchten. Wenn Hochschulen mit der freien Wirtschaft mithalten sollen, müssen sie vor allem in der Personalentwicklung besser werden." Vielfach
schienen Fakultäten in Fragen der Personalentwicklung am Anfang zu stehen, fügte Seiter hinzu. "Die Versteifung auf das WissZeitVG verstellt den Blick für die Komplexität
des
Problems und spielt Wissenschaftliches Personal und Hochschulleitungen gegeneinander aus."
"Alarmierend" nennt die "nacaps"-Ergebnisse auch die SPD-Wissenschaftspolitikerin Carolin Wagner. "Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen mit
Beschäftigten aus der Wissenschaft, wie begeistert sie von ihrer Tätigkeit sind, aber wie ihnen die Arbeitsbedingungen immer schwerer zu schaffen machen." Viel zu lange habe sich die Academia
darauf verlassen, dass sich immer wieder neue kluge Köpfe um befristete Stellen bemühten, so habe die Wissenschaft die Beschäftigungsrisiken auf den Schultern der ArbeitnehmerInnen belassen
können. Die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft müssten sich ändern, wenn Deutschland nicht an Innovationskraft nicht einbüßen wolle." Für mich als Bundespolitikerin macht das deutlich: Wir
müssen den Beschäftigten mit der Reform des WissZeitVGs ganz stark entgegen kommen!" Und an die Länder appelliere sie: "Schafft mehr Dauerstellen an den Universitäten und haltet gutes Personal
für Forschung und Lehre!"
Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Walter Rosenthal, betonte, die Hochschulen qualifizieren durch Studium und Promotion "nicht
primär oder gar ausschließlich" für eine Laufbahn an Hochschulen. Jährlich würden knapp 30.000 Promotionen abgeschlossen, im Wissenschaftssystem disziplinübergreifend aber nur etwa 4.000
unbefristete Stellen neu besetzt. Die große Mehrheit der Doktoranden verlasse die Hochschulen nach dem erfolgreichen Abschluss der Promotion, um eine Tätigkeit in anderen Berufsfeldern der
Gesellschaft, in Wirtschaft, Verwaltung oder auch in der forschenden Industrie aufzunehmen. "Das ist gesellschaftlich auch genau so gewünscht und systemisch notwendig." Die während der
Promotionsphase erworbenen Kompetenzen und wissenschaftlichen Fertigkeiten qualifizierten für viele berufliche Aufgaben. "Daher ist den Hochschulen bewusst, dass sie auch in einem Wettbewerb mit
Arbeitgebern außerhalb der Wissenschaft stehen." Ziel müsse es sein, attraktive Beschäftigungsverhältnisse und transparente Karrierewege an den Hochschulen zu gewährleisten. "Auf diesem Weg
befinden sich viele Hochschulen bereits, etwa bezogen auf die Gestaltung der durchschnittlichen Vertragslaufzeiten, die zeitliche Erhöhung des Beschäftigungsumfangs oder die Entwicklung neuer
Karrierepfade."
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