"Party government" oder "parti présidentiel"?: die Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem der V. Französischen Republik
In: Magisterarbeit
Aus der Einleitung: "Je voulais briser les partis. J'étais le seul à pouvoir le faire et le seul à croire la chose possible au moment que j'ai choisi. J'ai eu raison contre tous." (de Gaulle 1962). Charles de Gaulles sieht die politischen Parteien als Grundübel und Hauptursache für den Untergang der III. und IV. Französischen Republik. Mit Etablierung der V. Republik sollen sie deshalb dauerhaft aus dem Prozess der politischen Entscheidungsfindung verdrängt werden. Doch entgegen der Intention ihrer Gründungsväter passen sich die Parteien den Vorgaben des neuen Regierungssystems an und erlangen infolgedessen zunehmende Bedeutung im Zusammenspiel der politischen Hauptakteure. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit diesen unerwarteten Einflussmöglichkeiten der Parteien auf die Regierungspolitik. Hierbei soll analysiert werden, inwieweit das französische Regierungssystem als Form der Parteienregierung charakterisiert werden kann. Ausgehend von Richard S. Katz' Kriterien des "party government" und dem französischen Gegenstück der präsidentialisierten Parteien, "parti présidentiel", soll die Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem analysiert werden. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach dem realen Einfluss der französischen Parteien auf die Hauptentscheidungen des politischen Lebens Frankreichs, auf die Konstituierung der Exekutive und auf die Formulierung von Regierungspolitik. Die Parteien werden in diesem Zusammenhang insbesondere auf ihr Verhältnis zum französischen Staatspräsidenten hin untersucht, da dieser der zentrale Akteur im Verfassungsgefüge ist und somit maßgeblich die Machtposition der Parteien beeinflusst. Es wird die These aufgestellt, dass sich das Regierungssystem der V. Französischen Republik zu einer abgeschwächten Form der Parteienregierung entwickelt hat. Insbesondere bei der direkten Präsidentschaftswahl, dem zentralen politischen Ereignis, nehmen die Parteien eine wichtige Stellung ein. An diesem Punkt soll gezeigt werden, dass die politischen Parteien durch die Ernennung eines eigenen Spitzenkandidaten starken Einfluss auf die Konstituierung der Exekutive nehmen. Des Weiteren können die Parteien auch auf die Bestimmung der Regierungspolitik kontinuierlich mehr einwirken. Es soll gezeigt werden, dass ihre Macht im Gegensatz zu anderen westlichen Demokratien an diesem Punkt jedoch nach wie vor gering ist. In der Literatur werden die V. Französische Republik und die politischen Parteien umfassend untersucht. Insbesondere die Forschung zu den einzelnen Parteien und der Entwicklung des Parteiensystems ist weitreichend. Noch zahlreicher sind die Arbeiten, welche sich mit dem französischen Regierungssystem und hierbei vor allem der Rolle des Staatspräsidenten beschäftigen. In diesem Zusammenhang ist auch die seit Jahren lebhaft geführte Diskussion um die Einordnung der V. Republik in die Typologie demokratischer Regierungssysteme zu nennen, also der Klassifizierung Frankreichs als parlamentarisches, präsidentielles oder semi-präsidentielles System. Trotz des weiten Spektrums der Literatur fällt auf, dass sich vor allem die französischen Autoren der Konzeption Charles de Gaulles nahtlos anschließen und die politischen Parteien als schwache, wenig stabile Gebilde darstellen. Die französische Forschung orientiert sich überwiegend an einer präsidentialistischen Verfassungsauslegung und beurteilt die Macht der Parteien innerhalb des Regierungssystems als äußerst gering. Die Parteien werden ganz im Sinne der Verfassungsväter der V. Republik als untergeordnete Organisationen charakterisiert, die sich dem präsidentiellen Willen bedingungslos beugen. Als hauptsächliche Vertreter dieser Anschauung seien hier Maurice Duverger, Pierre Avril und Hugues Portelli genannt. Dominique Chagnollaud und Jean-Louis Quermonne wiederum gestehen den Parteien in ihrem vierbändigen Werk zur V. Republik ein für die französische Literatur durchaus weitgehendes Maß an Einflussmöglichkeiten zu. Dies könnte ein Anzeichen für einen Wandel in der französischen Forschung und die höhere Anerkennung der Parteien in den letzten Jahren sein. In der englisch- und deutschsprachigen Forschung hingegen setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass die französischen Parteien sehr wohl eine zentrale Stellung im Regierungssystem einnehmen. Gerade in der deutschen Forschung hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte entwickelt, ob die V. Französische Republik eine Form der Parteienregierung darstellt. Hierbei sei vor allem auf die Diskussion in der Zeitschrift für Parlamentsfragen hingewiesen, die zwischen Romy Messerschmidt und Adolf Kimmel, sowie Ina Stephan und Dirk Zadra geführt wird. Auch Christine Pütz widerlegt die französischen Interpretationen der Parteien als bloße "partis présidentiel" und widmet sich hierbei insbesondere der Betrachtung der Staatspräsidenten als Parteiführer. Für die englischsprachige Forschung seien Alistair Cole und Andrew Knapp genannt, die ebenfalls auf die gewonnene Machtposition der Parteien hinweisen. Trotz der großen Menge an Literatur füllt die vorliegende Arbeit insofern eine Lücke, als dass sie den Zusammenhang zwischen Parteien- und Regierungssystem darzustellen versucht. Indem die Untersuchung Verfassungsnorm sowie Verfassungspraxis betrachtet und die konkreten Einflussmöglichkeiten der politischen Parteien innerhalb dieser aufzeigt, stellt sie einen Beitrag zur aktuellen Diskussion bezüglich der Einordnung der V. Republik als Parteienregierung dar. Die Konstitution bildet den grundlegenden, strukturierenden Rahmen für das Handeln der Verfassungsorgane. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist deshalb die Darstellung der konstitutionellen Ordnung der V. Französischen Republik um in einem zweiten Schritt deren Interpretation durch die politischen Akteure sowie die Regierungspraxis zu untersuchen. Im ersten Teil der Arbeit werden die bereits im Titel genannten Begriffe des "party government" sowie der "parti présidentiel" erläutert und deren jeweilige Merkmale aufgeführt. Die Analyse der Verfassungsordnung der V. Französischen Republik stellt den zweiten Teil der Arbeit dar. Hierbei wird auf die Gründung der V. Französischen Republik, die Intention der Verfassungsgeber und die Verfassungsrevision von 1962 eingegangen. Anschließend wird die Besonderheit des französischen Regierungssystems mit seiner Struktur einer doppelköpfigen Exekutive untersucht. Die Verfassung etabliert durch die direkte Präsidentschaftswahl sowie die Legislativwahlen zwei Exekutivorgane: Den Staatspräsidenten und die von der Nationalversammlung unterstützte Regierung unter Führung des Premierministers. Rolle und Machtbefugnisse dieser beiden Exekutivorgane werden aufgezeigt um anschließend ihr Zusammenwirken darzustellen. Abschließend werden die Stellung der politischen Parteien im Verfassungssystem und allgemeine Merkmale des französischen Parteiensystems aufgezeigt. Die Nationalversammlung wird auf die für die Fragestellung relevanten Punkte des Wahlmodus und des Instruments des rationalisierten Parlamentarismus hin untersucht. Ein kurzes Zwischenfazit resümiert die gewonnenen Erkenntnisse und dient somit als Grundlage für die anschließende Betrachtung der Verfassungspraxis in der V. Republik. Die Untersuchung der Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem ist das Kernstück der Arbeit und folgt im dritten Teil. Die realen Einflussmöglichkeiten der Parteien sollen hier durchleuchtet werden. Die Analyse greift die Fragestellung der Arbeit auf, ob das französische Regierungssystem als eine Art der Parteienregierung bezeichnet werden kann oder aber durch präsidentialisierte Parteien mit minimalen Einflussmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Erster Aspekt ist hierbei der Einfluss der Parteien auf die Bildung und Zusammensetzung der Exekutive. Die Präsidentschaftswahl steht in diesem Zusammenhang als hauptsächliches politisches Ereignis im Zentrum der Analyse. Es soll gezeigt werden, dass die Präsidentschaftswahlen weniger Personen- als vielmehr Parteienwahlen sind, bei denen die Parteien eine wichtige Position bei der Erlangung der Präsidentschaft einnehmen. In einem zweiten Schritt soll die Rolle der Parteien bei der Regierungsbildung untersucht werden. Die Einflussmöglichkeiten auf die Auswahl des Kabinetts werden in Zeiten gleichgerichteter Mehrheiten und Phasen unterschiedlicher parteipolitischer Ausrichtung, der so genannten Kohabitation, unterteilt. Daran anschließend erfolgt die Charakterisierung des Staatspräsidenten als Führer "seiner" Partei. Zweiter Aspekt der Rolle der Parteien im Regierungssystem ist die Beziehung zur Regierungspolitik aus parlamentarischer Sicht. Auch hierbei muss aufgrund der Verfassungskonzeption einer doppelten Exekutive zwischen Phasen übereinstimmender präsidialer und parlamentarischer Mehrheiten und Phasen der Kohabitation unterschieden werden. In den Phasen gleichgerichteter parteipolitischer Mehrheiten wird zunächst die Entstehung einer parlamentarischen Regierungsmehrheit betrachtet. Es soll gezeigt werden, dass dieser "fait majoritaire" das Fundament präsidentieller Regierungspolitik darstellt. Daraufhin sollen die realen Einwirkungsmöglichkeiten der Parteien auf die Formulierung von Regierungspolitik untersucht werden. Die Macht der Parteien variiert hierbei je nach politischen Phasen und Akteuren. Deshalb soll daran anschließend die präsidentielle Regierungspraxis der fünf bisherigen französischen Staatspräsidenten und der jeweilige Einfluss "ihrer" Regierungspartei analysiert werden. Die im Mai 2007 begonnene Präsidentschaft Nicolas Sarkozys wird von dieser Untersuchung ausgenommen, da nach neun Monaten Regierungszeit noch keine klare Einschätzung möglich ist, sondern lediglich Tendenzen angedeutet werden können. Dies soll im Schlussteil der Arbeit erfolgen. Der Untersuchung über den Parteieneinfluss auf die Regierungspolitik bei gleichgerichteten Mehrheiten wird die Analyse der Einwirkungsmöglichkeiten in Kohabitationszeiten gegenübergestellt. Zunächst sollen Erscheinungsformen und allgemeine Charakteristika der Kohabitation geschildert werden um anschließend zu durchleuchten, inwieweit während dieser Phasen ein Machttransfer innerhalb der Exekutive stattfindet. Daraufhin wird die Regierungspraxis während der drei bisherigen Kohabitationen untersucht und die Einflussmöglichkeiten der Parteien auf die Regierungspolitik aufgezeigt. Dies dient der abschließenden Erörterung, ob die politischen Parteien in Zeiten der Kohabitation größeren Einfluss auf Regierungsentscheidungen nehmen als in Phasen gleichgerichteter parteipolitischer Mehrheiten. Es wird darauf verzichtet eine Einordnung der V. Republik in der Typologie demokratischer Regierungssysteme vorzunehmen. Die Frage, ob es sich um ein parlamentarisches, präsidentielles oder semi-präsidentielles Regierungssystem handelt, impliziert zwar Auswirkungen auf die Funktionen politischer Parteien. Deren Beantwortung würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und geht über die Fragestellung weit hinaus. Des Weiteren konzentriert sich die Untersuchung auf die Rolle der politischen Parteien in Beziehung zu Staatspräsident, Premierminister und Regierung sowie Nationalversammlung. Der Senat, als zweite Kammer der französischen Legislative, findet keine Betrachtung, da er in der Verfassungspraxis nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auch die Funktion und Ausgestaltung des französischen Verfassungsrats, des Conseil Constitutionnel, wird von der Betrachtung ausgeklammert, da seine Position im Verfassungsgefüge für die Analyse des Parteiencharakters der V. Republik nur wenig Aufschluss gibt. Ebenfalls von der Untersuchung ausgeschlossen wird die Rekrutierung politischen Führungspersonals. Dieser Aspekt der französischen Verfassungspraxis ist in den letzten Jahren verstärkt in die Kritik gekommen. Absolventen der Grandes Écoles, insbesondere der ENA (École nationale d'administration), steigen ohne vorherige Parteienarbeit direkt oben in das Regierungsgeschäft ein. Obwohl dieser Gesichtspunkt äußerst interessant in der Betrachtung der politischen Ordnung und einer "exception française" ist, stellt er für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit nur einen Nebenaspekt dar. Dieser soll nicht weiter ausgeführt werden, da sich die Untersuchung auf die Einflussmöglichkeiten von Parteien auf Konstituierung und Entscheidungsfindung der Exekutive konzentriert.