Aus der Einleitung: 4.500 Mitarbeiter, zehn Länder, drei Kontinente und fünf Zeitzonen: Das ist die Bilanz der Produktion der elektrischen Zahnbürste "Sonicare Elite 7000" der Firma Philips aus den Niederlanden (vgl. Abb. 1). Bis zu der Verpackung in Seattle haben die Komponenten zwei Drittel des Erdumfangs zurückgelegt. Die "Weltbürste" ist nur eines von zahllosen Beispielen, welches auf die weltumspannenden Produktionsnetze hinweist. Die Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung ist der Motor der Weltwirtschaft, die sich laut Weltbank in der "revolutionären Phase" der Globalisierung befindet. Unter Globalisierung versteht man gemeinhin die Zunahme weltweiter Verflechtungen infolge der Ausbreitung und Vertiefung ökonomischer, ökologischer, politischer und kultureller Prozesse. Aus ökonomischer Perspektive steht die Ausbildung weltweiter Märkte im Mittelpunkt, "auf denen Waren und Dienstleistungen gehandelt, Investitionen getätigt, Technologien übertragen und Informationen ausgetauscht werden". Mit zunehmender Interdependenz der Weltwirtschaft hängt das ökonomische und soziale Wohl der Nationen, Regionen und Städte von komplexen Interaktionen auf globaler Ebene ab. Mit anderen Worten, "what happens in any given country or locality is broadly determinedby its role in systems of production, trade and consumption which have become global in scope". Jeder Ort, jede Region oder Nation übernimmt somit innerhalb des von Konkurrenz geprägten Weltsystems eine spezifische Rolle. Der gegenwärtige Strukturwandel im Zeichen der Globalisierung fordert die "Rollenverteilung" des "modernen Weltsystems", dessen Ursprung unter anderem im Europa des 15. Jahrhunderts zu suchen ist, heraus. Vor diesem Hintergrund ist der "ökonomische Auf- bzw. Abstieg von Ländern und Regionen" zu sehen, das heißt es gibt Gewinner und Verlierer des Strukturwandels. Dubai bietet die moderne Version von Tausendundeiner Nacht: es sind vor allem Projekte der Superlative, wie zum Beispiel das einzige Sieben-Sterne Hotel der Welt und aufgeschüttete Inseln in Form einer Palme, die das Bild von Dubai nachhaltig prägen. Künstliche Welten, internationale Sportereignisse, Gesundheitstourismus und an erster Stelle Shopping-Tourismus – Dubai ist in vielfältiger Weise für Touristen aus aller Welt attraktiv. Jedoch beginnt die große Erfolgsgeschichte der Moderne nicht erst mit dem Touristenaufkommen der 1990er Jahre. Dubai konnte sich früh als Dienstleistungs- und Handelszentrum in der Golfregion etablieren, bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts spielte der Perlenhandel die entscheidende Rolle. Zollfreiheit und Steuervergünstigungen zogen bereits damals zahlreiche Händler an – heute gilt Dubai als einer der bedeutendsten Umschlagplätze für den Goldhandel. Die Erlöse aus den Petrodollars nutzte die Führung seit den 1960er Jahren, um den Standort Dubai durch groß angelegte Infrastrukturprojekte, wie beispielsweise die beiden Tiefseehäfen Jebel Ali und Port Rashid, kontinuierlich zu stärken und für die Nach-Erdöl-Zeit zu sorgen. Zu Beginn des Jahres 2006 machte Dubai mit Schlagzeilen auf sich aufmerksam, die als Menetekel für die etablierten Industrieländer gedeutet werden können: Zum einen der Vorstoß der Dubai Ports World sechs Häfen an der Ostküste der USA zu übernehmen, zum anderen die neu gegründete internationale Börse DIFX (Dubai International Financial Exchange), die Unternehmen aus einem Raum anziehen will, in dem ein Drittel der Weltbevölkerung lebt. Innerhalb von nur 50 Jahren ist Dubai vom verschlafenen Fischerdorf zur "cosmopolitan regionally dominant twenty-first century city" aufgestiegen und hat somit eine einzigartige Entwicklung vollzogen. Auf der Suche nach einer Position in der Weltwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung gibt man sich nicht mit der "reaktiven Mittlerrolle" eines "globalisierten" Ortes zufrieden, sondern strebt die aktive Funktion eines "globalen Ortes" an.m Could Dubai become the most important city on earth?" – fragt Nicolson im Online-Angebot der Khaleej Times vom 13. Februar 2006 und bringt damit das Selbstbewusstsein und die Ambitionen der Regierung Dubais auf den Punkt. Scheinbar erwacht hier eine Region, die bisher kaum jemand auf dem "Globalisierungsradar" hatte. Die Globalisierungsdebatte vermittelt oftmals den Eindruck von einem zeitlich "isoliert" auftretenden Phänomen. Der zweite zentrale Begriff des Titels der Arbeit - Weltwirtschaftssystem - wurde gewählt, um den Globalisierungsansatz in einen systematischen (historischen) Zusammenhang zu stellen. Welchen Beitrag leistet die geographische Perspektive? Die Weltwirtschaftlichen Vorgänge und die mit diesen zusammen-hängenden Transporte von Personen sowie von materiellen und immateriellen Gütern und Leistungen sind nicht nur an sich wirtschafts-geographische Arbeitsfelder, sondern ihre Wirkungen auf das innere Gefüge der an den Außenbeziehungen beteiligten Staaten machen sie zu einem wirtschaftsgeographischen Kernbereich. Ein Autor beklagt, dass die Beschäftigung der Geographen mit dem Welthandel immer spärlich ausfiel und seit Mitte des 20. Jahrhunderts zum Stillstand kam. Der Hauptgrund ist der kleine Maßstab, das heißt Übersee- und Welthandel sind mit geographischen Methoden nur schwer fassbar. Ferner hätte man versäumt eine "tragfähige Brücke zur Außenhandelstheorie der Nationalökonomie zu schlagen." Zehn Jahre später greift ein anderer die Problematik wieder auf und stellt sie gleichzeitig in den größeren Zusammenhang der Globalisierungsdiskussion. Obwohl die Prozesse und die Folgen, die mit dem Begriff Globalisierung verbunden sind, Gegenstandsbereich der Geographie sind, seien die Geographen an den zentralen Streitfragen nicht beteiligt: "Geography is rather like the small child in the school playground who always gets missed out when the big children are picking teams". Darüber hinaus moniert er, dass sich die geographische Forschung in großem Maße mit dem Zu- und Abfluss von ausländischen Direktinvestitionen beschäftige, während Handelsströme wenig beachtet würden: "in the case of international trade, what matters are not so much changes in volume - although they are important - as changes in composition". Mit eben jener "composition" in zeitlicher und räumlicher Dimension beschäftigt sich das nachfolgende Kapitel. Eine explizite "Theorie der Weltwirtschaft" existiert nicht. Dennoch sollen die vorgestellten Konzepte1 mit ihren verschiedenen Aspekten in der Gesamtansicht eine erste systematische Annäherung an das Weltwirtschaftssystem darstellen. Den aktuellen Entwicklungen und der Struktur der Weltwirtschaft im Kontext der Globalisierung widmet sich das dritte Kapitel, welches zusammen mit dem zweiten Kapitel einen "theoretischen Rahmen" bildet, innerhalb dessen schließlich die Bedeutung von Dubai herausgearbeitet werden soll.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: 1.EINLEITUNG1 1.1Von der "Weltbürste" zur Weltwirtschaft1 1.2Warum Dubai?2 1.3Forschungsstand und Fragestellung3 2.WELTWIRTSCHAFTSSYSTEM4 2.1Weltsystem-Theorie und "Weltwirtschaften"5 2.1.1Das Weltsystem nach WALLERSTEIN5 2.1.1.1Die Analyse des Weltsystems5 2.1.1.2Das moderne Weltsystem6 2.1.2Die "Weltwirtschaften" nach BRAUDEL8 2.2Die Wirtschaftsräume nach OTREMBA10 2.3Tripolarität der Weltwirtschaft11 2.3.1Die Triade nach OHMAE11 2.3.2Regionale Theorie des Welthandels nach GROTEWOLD12 2.3.3Weltstädte, Global Cities und Steuerungszentralen14 2.4Zusammenfassung16 3.GLOBALISIERUNG DER WELTWIRTSCHAFT19 3.1Problematisierung der Globalisierung19 3.1.1Der problematische Begriff Globalisierung20 3.1.2Das Problem Globalisierung21 3.2Konzeption von Globalisierung22 3.2.1Globalisierung als neue Epoche23 3.2.2Globalisierung als Prozess24 3.2.3Voraussetzungen der Globalisierung24 3.2.3.1Technologische Innovationen24 3.2.3.2Institutionelle Veränderungen26 3.2.3.3Die Integration neuer Märkte27 3.2.4Akteure der Globalisierung27 3.2.4.1Der Nationalstaat als Akteur28 3.2.4.2Global agierende Unternehmen28 3.2.4.3Der Konsument29 3.3Erscheinungsformen der Globalisierung30 3.3.1Globalisierung des Handels30 3.3.1.1Entwicklung der Rahmenbedingungen des Welthandels30 3.3.1.2Entwicklungen im Handel mit Waren und Dienstleistungen31 3.3.1.3Regionale Struktur des Welthandels34 3.3.2Globalisierung der Produktion44 3.3.2.1Von der klassischen zur neuen internationalen Arbeitsteilung44 3.3.2.2Transnationale Unternehmen46 3.3.2.3Ausländische Direktinvestitionen47 3.3.3Globalisierung der Finanzmärkte52 3.3.3.1Das Bretton Woods-System52 3.3.3.2Spekulation versus Effizienz53 3.3.4Globale Transportnetze54 3.3.4.1Die Herausbildung von Transportnetzen55 3.3.4.2Containerlinienschifffahrt55 3.3.4.3Luftverkehr61 3.4Fazit – das globalisierte Weltwirtschaftssystem64 3.4.1Globalisierung versus Regionalisierung65 3.4.2Globale Vernetzung68 3.4.2.1Global Cities als Nodalpunkte von globalen Netzwerken68 3.4.2.2Verbindung der Nodalpunkte69 4.DUBAI IM WELTWIRTSCHAFTSSYSTEM71 4.1Die Golfregion72 4.1.1Die Golfküste unter europäischem Einfluss72 4.1.2Beginn der Öl-Ära73 4.1.3Eine Region hängt am Öltropf74 4.1.3.1Die Ausgangsbedingungen74 4.1.3.2Die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC)76 4.1.4Die Golfregion – Dependenz versus internationale Profilierung80 4.2Überblick über die VAE81 4.2.1Politisches System der VAE82 4.2.2Außenwirtschaftspolitik der VAE84 4.2.3Sozio-ökonomische Betrachtung der VAE87 4.2.3.1Entwicklung im Zeichen des Ölreichtums87 4.2.3.2Entwicklung im Zeichen der Diversifizierung91 4.3Dubai – Wirtschaftsstruktur und Standortfaktoren94 4.3.1Der Aufschwung Dubais nach dem Zweiten Weltkrieg96 4.3.2Ölinduzierte Entwicklung und Diversifizierungstendenzen98 4.3.2.1Immobilienboom in Dubai101 4.3.2.2Freihandelszonen als Schnittpunkte der Diversifizierungsstrategie 102 4.3.2.3Wer investiert in Dubai?104 4.3.3Handel105 4.3.4Transportwesen108 4.3.4.1Die Häfen Dubais108 4.3.4.2Dubai International Airport 113 4.3.5Tourismus118 4.3.6Finanzen122 4.3.7Produzierendes Gewerbe123 4.4Fazit: Dubais Sonderweg in der Golfregion 124 5.DUBAIS BEDEUTUNG IM GLOBALISIERTEN WELTWIRTSCHAFTS-SYSTEM126 5.1Gewinner und Verlierer der Globalisierung126 5.2Dubai als "Hub" der Golfregion128 5.3Dubai – ein überregionales Steuerungszentrum?131 6.LITERATURVERZEICHNIS132Textprobe:Textprobe: Kapitel 4.3.2; Ölinduzierte Entwicklung und Diversifizierungstendenzen: 1963 begann man in Dubai mit den Bohrungen nach Öl, 1966 stieß man auf Öl und drei Jahre später schließlich wurde das erste Rohöl aus Dubai exportiert. Boomartig strömten Menschen, Güter und finanzielle Mittel nach Dubai. Die Ausweitung der Rohölföderung in den 1970er Jahren und die starke Anhebung des Weltmarktpreises für Rohöl in den Jahren 1973 und 1979 bescherten dem Emirat über die Zahlungen der Ölgesellschaften reiche Finanzmittel. Daraufhin erlebte die Stadt einen beispiellosen "Bau-Boom". Schulen, Krankenhäuser, Straßen und moderne Telekommunikationsnetzwerke wurden aufgebaut. Ein neuer Hafen (Port Rashid) wurde gebaut, der Dubai International Airport (DIA) wurde um einen Terminal erweitert und mit einer erweiterten Landebahn ausgestattet, die für jeden Flugzeugtyp geeignet ist. Mit Jebel Ali baute man den größten künstlichen Hafen der Welt. Um ihn herum wurde die Jebel Ali Freihandelszone (JAFZ) eingerichtet, heute eine unter vielen Freihandelszonen, mit denen Dubai Investoren anlockt. Für die zahlreichen Projekte brauchte man bereits Ende der 1960er Jahre möglichst billige Arbeitskräfte, die man insbesondere in Indien und Pakistan fand. Viele kamen auch aus dem Iran, Europa und arabischen Ländern. 1968 betrug der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte 50% der Gesamtbevölkerung Dubais. Zwar hatten die "expatriates" oder "non-nationals" einen beträchtlichen kulturellen Einfluss auf die einheimische Gesellschaft, aber ihr politischer Einfluss in der Zivilgesellschaft war und ist beschränkt, so dürfen sie beispielsweise keine Gewerkschaften bilden. Den entscheidenden Anstoß für den Aufstieg Dubais lieferten die Öleinnahmen, eine weitere entscheidende Antriebskraft waren die lokalen Kaufleute mit ihrem Netzwerk aus internationalen Kontakten. Schon früh diversifizierten sie ihre Geschäftstätigkeiten, finanzierten große Projekte, agierten als Berater und investierten als Aktionäre in private Unternehmen, beispielsweise in die Dubai Telephone Company. Im ersten Golfkrieg bewiesen die Kaufleute ein feines Gespür für Unternehmertum, als sie in den sehr lukrativen Handel mit dem Iran eingebunden waren. Der Handel mit Konsumgütern und Ausrüstungsgegenständen jeglicher Art brachte ihnen und der gesamten Wirtschaft hohe Gewinne ein. Auch die Häfen und angeschlossene Dienstleistungen profitierten von dem Krieg, da die internationale Schifffahrt die sichereren Trockendocks in Dubai den Häfen von Kuwait und Iran vorzog. Seit den frühen 1980er Jahren ist der Handel mit den anderen GCC-Staaten kontinuierlich angewachsen, so dass die Häfen Dubais zu den geschäftigsten der ganzen Region wurden. Seit den 1970er Jahren machte Dubai durch den Bau von Trockendocks, von See- und Flughäfen sowie von Luxushotels, die Einrichtung von Freihandelszonen, das zollfreie Angebot von Uhren, Fotoartikeln, Goldschmuck und Perlen, aber auch das Angebot von Alkohol und Night Life (in Maßen) auf sich aufmerksam. Das moderne Dubai mit seinem Ruf als Handelsplatz steht damit in einer Linie mit dem Dubai vor der Öl-Ära und kann damit auf etwas aufbauen, das SALLOUM als "inherited ability for commerce by its people" bezeichnet. Dubai besitzt nur einen kleinen Anteil von 4% am Erdölvorkommen und 1,9% am Erdgasvorkommen der VAE. Die Lebensdauer beider Ressourcen wird auf 30 bis 40 Jahre geschätzt. Angesichts dessen bestimmte von Beginn an die Notwendigkeit zu alternativen Einkommensquellen für die "Nach-Erdöl-Zeit" das Handeln der Verantwortlichen. Einseitig auf den Industriesektor zu bauen kam aufgrund der nationalen und regionalen Marktenge nicht in Frage. Die politischen Entwicklungen nach dem 11. September 2001 brachten zusätzlich Unsicherheiten bezüglich der Investitionen und Anlagen im Ausland – vor allem in den USA – mit sich. Die Verantwortlichen in Dubai erkannten die Zeichen der Zeit und setzten auf die Privatisierung der Wirtschaft, die Öffnung des Landes für den internationalen Tourismus, die Liberalisierung der Immobilienmärkte sowie des Waren- und Finanzverkehrs. Flankierend dazu wurden Transportwesen, Infrastruktur und IT-Kommunikation den neuen Gegebenheiten angepasst, günstige Arbeits-, Aufenthalts- und Lebensbedingungen für alle Fachkräfte, Investoren und Besucher geschaffen. Im Zeitraum von 1975 bis 1981 verzeichnete das Emirat ein Wachstum des BIP von durchschnittlich 17% pro Jahr. Infolge des Verfalls des Ölpreises und der instabilen Verhältnisse in der Region während des ersten Golfkrieges stagnierte das BIP weitestgehend bis Ende der 1980er Jahre. Von 1990 bis 2000 verzeichnete Dubai ein Wachstum des BIP (in nominalen Preisen) zum Vorjahr von durchschnittlich 7.7%. Für das Jahr 2004 wird das BIP bei KKP mit 30 Mrd. US-$ angegeben. Das Wachstum wurde dabei primär über eine stabile Entwicklung außerhalb des Rohölsektors ("Nicht-Öl-Sektor") erreicht, welcher im Zeitraum von 1990 bis 2000 ein durchschnittliches Wachstum von 11.1% erzielte. Der Rohölsektor hingegen verzeichnete im gleichen Zeitraum einen durchschnittlichen Rückgang von -2.4% pro Jahr. Der Rohölsektor verlor demnach Anteile am BIP zugunsten des Nicht-Öl-Sektors (vgl. Abb. 26). In den 1970er und 1980er Jahren wurde knapp die Hälfte des BIP außerhalb des Rohölsektors erwirtschaftet, ab den 1990er Jahren stieg der Anteil des Nicht-Öl-Sektors am BIP deutlich: Im Jahr 1990 betrug er 65.2% des BIP, 2000 90% und 2004 bereits mehr als 93%. Die Werte belegen die von der Regierung erfolgreich eingeleiteten Diversifizierungsprozesse, insbesondere seit Beginn der 1990er Jahre, so dass die Vulnerabilität des BIP gegenüber Ölpreisschwankungen bedeutend reduziert werden konnte. Der Anteil des Rohöls am BIP Dubais ist mit 7% signifikant geringer als im Landesdurchschnitt, der einen Anteil von 33% verzeichnet (vgl. Abb. 27). Bei einem Anteil von 28% der Bevölkerung steuert Dubai alleine 31% des gesamten Nicht-Öl-Sektors der VAE bei. Besonders dynamisch entwickelten sich die Sektoren Handel, Finanzen, Transport- und Kommunikationswesen, Restaurant- und Hotelgewerbe und das produzierende Gewerbe. Zwischen 1994 und 2000 wuchs das im Hotel- und Gastronomiegewerbe erwirtschaftete BIP um 165.2%, was zu einem Großteil auf die geographische Erschließung der touristisch attraktiven Strandgebiete zurückzuführen ist. Es folgen im gleichen Zeitraum das produzierende Gewerbe (+129.6%), Transport- und Kommunikationswesen (+101.6%) und das Finanz- und Versicherungswesen (+92.2%) (VAN DE BUNT 2003: 31f.). Die neuesten Zahlen zeigen die Fortsetzung der Trends. 2004 wuchs das reale BIP Dubais um 13.3%, die Hauptanteile am Zuwachs hatten dabei: Immobilien (19.8%), produzierendes Gewerbe (15.5%), Bauindustrie (12.6%), Finanz- und Versicherungswesen (12.6%), Handel (10.7%) sowie Transport- und Kommunikationswesen (9.6%). Der Anteil des Transport- und Kommunikationswesens von Dubai ist für über 55% des gleichen Sektors der VAE verantwortlich. Des Weiteren entspricht Dubais Finanzsektor 47% des VAE–Finanzsektors. Kapitel 4.3.2.1, Immobilienboom in Dubai: Der hohe Anteil des Immobiliensektors am BIP-Zuwachs Dubais verweist auf den Boom im Immobiliensektor. Der Wert der geplanten Projekte für die nächsten fünf Jahre wird auf 30 Mrd. US-$ geschätzt. 2004 hatte die Bauindustrie einen Anteil von 13% am Nicht-Öl-BIP. Seit 2000 ist sie mit einer durchschnittlichen jährlichen Rate von 24% gewachsen, was den Bau-Boom widerspiegelt, der sich im Jahre 2003 im Bau von über 2000 Gebäuden niederschlug. Der Bausektor gilt auch als größter Arbeitgeber, 24% aller Arbeitskräfte sind hier beschäftigt, hauptsächlich aus dem Ausland stammende Arbeitnehmer. Spektakuläre Projekte, zum Beispiel "The Palm Jumeirah", "The Palm Jebel Ali" und "The World", locken Käufer schon vor Beginn der Bautätigkeiten an, so dass in Dubai die Immobilien "fast vollständig bereits vom Reißbrett verkauft" werden. Die Käufer spekulieren auf die enormen Wertsteigerungen am Immobilienmarkt Dubais – in keinem anderen Land der Welt sind Immobilien nach Fertigstellung 20% teurer geworden. Initiator und Träger der Projekte ist letztlich das Herrscherhaus beziehungsweise die von ihm kontrollierten Finanzgesellschaften – beispielsweise EMAAR, die 1997 gegründet wurde oder NAKHEEL, 2003 gegründet. In sehr viel geringerem Maße übernehmen auch Privatpersonen und Banken die (Vor-)Finanzierung der "Megaprojekte", wie sie von manchen Offiziellen bezeichnet werden. Nach der Fertigstellung werden sie meist privatisiert, das heißt vollständig oder teilweise an Einheimische vergeben. Im Sinne des Rentierstaates werden somit die Pfründe an die lokale Bevölkerung verteilt, doch die Einkommen werden erst dann erzielt, wenn die Objekte über Immobilienagenturen vermietet, verpachtet oder auch verkauft werden. Die Akteure müssen sich dazu mit einer verschärften Wettbewerbssituation auseinandersetzen. Die vielfältigen Bauaktivitäten generieren ein enormes, qualitativ und preislich hochwertiges Angebot, das die Erschließung des globalen Marktes geradezu herausfordert. Wie bereits angedeutet, sind die meisten Projekte, obwohl noch teilweise in Planung, verkauft, verpachtet oder vermietet. Die Käufer stammen überwiegend aus der Golfregion (40-46%), zu je 15-22% aus Russland und anderen GUSStaaten sowie beispielsweise aus Indien, Japan oder Südkorea. Kapitel 4.3.2.2, Freihandelszonen als Schnittpunkte der Diversifizierungsstrategie: In der Nachkriegszeit setzte die Regierung Dubais auf einen liberalen, "unternehmensfreundlichen" ökonomischen Kurs mit geringen Steuerabgaben und politisch stabilem Rahmen, in der Hoffnung, dadurch Investitionen anzuziehen. Diese Haltung drückt sich besonders in der 1985 gegründeten Jebel Ali Free Zone (JAFZ) aus, die erste in der Region gegründete Freihandelszone. Das Areal wurde unmittelbar im Bereich des schon existierenden Tiefsee-hafens Jebel Ali eingerichtet, der gleichzeitig mit der Gründung ausgebaut wurde. Das Konzept sieht vor, dass innerhalb der "Enklave" Geschäftstätigkeiten frei von Zoll und gesetzlichen Beschränkungen durchgeführt werden können. Unternehmen, die sich in der Freihandelszone niederlassen, nutzen nicht nur die niedrigen Arbeitskosten und Visum-freie Anheuerung der nicht-organisierten Arbeitskräfte, sondern vor allem die Möglichkeit, sich zu 100% an Kapitalgesellschaften zu beteiligen. Für Ausländer ist das außerhalb der Freihandelszonen sonst nicht möglich, es dürfen nach geltendem Recht maximal 49% einer Unternehmung in ausländischen Besitz übergehen. Die Geschäftsleute genießen noch weitere Privilegien: es ist kein Sponsor erforderlich, es ist kein Service Agent bei Zweigniederlassungen erforderlich, zwischen 15-30 Jahre garantierte Steuerbefreiung (Körperschafts- und Einkommenssteuer), freier Kapital- und Gewinntransfer. Grundsätzlich ist die aktive Teilnahme am Wirtschaftsleben der VAE erlaubt, es können Waren importiert und exportiert werden. Die Lizenzen sind jedoch nur auf das Gebiet der jeweiligen Freihandelszone beschränkt, mit der Folge, dass diese Niederlassungen gesellschaftlich als nicht in den VAE niedergelassen gelten. Deshalb erfordert der Export in die VAE einen Handelsvertreter, Importeur oder auch ein Joint Venture in Form einer Vertriebsgesellschaft. Die Entscheidung, sich in innerhalb der VAE oder in einer Freihandelszone niederzulassen, hängt somit wesentlich von dem angestrebten Zielmarkt ab. Ist dieser nicht auf die VAE beschränkt, stellt die Niederlassung in einer Freihandelszone eine sinnvolle Alternative zu einem Standort innerhalb der VAE dar. Seit der Gründung flossen über 2,5 Mrd. US-$ an Investitionen in die JAFZ, in der 2003 2.350 Firmen aus 97 Ländern angesiedelt waren. Neben japanischen Firmen (Nissan, Mitsubishi, Honda, Sony) sind vor allem auch europäische multinationale Unternehmen vertreten, beispielsweise ABB, Shell, BASF und Unilever. In den 1980er Jahren fungierte die JAFZ überwiegend als Lagerungs- und Verteilerzentrum für die multinationalen Unternehmen. In den letzten Jahren ließen sich dort auch Unternehmen des produzierenden Gewerbes nieder, dennoch dominiert der Handel mit 80% die Aktivitäten in dem Areal. Der Erfolg der JAFZ war ausschlaggebend dafür, dass in der Folgezeit noch weitere Freihandelszonen – nicht nur in Dubai – eingerichtet beziehungsweise noch in Planung gegeben wurden. Bemerkenswert sind auch die Bemühungen der Führung, Dubai als IT- und Medienstandort zu positionieren. Die Dubai Internet City stellt die notwendige Infrastruktur bereit, "that enables ICT enterprises to operate locally, regionally and globally from Dubai, with significant competitive advantage". Namhafte Unternehmen wie Microsoft, Oracle und Canon nutzen bereits dieses Angebot. Die Dubai Media City zielt auf internationale Medienunternehmen ab, die sich in den speziell eingerichteten Studios und Bürogebäuden niederlassen sollen. CNN und Reuters haben hier beispielsweise Zweigstellen etabliert. 2004 wurde die erste Produktionsstätte für Chips, CDs, DVDs und Software, das Dubai Silicon Oasis gegründet, das zusammen mit dem Knowledge Village das "knowledge-economy-system" komplettiert. Der Mix aus Industrie und Dienstleistungen in den meisten Freihandelszonen kennzeichnet ebenfalls die Diversifizierung der Wirtschaft Dubais. Zusätzlich zu produzierendem Gewerbe und Logistikunternehmen werden heute auch moderne Dienstleistungen aus dem Bereich Bankwesen, Versicherung und Recht angeboten. Dubais zukünftige Entwicklung ist durch die Entwicklung des Dienstleistungssektors determiniert. Die strukturelle Verschiebung zu einem Dienstleistungszentrum par excellance zeigt sich in den breit gefächerten Dienstleistungsaktivitäten: Handel-, Reparatur-, Restaurant- und Hoteleinrichtungen, Transport- und Kommunikationswesen, Immobiliendienstleistungen, soziale und Personaldienstleistungen, Finanz- und Versicherungswesen, staatliche Leistungen sowie Haushaltsdienstleistungen. Der Anteil des Dienstleistungssektors am BIP Dubais ist von 38% im Jahre 1985 auf 71% 2003 gestiegen (vgl. Abb. 28). Die "Wasserscheide" zu Beginn der 1990er Jahre ist mit dem im gleichen Zeitraum rapide wachsenden BIP in Verbindung zu bringen (vgl. Abb. 26) und bestätigt darüber hinaus die erfolgreiche Diversifizierungsstrategie in den 1990er Jahren. Kapitel 4.3.2.3, Wer investiert in Dubai?: Insbesondere seit den Terroranschlägen von New York und Washington sind die Rückflüsse arabischer Geldanlagen aus Amerika und Europa beträchtlich. Es existieren keine genauen Zahlen über die Privatvermögen im Ausland. Dennoch gilt als sicher, dass allein im Jahr 2002 ein dreistelliges Milliardenvermögen aus Amerika abgezogen wurde, wo Untersuchungen der Finanzbehörden ebenso drohen wie Schadenersatzprozesse im Zusammenhang mit der Finanzierung von Terrornetzwerken wie Al Qaida. Das Geld für die Milliardeninvestitionen stammt demnach vor allem von Investoren der Region, die "heute noch von den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem US-amerikanischen Krieg gegen islamisch fundamentalistischen Terror" profitiert. Laut des Global Business Policy Council20 sehen asiatische Investoren Dubai an neunter Stelle der attraktivsten Investitionsstandorte, während Europäer es an 20. Stelle nennen. Unter japanischen und indischen Investoren rangiert Dubai auf dem 6. Platz, Investoren aus der Schweiz setzen Dubai auf den dritten Rang der attraktivsten Investitionsstandorte. ADI in Dubai sind im Jahr 2004 enorm angestiegen, auf 840 Mio. US-$, gegenüber 30 Mio. US-$ im Jahr zuvor21. Investoren des Chemie- und Elektronikbereichs äußern sich sehr zuversichtlich über die Entwicklung des produzierenden Gewerbes der Region. Insbesondere die Freihandelszonen – wie die JAFZ – sind für die Investoren aufgrund der Zoll- und Steuerprivilegien als Standort attraktiv. Die im Jahr 2005 eröffnete Industrial City in Dubai, die Investitionsanreize für die Schwerindustrie bietet, fördert das Interesse der Investoren zusätzlich. Die Direktinvestitionen in das Ausland fallen dagegen gering aus, sie werden auf 1% des BIP geschätzt. Im Vergleich dazu steuern Direktinvestitionen im Ausland zu dem BIP Hongkongs 24%, dem Singapurs 10% und dem der Schweiz 7,9% bei. Die Vorteile der Freihandelszonen-Strategie liegen auf der Hand, doch nicht alle Investoren teilen diese Euphorie. So gibt es beispielsweise Bedenken hinsichtlich der lokalen Geschäftspraktiken und geistigen Eigentumsrechte, da vertrauliche Informationen auf dem engen Raum einer Freihandelszone möglicherweise reibungsloser zu den umgebenden Wettbewerbern diffundieren. Die Bedenken haben jedoch scheinbar eine kulturelle Komponente: Asiatische Unternehmen scheinen sich weniger um mögliche Beeinträchtigungen zu sorgen als europäische oder amerikanische Firmen, wie die Entwicklung des Dragon Mart aufzeigt. Hier können sich bis zu 4.000 chinesische Firmen niederlassen, denen 15.000m² Lagerungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus ist der Aufbau einer "special China Town" vorgesehen, die bis zu 20.000 Händler anziehen möchte. Von den Unternehmensclustern versprechen sich die Verantwortlichen die Stärkung des komparativen Vorteils von Dubai – insbesondere im Hinblick auf asiatische Händler – "as a gateway to serve the Middle East and European Markets". Durch die geplante Erhöhung der Anzahl der Direktflüge in die USA, ausgehend von dem Dubai International Airport, wird auch dieser Markt in stärkerem Maße berücksichtigt werden. Für die Einordnung von Dubais Rolle im Weltwirtschaftssystem ist es notwendig auf einzelne Sektoren näher einzugehen. Nachfolgend werden die Entwicklungen in den Wirtschaftssektoren Handel, Transportwesen, produzierendes Gewerbe, Finanzen sowie Tourismus aufgezeigt.
The current pressure on water resources is such, that water scarcity is now an important issue in regions with abundant water resources like the Tropics. These regions are characterized by high precipitation rates almost all year long. This results in a relatively large availability of water resources. However, these water resources are not always equally distributed in time or space, which causes periods and puts areas under water stress in tropical regions. Added to this is the challenge related to the access to these water resources, resulting in a reduced availability in general terms. Costa Rica is a clear example of a country in the Tropical regions, where water scarcity is, actually, on the top of the water agenda. Costa Rica is in the torrid tropical region in Central America, yet it experiences periods of shortage in its available water resources at the end of the dry season. This affects all water sectors, specially agriculture and drinking water supply systems. This situation has been magnified by global change, with a greater demand of resources from population growth, impermeabilization of recharge areas due to urbanization, and reduction of resources due to climate change. To adapt to the situation, it is necessary to conduct an evaluation of suitable water management tools for the country's environmental conditions in a systematic way. This work focuses on one of these tools: managed aquifer recharge (MAR) MAR techniques are a promising approach to address the defined problems, by storing the excess of available water resources during the rainy season in suitable aquifer systems for later use during the dry season. MAR techniques present certain advantages compared to surface storage: less losses through evaporation, less demand of superficial area, among others. In order to determine if MAR techniques are suitable for Costa Rica and will help overcome the temporary water scarcity challenge, three main topics at different scale are investigated. First, at a country scale, the search of suitable areas for specific MAR techniques within the country is carried out based on physical criteria. Second, at a research scale, it is reduced to a basin level. For this case, the assessment of a MAR project based on the first stage of the Australian MAR guidelines is done. This consists of a checklist of five critical elements, which constitutes the base for the assessment of a MAR project. Third, the research is taken into a laboratory scale, where the research focuses on an injection well in an unconfined aquifer system. For the first topic, suitable areas for the implementation of MAR technique spreading methods are identified in Costa Rica by conducting a geographical information science-multi-criteria decision analysis (GIS-MCDA) approach. This is based on four criteria: hydrogeological geoaptitude, terrain slope, top soil texture, and drainage network density. By carrying out a GIS-MCDA, the country is classified into suitable and unsuitable. Based on this method, 61 % of the country is suitable for spreading methods. Among the higher ranked suitable areas are the ones located in the northern and northwest regions. The ranking of the country based on spreading methods by means of a GIS-MCDA method is a first course of action to determine where further research is needed. In the second research level, the feasibility of a MAR project was assessed in the Machuca River basin. This river basin was chosen because: the drinking water supply systems (WSS) do not meet the actual demand, there is government interest to research new water supply alternatives and there is enough basic information on this water basin. To evaluate the feasibility of a MAR project in the basin, the first stage of the feasibility assessment proposed by the Australian MAR guidelines was performed. This consists of a checklist of five critical elements: 1) sufficient demand, 2) adequate recharge source, 3) suitable aquifer, 4) space to treat and, 5) human capability. For an easier analysis of the whole river basin, it was divided into five locations based on the superficial aquifer water levels. It was concluded that a MAR project seems viable in this river basin in the Coyolar and Orotina locations. Regarding the MAR technique to be applied in the MAR project at the Machuca River basin, two considerations were taken: the previously determined suitability and the local conditions. First, the entire Machuca River is ranked as suitable for surface infiltration (MAR spreading method) based on the results from the country scale analysis. The Coyolar and Orotina locations are ranked as having a moderate suitability (between 0.4-0.6). Second, the best material aquifer for recharge in these two locations are the fractured lavas and alluvium located under clay layers. For these two reasons (moderate spreading methods suitability and local conditions), it was decided that direct injection MAR techniques (aquifer storage and recovery – ASR) will be more appropriate for these two locations. At the laboratory research scale, the effect of the well screen length on the injection rate for an unconfined aquifer was corroborated under controlled laboratory conditions. This is one of the first experiments on the topic to the best of the author's knowledge. One of the main findings of the laboratory research is the almost neglectful effect on the injection rate for screen lengths above 80 % of the saturated thickness in an unconfined aquifer. The effect on the screen length is notable in the injection rate for open screen length under 80 % of the total aquifer thickness (95 % of the maximum achievable injection rate) and it increases for open screen lengths under 40 % (90 % of the maximum achievable injection rate). Based on the experimental results, it is recommended to use a screen length of 40 % of the saturated aquifer thickness for ASR wells and of 80 % for injection wells. This assessment shows that MAR techniques are suitable for Costa Rica's environmental conditions. Further on, the assessment at the basin level shows MAR techniques as a promising solution to overcome water scarcity issues. The laboratory scale aquifer-well interactions show promising results regarding the effect of the screen well in the injection rate. Still, more research is needed in this field regarding other aquifer types. Based on all these findings, MAR techniques are an appropriate tool for the integrated water management in the tropical regions. ; Der gegenwärtige Druck auf die Wasserressourcen ist so groß, dass Wasserknappheit sogar in den Tropen zum Thema wird. Diese Regionen sind von hohen Niederschlagsraten geprägt, was zu einer relativ großen Verfügbarkeit von Wasserressourcen führt. Diese sind jedoch nicht immer zeitlich und räumlich gleich verteilt, was temporären und/oder regionalen Wasserstress verursacht. Darüber hinaus hängt die Herausforderung auch mit dem Zugang zu diesen Wasserressourcen zusammen, was zu einer allgemein reduzierten Verfügbarkeit führt. Costa Rica ist ein Beispiel für ein tropisches Land, in dem Wasserknappheit in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen hat. Costa Rica leidet gegen Ende der Trockenzeit fast jedes Jahr an einem temporären Wassermangel. Dies betrifft alle Wassersektoren, insbesondere die Landwirtschaft und die Trinkwasserversorgung. Diese Situation wird durch den globalen Wandel verstärkt, mit einer größeren Nachfrage nach Ressourcen aufgrund von Bevölkerungswachstum, der Verhinderung von Grundwasserneubildung durch Urbanisierung und Versiegelung und, nicht zuletzt, den Klimawandel. Um sich an diese Situation anzupassen, ist es notwendig, eine systematische Evaluierung geeigneter Wasserbewirtschaftungsinstrumente für die Umweltbedingungen des Landes durchzuführen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf eines dieser Werkzeuge: Managed Aquifer Recharge (MAR). MAR-Techniken stellen einen vielversprechenden Ansatz dar, um die zuvor definierten Probleme anzugehen, indem die überschüssigen Wasserressourcen während der Regenzeit in geeigneten Grundwasserleitersystemen zur späteren Nutzung in der Trockenzeit gespeichert werden. MAR-Techniken bieten im Vergleich zur Oberflächenspeicherung gewisse Vorteile, unter anderem geringere Verdunstungsverluste und geringeren Raumbedarf. Um zu bestimmen, ob MAR-Techniken für Costa Rica geeignet sind und dabei helfen können, die zeitlichen Wasserknappheitsherausforderungen zu überwinden, wurden drei Hauptthemen in unterschiedlichen Skalen untersucht. Die Suche nach geeigneten Gebieten für spezifische MAR-Techniken im Land erfolgte zunächst auf der Grundlage von physikalischen Kriterien. Als Zweites wurde die Forschungsskala auf ein Beckenniveau reduziert. Für diesen Fall wurde die Bewertung eines MAR-Projekts auf der Grundlage der ersten Stufe der australischen MAR-Richtlinien durchgeführt. Diese basiert auf einer Checkliste mit fünf kritischen Elementen, welche die Grundlage für die Bewertung eines MAR-Projektes bilden. Zuletzt wurde die Untersuchung im Labormaßstab durchgeführt, wobei sich die Experimente auf Injektionsbohrlöcher in einem ungespannten Grundwasserleitersystem konzentrierten. Für das erste Thema wurden in Costa Rica geeignete Bereiche für die Implementierung von MAR-Technik-Verteilungsmethoden mithilfe eines GIS-basierten Multikriterien- Entscheidungsanalysen-Ansatzes (GIS-MCDA) identifiziert. Dieser basierte auf vier Kriterien: Hydrogeologie, Geländegefälle, oberste Bodentextur und Drainagenetzdichte. Durch die Realisierung eines GIS-MCDA wurde das Land in geeignete und ungeeignete Gebiete eingeteilt. Mit dieser Methode wurden 61 % des Landes als geeignet für die Beckeninfiltration befunden. Gut eingestufte Gebiete liegen hierbei größtenteils im Norden und im Nordwesten. Das Ranking-Verfahren des Landes mit Hilfe einer GIS-MCDA-Methode ist eine erste Vorgehensweise zur Bestimmung weiterer Forschungsgebiete. In der zweiten Forschungsstufe wurde die Machbarkeit eines MAR-Projekts im Machuca-Einzugsgebiet untersucht. Dieses Flussgebiet wurde aus folgenden Gründen gewählt: Die Trinkwasserversorgungsanlagen erfüllen die tatsächliche Nachfrage nicht, weshalb es auch im Interesse der Regierung liegt, nach Alternativen für die Wasserversorgung zu forschen. Darüber hinaus ist die Region geologisch gut erschlossen und die Informationsdichte ist ausreichend hoch. Um die Realisierbarkeit eines MAR-Projektes im Einzugsgebiet zu bewerten, wurde die erste Stufe der Machbarkeitsbewertung anhand der Checkliste an fünf kritischen Elementen durchgeführt: 1) ausreichende Nachfrage, 2) angemessene Wiederaufladungsquelle, 3) geeigneter Grundwasserleiter, 4) Raum für Maßnahmen und 5) Humanressourcen. Um die Analyse des gesamten Flusseinzugsgebietes zu vereinfachen, wurde es in fünf Bereiche eingeteilt, die auf den oberflächennahen Grundwasserständen basieren. Es wurde der Schluss gezogen, dass ein MAR-Projekt in diesem Flussgebiet an den Standorten Coyolar und Orotina nachhaltig erscheint. In Bezug auf die MAR-Technik, die in einem MAR-Projekt am Machuca-Flussbecken angewendet werden soll, wurden Überlegungen angestellt hinsichtlich der zuvor ermittelten Eignung und der örtlichen Gegebenheiten. Zunächst wurde der gesamte Machuca-Fluss aufgrund der Ergebnisse der Länderanalyse als geeignet für die Oberflächeninfiltration eingestuft. Die Coyolar- und Orotina-Standorte wurden mit einer moderaten Eignung eingestuft. Weiterhin wurde festgestellt, dass die für die Grundwasseranreicherung geeignetste Formation die Kies- und Bruchlavenlagen darstellen, die sich unter einer Tonschicht befinden. Aus diesen beiden Gründen (moderate Eignung für Beckeninfiltration, und lokale Hydrogeologie) wurde entschieden, dass MAR-Techniken mit direkter Injektion (Aquifer Storage and Recovery - ASR) für diese beiden Standorte geeigneter sind. In der kleinsten Untersuchungsskala wurde der Einfluss der Filterlänge auf die Injektionsrate für einen freien Grundwasserleiter unter kontrollierten Laborbedingungen bestätigt. Dies ist eines der ersten Experimente zu diesem Thema nach bestem Wissen des Autors. Eines der Hauptergebnisse der Laborforschung ist der fast vernachlässigbare Effekt auf die Injektionsrate bei Filterlängen von über 80 % der gesättigten Mächtigkeit in einem freien Grundwasserleiter. Die Wirkung auf die Filterlänge ist bei der Injektionsrate für offene Filterlängen unter 80 % der gesamten Grundwasserleiterhöhe (95 % der maximal erreichbaren Injektionsrate) und bei offenen Filterlängen unter 40 % (90 % der maximal erreichbaren Injektionsrate). Basierend auf den experimentellen Ergebnissen wird empfohlen, eine Filterlänge von 40 % der gesättigten Grundwasserleiterhöhe für ASR-Brunnen und 80 % für Injektionsbohrungen zu verwenden. Die vorliegende Bewertung zeigt, dass MAR-Techniken für die Umweltbedingungen in Costa Rica gut geeignet sind. Darüber hinaus demonstriert die Bewertung auf der Einzugsgebietsebene MAR als eine Lösung zur Überwindung von Wasserknappheitsproblemen. Die Grundwasserleiter-Brunnen-Interaktionen im Labormaßstab zeigen vielversprechende Ergebnisse hinsichtlich der Wirkung der Filterlänge auf die Injektionsrate. Dennoch ist auf diesem Gebiet mehr Forschung in Bezug auf andere Aquifertypen erforderlich. Basierend auf all diesen Erkenntnissen sind MAR-Techniken ein geeignetes Werkzeug für das integrierte Wassermanagement in der tropischen Umwelt. ; La presión actual sobre los recursos hídricos es tal, que la escasez de agua es ahora un problema importante en áreas con abundantes recursos hídricos como las regiones tropicales. Estas regiones se caracterizan por altas tasas de precipitación casi durante todo el año. Esto da como resultado una disponibilidad relativamente grande de recursos hídricos. Sin embargo, estos recursos hídricos no siempre se distribuyen equitativamente en el tiempo y el espacio, lo que causa períodos y pone áreas bajo estrés hídrico en las regiones tropicales. Además de esto, el desafío también está relacionado con el acceso a estos recursos hídricos, lo que crea una disponibilidad reducida en términos generales. Costa Rica es un claro ejemplo de un país en las regiones tropicales, donde la escasez de agua se encuentra en lo más alto de la agenda del agua. Costa Rica está situada en la región tropical tórrida de América Central, sin embargo, experimenta períodos de escasez en sus recursos hídricos disponibles al final de la estación seca. Esto afecta a todos los sectores de agua, especialmente a la agricultura y a los sistemas de suministro de agua potable. Esta situación ha sido magnificada por el cambio global, con una mayor demanda de recursos por el crecimiento de la población, la impermeabilización de las áreas de recarga por la urbanización y la reducción de recursos debido al cambio climático. Para adaptarse a esta situación, es necesario llevar a cabo una evaluación sistemática de las herramientas de gestión del agua adecuadas para las condiciones ambientales del país. Este trabajo se centra en una de estas herramientas: la gestión de la recarga acuíferos gestionados (MAR). Las técnicas de MAR son un enfoque prometedor para abordar los problemas previamente definidos, almacenando el exceso de recursos hídricos disponibles durante la estación lluviosa en sistemas acuíferos adecuados para su uso posterior en la estación seca. Las técnicas de MAR presentan ciertas ventajas en comparación con el almacenamiento en superficie: menos pérdidas por evaporación y menor demanda de área superficial, entre otras. Con el fin de determinar si las técnicas de MAR son adecuadas para Costa Rica y ayudarán a superar los desafíos temporales de escasez de agua, se investigaron tres temas principales a diferentes escalas. Primero, en una escala de país, la búsqueda de áreas adecuadas para técnicas específicas de MAR en el país se realizó con base en criterios físicos. En segundo lugar, la escala de investigación se reduce a un nivel de cuenca. Para este caso, se realizó la evaluación de un proyecto de MAR basado en la primera etapa de las directrices australianas de MAR. Esta consiste en una lista de verificación de cinco elementos críticos, que constituye la base para la evaluación de un proyecto MAR. En tercer lugar, la investigación se lleva a escala de laboratorio, donde la investigación se centra en los pozos de inyección en un sistema acuífero no confinado. Para el primer tema, las áreas adecuadas para la implementación de los métodos de infiltración de la MAR se identifican en Costa Rica mediante un enfoque de ciencia la información geográfica y análisis de decisión multicriterio (SIG-MCDA). Esto se basa en cuatro criterios: geoaptitud hidrogeológica, pendiente del terreno, textura del suelo superior y densidad de la red de drenaje. Al realizar un GIS-MCDA, el país se clasifica en áreas adecuadas e inadecuadas. Con base en este método, el 61 % del país se consideró adecuado para métodos de infiltración. Las áreas adecuadas mejor clasificadas se encuentran en las regiones del norte y noroeste del país. La clasificación del país según el potencial de los métodos de infiltración por medio de un método GIS-MCDA es un primer curso de acción para determinar otras áreas de investigación. En el segundo nivel de investigación, se evaluó la factibilidad de un proyecto MAR en la cuenca del río Machuca. Esta cuenca hidrográfica se eligió porque: los sistemas de suministro de agua potable no satisfacen la demanda real, existe un interés del gobierno en buscar nuevas alternativas de suministro de agua y hay suficiente información básica en esta cuenca hidrográfica. Para evaluar la factibilidad de un proyecto MAR en la cuenca, la primera etapa de la evaluación se realizó sobre la base de la lista de cinco elementos críticos: 1) demanda suficiente, 2) fuente de recarga adecuada, 3) acuífero adecuado, 4) espacio para tratar el agua y, 5) la capacidad humana. Para facilitar el análisis de toda la cuenca del río, se dividió en cinco localidades en función de los niveles de agua superficiales del acuífero. Se concluyó que un proyecto MAR parece viable en esta cuenca en las localidades Coyolar y Orotina. Con respecto a la técnica de MAR que se aplicará en un proyecto MAR en la cuenca del río Machuca, se tomaron dos consideraciones: la idoneidad previamente determinada y las condiciones locales. En primer lugar, todo el río Machuca se clasifica como adecuado para la infiltración superficial (método de infiltración MAR) en función de los resultados del análisis a escala de país. Las localidades Coyolar y Orotina se clasifican con una idoneidad moderada. En segundo lugar, el mejor material acuífero para la recarga en estos dos lugares son las fracturas lavas y aluviones ubicados bajo capas de arcilla. Se decidió que las técnicas de inyección directa MAR (almacenamiento y recuperación - ASR) serán más apropiadas para estas dos ubicaciones por estas dos razones (idoneidad de los métodos de propagación moderada y condiciones locales). En la escala de investigación más pequeña, el efecto de la longitud de la pantalla del pozo sobre la tasa de inyección para un acuífero no confinado se corroboró bajo condiciones de laboratorio controladas. Este es uno de los primeros experimentos sobre el tema según el mejor conocimiento del autor. Uno de los principales hallazgos de la investigación de laboratorio es el efecto casi nulo en la tasa de inyección para longitudes de pantalla superiores al 80 % del espesor saturado en un acuífero no confinado. El efecto en la longitud de la pantalla es apreciable en la velocidad de inyección para pantalla abierta inferior al 80 % del espesor total del acuífero (95 % de la máxima velocidad de inyección alcanzable) y aumenta para longitudes de pantalla abierta por debajo del 40 % (90 % de la máxima tasa de inyección alcanzable). En base a los resultados experimentales, se recomienda utilizar una longitud de malla del 40 % del espesor del acuífero saturado para los pozos ASR y del 80 % para los pozos de inyección. La presente evaluación muestra que las técnicas de MAR son adecuadas para las condiciones ambientales de Costa Rica. Más allá, la evaluación a nivel de cuenca muestra las técnicas de MAR como una solución para superar los problemas de escasez de agua. Las interacciones entre acuíferos y pozos a escala de laboratorio muestran resultados prometedores con respecto al efecto de la pantalla en la velocidad de inyección. Aun así, se necesita más investigación en este campo con respecto a otros tipos de acuíferos. Con base en todos estos hallazgos, las técnicas de MAR son una herramienta apropiada para la gestión integrada del agua en las regiones tropicales.
1. Einleitung Das Besondere an Wilhelm Heitmeyer ist, dass er uns empirisch erklärt, was wir vorher nur vermutet oder gesagt bekommen haben. Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, forscht seit Jahrzehnten zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus (Universität Bielefeld, o.J.). Bekannt geworden ist er als Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld 1996, wo er bis zu seiner altersbedingten Emeritierung als Direktor fungierte. Seine Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zu rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft und zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit machen ihn zu einem der "wichtigsten Rechtsextremismus-Forscher der Bundesrepublik" (Laudenbach, 2023).Im folgenden Beitrag soll es um ausgewählte Arbeiten von Heitmeyer gehen. In seinen jüngeren Veröffentlichungen nimmt er die Mechanismen von Krisen und daraus resultierenden Kontrollverlusten als Treiber von autoritären Versuchungen in den Fokus. In Bezug darauf wird in der vorliegenden Arbeit genauer auf Heitmeyers Beitrag zur Erklärung des Erstarkens des "autoritären Nationalradikalismus" eingegangen. Hierunter fällt die Partei "Alternative für Deutschland (AfD)", die den Kern dieses Politiktypus in Deutschland ausmacht.Heitmeyer stellte um die Jahrtausendwende die These auf, der globalisierte Kapitalismus bringe vielfältige Schieflagen mit sich in Form von Desintegration, Abstiegsängsten und Kontrollverlusten. Damals ahnte er noch nichts von den Krisen, die in den folgenden "entsicherten Jahrzehnten" auf uns zukommen und uns vor erhebliche Herausforderungen stellen würden (Heitmeyer, 2018, S. 89).Die aufgestellte These rund um soziale, politische und ökonomische Strukturentwicklungen wurde mit individuellen und kollektiven Verarbeitungsmustern gekoppelt und 2022 um Krisen der "Post-9/11"-Ära und Kontrollverluste als Krisenfolgen erweitert. Diese wiederum bilden einen Nährboden für autoritäre Versuchungen, für sogenannte rechte Bedrohungsallianzen als politische Folgen autoritärer Entwicklungen.Die Ergebnisse der Langzeitstudie eignen sich, um das Aufkommen und Erstarken einer autoritär nationalradikalen Partei wie der Alternative für Deutschland zu beleuchten. Heitmeyer ist es, der durch seine Sozialstrukturanalyse das vielzitierte Fünftel (19,6%) der Bevölkerung empirisch nachweisen konnte, das der rechtspopulistisch eingestellten Gruppe in der Bevölkerung mit Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.).Wahlpolitisch blieben diese Teile der Bevölkerung lange unbedeutend. Die Wähler:innen waren meist keiner Partei zugehörig, sie "vagabundierten" zwischen den Parteien von Wahl zu Wahl oder wählten gar nicht; viele harrten in einer "wutgetränkten Apathie". Bis zu dem Jahr, als die AfD auf die politische Oberfläche trat und ab 2015 eine radikale Entwicklung nahm; ein "politisches Ortsangebot" für diese Teile der Bevölkerung ist gefunden (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 113 ff.).Im folgenden wird zuerst eine begriffliche Rahmung des Politiktypus des "autoritären Nationalradikalismus" vorgenommen. Zentrale Schemata der Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer sollen beleuchtet werden. Nach diesen Ausführungen wird der Blick auf Krisen und Kontrollverluste und ihre Funktion als Treiber autoritärer Entwicklungen gerichtet. Im letzten Schritt geht es um die Ausprägung des autoritären Nationalradikalismus in Form der AfD.2. Der autoritäre NationalradikalismusUm über Heitmeyers Arbeiten zu schreiben, bedarf es einer Konturierung der von ihm verwendeten Begriffe. Im Folgenden werden die Begriffe des Autoritarismus und der dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbilder erklärt, um anschließend den politischen Typus des autoritären Nationalradikalismus von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus abzugrenzen und entsprechend zu erläutern. 2.1 AutoritarismusDas Legitimations- und Strukturmuster politischer Macht des Autoritarismus gründet auf einer Beziehung zwischen "Machthaber:innen" in Regierungen, Parteien und anderen Organisationen und "Machtunterworfenen". Unter Machthaber:innen versteht man Amts-, Funktions- und Handlungsträger:innen, während Machtunterworfene Mitglieder, Gefolgsleute oder Anhänger:innen sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 31). Abhängig ist diese Beziehung in der sozialen Praxis von der Autorität der Machthabenden und der Reaktion der Unterworfenen.Autorität kann aus Bewunderung, begeisterter Unterstützung, Respekt, Ehrfurcht oder gleichmütiger Duldung aus freien Stücken zugeschrieben werden und gründet in Anerkennung. Jedoch wird Autorität dann autoritär, "[...] wenn Willfährigkeit aufgenötigt, Unterwerfung durch Täuschung bewirkt, Gehorsam durch Drohung oder handgreifliche Gewalt erzwungen wird" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 32).Eine dominante Rolle spielen Grunderzählungen in der Entwicklung des Autoritären. Hierzu zählen die Bedrohung von Ordnung, die Auflösung von Identitäten, das Zerstören von Hierarchien und Dominanzen, Fantasien vom Untergang des (deutschen) Volkes sowie der Opferstatus aufgrund des Agierens feindlicher Mächte sowohl aus dem Inneren wie von außen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35). Diese Kennzeichen der Bedrohung, Auflösung, Zerstörung, des Untergangs etc. haben die Funktion, kollektive Ängste zu schüren. Zugleich sollen so Mobilisierungen in Gang gesetzt und autoritäre Bewegungen und Bestrebungen angetrieben werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 35).Frankenberg & Heitmeyer beschreiben die politische Rhetorik des Autoritären als Diskurslogik, die sich vor allem in Wahlpropaganda und programmatischen Erklärungen zeigt. Diese konstruieren manichäische Weltbilder, weisen eine dichotomische Struktur auf und manifestieren sich auf drei Ebenen, wie die folgende Abbildung zeigt. Häufig anzutreffen sind die Gegensätze von Volk vs. Elite, geschlossene vs. offene Gesellschaft, wir vs. die oder Ungleichwertigkeit vs. Gleichwertigkeit. Abbildung 1: Dichotomische Welt- und Gesellschaftsbilder (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 248)2.2 Dichotomische Welt- und GesellschaftsbilderDiese Gegensätze laufen auf "Entweder-Oder"-Konflikte hinaus, die sich immer aufs "Ganze" beziehen, da es um "Alles" geht (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Der Streitgegenstand wird der Verhandlung oder dem Kompromiss entzogen, ein "Mehr-oder-Weniger" ist nicht möglich. Die von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen geführten Konflikte zielen demnach nicht auf Verständigung oder Verhandlungen ab. Es geht um "[...] Entscheidungen zugunsten einer rigiden Machtdurchsetzung und Machtsicherung mit möglichst umfassender Verhaltenskontrolle in allen Lebensbereichen der Gesellschaft und den Institutionen des politischen Systems" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 37).Gesellschaftliche Entwicklungen sind von immer höherer Komplexität und Ambivalenz geprägt. Ebenso nimmt ihre Unübersichtlichkeit zu und sie verändern sich mit zunehmender Geschwindigkeit. In diesem Zuge stehen politische Akteur:innen vor der Herausforderung, ihre Ambitionen und Machtansprüche für die jeweilige Wähler:innenschaft passend aufzubereiten. Hierzu gehört das Anbieten von Welt- und Gesellschaftsbildern, die Unübersichtlichkeit strukturieren, Entschleunigung versprechen und Komplexität reduzieren. Aus diesen Gründen werden von gemäßigten und extremen rechten Bewegungen und Parteien solche Dichotomien verwendet, die das Ordnen der eigenen Gefühlslagen, Erfahrungen und der eigenen Weltsichten erleichtern. 2.3 Populismus und RechtspopulismusPopulismus sieht Heitmeyer als Stil der Mobilisierung, der übergehen kann in eine "machiavellistische Strategie zur Erlangung oder Verteidigung der Macht" und auf marginalisierte Gruppen abzielt. Hinzu kommt häufig eine populistisch etikettierte Rhetorik und schlichte, aber einflussreiche Weltdeutungen, die dazu dienen, Ressentiments zu aktivieren, um eine imaginäre, kollektive Identität zu beschwören. Dies ganz im Sinne eines authentischen Volkes oder "der Nation" gegen Elit:innen, gegen "das System", Minderheiten oder die "Lügenpresse" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 24).Nach Heitmeyer hat sich eine allgemein akzeptierte Definition von Populismus etabliert, wonach eine Bewegung dann als populistisch charakterisiert werden kann, "[...] wenn ihr die Unterscheidung zwischen dem "wahren" Volk einerseits und den ausbeuterischen, dekadenten, volksverräterischen Eliten andererseits zugrunde liegt" (Heitmeyer, 2018, S. 231). Heitmeyer verwendet mittlerweile meist den Begriff autoritär anstelle von populistisch, im Folgenden wird ebenfalls diese Bezeichnung verwendet.Beim Rechtspopulismus prangert Heitmeyer eine "inflationäre Verwendung" ohne wirkliche Trennschärfe an, der keine einheitliche Definition hat, oftmals jedoch als Form des Autoritarismus mit "dünner Ideologie" und als Vergangenheitsorientierung beschrieben wird (Heitmeyer, 2018, S. 231). Im Allgemeinen bezeichnet er den Rechtspopulismus als eine Ergänzung des populistischen Grundprinzips "Volk gegen Elite" um eine nationalistische Rhetorik (Heitmeyer, 2018, S. 232).Zur These der "dünnen Ideologie" führt Heitmeyer an, dass sich populistische bzw. autoritäre Bestrebungen nicht nur durch ihren Politikstil und einer auf Machterwerb zielenden Strategie auszeichnen, sondern durch ein "Set von Ideen" und einem spezifischen Politik- und Demokratieverständnis, also ein Muster zur Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit anbieten, das sich nicht nur auf Kritik an Elit:innen und demokratischer Repräsentation beschränkt."Mit der ideologischen Kombination und politischen Handlungsagenda von Antielitismus und Antipluralismus, einer Kultur der unmittelbaren Kommunikation, einem xenophoben Nationalismus und dem Phantasma imaginärer Gemeinschaftlichkeit entfernt sich die Beschreibung des Populismus weit von demokratischen grass roots und nimmt die Deutungsangebote aus dem Lager des Autoritarismus an" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 25). 2.4 Autoritärer NationalradikalismusDer Einheitsbegriff des Rechtspopulismus als "catch-all-term" wird nach Heitmeyer der sperrigen Realität nicht gerecht und hat viele alternative Benennungen verkümmern lassen. Zudem werden mit Nutzen dieses Begriffes durch Wissenschaft, Politik und Medien Vernebelungstaktiken der politischen Akteur:innen und Bewegungen bedient, da nicht die genauen ideologischen Komponenten ihrer jeweiligen Programme benannt werden. Das Abbilden der vielfältigen Realität muss auch begrifflich differenziert abgebildet werden, was notwendig ist, um "Gegengifte" zu entwickeln. Daher müssen die Begriffe "sperrig und unpoliert" sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Der autoritäre Nationalradikalismus bewegt sich zwischen dem Rechtspopulismus und dem gewalttätigen Rechtsextremismus bzw. Neonazismus. Anzumerken ist, dass es sich nicht um eine faschistische Gesinnung handelt, da der italienische Faschismus nicht mit dem Nationalsozialismus identisch ist, in dem der Antisemitismus zentral ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der gewalttätige Rechtsextremismus schreckt viele Wähler:innen oder Sympathisant:innen ab, da er in öffentlichen Räumen situativen Schrecken verbreiten will.Im Gegensatz dazu weist der Rechtspopulismus eine "flache" Ideologie auf und ist mit der dramatisierten Konfliktlinie Volk vs. Elite auf kurzzeitige Erregungszustände ausgerichtet, die über klassische Massenmedien und die sozialen Medien verbreitet werden sollen, wie Abbildung 2 anschaulich darstellt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106). Der autoritäre Nationalradikalismus hingegen zielt auf die destabilisierende Veränderung gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Zudem bedient er sich dichotomischer Welt- und Gesellschaftsbilder, um destabilisierende Veränderungen erreichen zu können. Abbildung 2: Die Erfolgsspur des autoritären Nationalradikalismus (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 236; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107)Drei markante Charakteristika des autoritären Nationalradikalismus werden in der Sozialforschung hervorgehoben. Diese werden im folgenden erklärt und in Kapitel 6 auf die AfD bezogen:Das Autoritäre zeigt sich in der Betonung einer hierarchischen sozialen Ordnung, in Forderungen nach rigider Führung politischer Institutionen und in einem fundamentalistischen Verständnis des Agierens und Opponierens auf politischer Ebene ohne Kompromisse. Politik und Gesellschaft sollen also entsprechend einem Kontrollparadigma organisiert werden. Dichotomische Gesellschaftsbilder sind maßgebend und operieren als Grundlage für kämpferisch initiierte "Entweder-oder-Konflikte" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105).Die Betonung der besonderen Stellung des deutschen Volkes bildet das Nationale des autoritären Nationalradikalismus. Formulierungen und Parolen wie "Deutschland den Deutschen" oder "Deutschland zuerst" unterstreichen eine Überlegenheit gegenüber anderen Völkern, Nationen, ethnischen und religiösen Gruppen und eine neue, "deutsche" Vergangenheitsdeutung wird reklamiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 105 f.).Das Radikale, vom ursprünglichen Wortsinn aus dem Lateinischen (radix = Wurzel) her bestimmt, richtet sich gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie, die trotz zahlreicher kritikwürdiger Defekte erst durch jahrzehntelange Entwicklungen und Freiheitskämpfe ermöglicht wurden. Ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil wird dazu angewendet, der sich vor allem durch menschenfeindliche Grenzüberschreitungen auszeichnet (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 106).Weiterhin ist auf acht Elemente hinzuweisen, die zum Instrumentarium des organisierten autoritären Nationalradikalismus zählen:""Deutsch-Sein" als Schlüsselkategorie und sicherheitsspendender Identitätsanker;Propagandierung dichotomer Weltbilder;Kontrollparadigma als Versprechen einer autoritären sozialen Ordnung;Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme als Kontrollverluste;eskalativer Mobilisierungsstil zur Wiederherstellung von Kontrolle;Forcierung sozialer Vergleichsprozesse zwecks Radikalisierung;Ausnutzen der "Gewaltmembran", um mit bestimmten Begriffen andernorts Gewalt freizusetzen und Legitimationen zu liefern;Konstruktion einer "Opferrolle", um Sympathisanten an sich zu binden und ein Recht auf "Notwehr" zu etablieren" (Heitmeyer, 2018, S. 213-276; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111).Diese Elemente sind deshalb wichtig zu nennen, da sie als Grundlage für drei wichtige Ziele dienen, die autoritär nationalradikale Parteien verfolgen:Das Besetzen vakanter politischer Themenräume, die von etablierten Parteien in der Vergangenheit übersehen wurden,das Verschieben des Sagbaren, wobei Heitmeyer auf die Theorie des "Overton-Windows" hinweist, sowie drittensdie Normalisierung von Positionen und dadurch die Schaffung neuer Normalitätsstandards (vgl. Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 111 f.).Der autoritäre Nationalradikalismus wird ab Kapitel 5 ausführlich in Bezug auf die Partei "Alternative für Deutschland" dargestellt, die den Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland bildet. 2.5 Rechtsautoritär und rechtsextremDen Bezug von Autoritärem zu Rechtsautoritärem und Rechtsextremem begründen Frankenberg & Heitmeyer damit, dass "für die Übersetzung des Autoritären in die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zustände und Entwicklung [...] eine Fokussierung auf das rechtsautoritäre und rechtsextreme Spektrum angebracht" ist (2022, S. 40).In Ermangelung einer umfassenden Definition von Rechtsextremismus, die die Dimension der Gewalt beinhaltet, hat Heitmeyer ein eigenes Konzept vorgelegt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40). Dieses akzentuiert die "Kernverbindung" von Ideologie der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz. Die Ideologie der Ungleichheit enthält zwei zentrale Dimensionen, wobei die erste gruppenbezogen auf Ungleichwertigkeit ausgerichtet ist und sich später als "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" ausgeprägt hat:"Sie zeigt sich in Facetten wie nationalistische bzw. völkische Selbstübersteigerung; rassistische Einordnung; soziobiologische Behauptung von natürlichen Hierarchien; sozialdarwinistische Betonung des Rechts des Stärkeren; totalitäre Normverständnisse im Hinblick auf Abwertung des "Anders-Sein" und die Betonung von kultureller Homogenität gegen Heterogenität" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 40 f.).Diese erste Dimension lässt sich als Vorlage für die späteren Studien "Deutsche Zustände" von Wilhelm Heitmeyer verstehen. Die zweite Dimension der Ideologie der Ungleichheit hat sich als lebenslagenbezogen erwiesen und verweist auf Ausgrenzungsforderungen in Form von kultureller, politischer, rechtlicher, ökonomischer sowie sozialer Ungleichbehandlung von Fremden bzw. "Anderen".Die Gewaltakzeptanz haben Frankenberg & Heitmeyer in vier ansteigend eskalierende "Varianten der Überzeugung unabänderlicher Existenz von Gewalt" kategorisiert, hinter denen die Grundannahme steht, dass Gewalt als "normale Aktionsform zur Regelung von Konflikten" und demnach als legitim angesehen würde (2022, S. 41). Insofern überrascht die Tatsache nicht, dass etwa rationale Diskurse oder demokratische Regelungsformen von sozialen und politischen Konflikten abgelehnt und autoritäre oder gar militaristische Umgangsformen und Stile betont werden (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Die politikwissenschaftliche Forschung zum Rechtsextremismus sieht Heitmeyer fixiert auf politische Symbole, historisch-politische Bezugnahmen, Parteiprogramme und Wahlerfolge. Jedoch reicht dieser Fokus nicht aus, um den Aufschwung rechter und rechtsextremer Kräfte in der Gesellschaft zu erklären – weshalb der "[..] Blick auf die Zusammenhänge zwischen ökonomischen, sozialen und politischen Strukturentwicklungen, den individuellen und kollektiven Verarbeitungen und den politischen Handlungskonsequenzen, wenn ein entsprechendes Handlungsangebot vorhanden ist", geweitet werden muss (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 41).Dies beschreibt das "Analyseschema" (siehe Abbildung 5) im folgenden Kapitel. Fürderhin sollen nicht einzelne Aspekte oder Ereignisse parzelliert betrachtet werden, sondern mittels des "konzentrischen Eskalationskontinuums" die "rechten Bedrohungsallianzen", die bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, sichtbar werden. Hierzu hat Heitmeyer 2018 ein weiteres Untersuchungsmodell entwickelt (siehe Abbildung 3). Die beiden Schemata werden folgend beschrieben. Vorangestellt finden sich die zentralen Ausgangspunkte und Thesen von Wilhelm Heitmeyer, auf denen die Schemata beruhen. 3. Heitmeyers Arbeiten: Zentrale Thesen und SchemataWilhelm Heitmeyers Studien knüpften ursprünglich an die mittlerweile vielzitierte Prognose Ralf Dahrendorfs aus 1997 an, dass wir uns "an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert" befinden würden, da vieles auf solch eine Entwicklung hindeuten würde (Dahrendorf, 1997; Heitmeyer, 2022 b, S. 256). Dahrendorf wies vor über 25 Jahren auf das verhängnisvolle Zusammenwirken von Ökonomie, politischer Partizipation und sozialer Integration bzw. Desintegration hin und deutete dieses Spannungsverhältnis als eine "Quadratur des Kreises". Heitmeyer fragt in diesem Zusammenhang, "zu wessen Lasten diese Spannungen gehen würden" und "[...] wie sich unter dem Druck der kapitalistischen Kontrollgewinne die individuellen, kollektiven und institutionellen Kontrollverluste auswirken würden" (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Insbesondere die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat ergiebiges Daten- und Analysematerial erbracht, welches Heitmeyer in seinen Arbeiten verwendet (Heitmeyer, 2018, S. 28). Das Projekt mit seinen jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen dient dazu, Langzeitverläufe sichtbar zu machen und eignet sich, um das Aufkommen und Erstarken der autoritär nationalradikalen AfD zu beleuchten.Heitmeyer konnte mit Hilfe der Resultate empirisch Zusammenhänge in zwei Richtungen nachweisen: "für die Unterstützung autoritärer Bewegungen sowie Parteien und gegen verschiedene Gruppen in der Gesellschaft (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 55). Je deutlicher man autoritäre Überzeugungen vertritt, desto eher stimme man fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen zu, abgeschwächt auch Äußerungen zu Antisemitismus, Heterophobie und klassischem Sexismus sowie der These von Etabliertenvorrechten, also sozialer Dominanz in einem Hierarchiengefüge.So kam Heitmeyer auf das oben erwähnte und seither vielzitierte Fünftel der Bevölkerung (19,6%), das Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hegt und als "Machtmaterial" für autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime zur Etablierung und Sicherung von autoritären gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen dienen kann (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 56). 2001 formulierte Wilhelm Heitmeyer seinen Ausgangspunkt wie folgt:"Die zu verfolgende These geht davon aus, daß [sic] sich ein autoritärer Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so daß neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden" (Heitmeyer, 2001, S. 500).Der sogenannte "autoritäre Kapitalismus" entstand durch eine neoliberale Politik rund um die Jahrtausendwende. Weitreichende ökonomische Kontrollgewinne in einerseits gesellschaftlichen Lebensbereichen über soziale Standards von Verdiensten und soziale Absicherung sowie andererseits über Standortentscheidungen waren zu verzeichnen, ergo übergriffig eindringende Prozesse, sodass nun mehr ökonomische Dominanz als Quelle für Kontrolllosigkeit sowie für Anomie gilt.Diese weitreichenden Kontrollgewinne des Kapitals wurden begleitet von ebenso weitreichenden politischen Kontrollverlusten nationalstaatlicher Politik, verbunden mit sozialen Desintegrationsprozessen von Teilen der Bevölkerung. Diese Auswirkungen blieben auf politischer Ebene allerdings solange wahlpolitisch folgenlos, bis ein entsprechendes politisches Angebot auf den Plan trat. In Deutschland erschien dieses Angebot in Form des autoritären Nationalradikalismus der AfD, besonders anschaulich im Jahr 2015 durch die politisch-kulturelle Krise der Flüchtlingsbewegungen und die Spaltung der AfD auf Bundesebene (Heitmeyer, 2022 a, S. 301; Heitmeyer, 2022 b, S. 261).2018 schreibt Heitmeyer, dass sich dies tatsächlich so ereignet hat und sich empirisch nachweisen lässt: "Ein zunehmend autoritärer Kapitalismus verstärkt soziale Desintegrationsprozesse in westlichen Gesellschaften, erzeugt zerstörerischen Druck auf liberale Demokratien und befördert autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime" (Heitmeyer, 2018, S. 23). Nachfolgend werden das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums und das Untersuchungsschema beschrieben. 3.1 Konzentrisches EskalationskontinuumMit dem Schema des konzentrischen Eskalationskontinuums soll dargestellt werden, wie autoritäre Eliten auf Legitimation und Partizipation – unter anderem durch die Bürger:innen - angewiesen sind, zumindest so lange, wie sie ein "formales Demokratiesystem westlicher Prägung" aufrecht erhalten wollen oder auch durch soziale, politische und ökonomische Gegenkräfte dazu genötigt werden.Heitmeyer rückt somit die "[...] Entstehung von Eskalationsdynamiken ins Blickfeld, mit denen die zustimmende oder schweigend duldende Beteiligung von erheblichen Teilen der Bevölkerung zu erfassen ist" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das konzentrische Eskalationskontinuum dient dazu, die Wucht rechter Bedrohungsallianzen herauszukristallisieren und soll helfen, Gewalt, Gewaltstadien und deren Ursachen besser verstehen zu können.Betrachtet werden Einstellungen und Verhaltensweisen einzelner unverbunden nebeneinander lebender Personen sowie formelle Mitgliedschaften in politischen Parteien oder Vereinigungen. Dem Eskalationsmodell zugrunde liegt das Milieukonzept. Heute sind nicht mehr zwingend physische Kontakte notwendig, da Milieubildung auch im virtuellen Raum stattfindet. Heitmeyer weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang durch ein entstehendes "Wir"-Gefühl gleichzeitig eine abwertende, diskriminierende und ausgrenzende "Die"-Kategorie mitgeliefert wird.Das Schema stellt im "Zwiebelmodell" fünf Stufen dar, die als Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung zu verstehen sind, die wiederum autoritären Versuchungen nachgeben und somit den Autoritären Nationalradikalismus der AfD in Deutschland, aber auch Fidesz in Ungarn oder der FPÖ in Österreich begünstigen (Heitmeyer, 2022, S. 43). Die jeweiligen eskalierenden Akteur:innengruppen in den Schalen des Modells werden kleiner, während die Gewaltorientierung im Inneren des Modells zunimmt.Als Kernmechanismus und verbindendes Element der Schalen zueinander werden die verschiedenen Legitimationsbrücken genannt. Fürderhin darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Ideologie der Ungleichwertigkeit der kleinste gemeinsame Nenner aller Schichten des Eskalationskontinuums ist. Sie dient als Legitimationsfundus für personen- wie gruppenbezogene Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 20). Abbildung 3: Konzentrisches Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 356; Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 59) Nachfolgend werden die Schichten im Spektrum von rechtem Denken bis zum terroristischen Handeln kurz erläutert: Die äußerste Schicht repräsentiert die gesamte Bevölkerung, in der in unterschiedlichem Ausmaß Einstellungen vertreten werden, je nach gesellschaftlicher Debatte, die der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zugeordnet werden können. Diese Einstellungen in der Bevölkerung stellen individuelle Positionierungen dar, die parteipolitisch gebunden, "freischwebend" sein oder auch zwischen Parteien "vagabundieren" können. Diejenigen Teile der Bevölkerung mit menschenfeindlichen Einstellungen sympathisieren zwar maßgeblich mit der AfD, sind an sie jedoch nicht zwangsläufig gebunden und können auch andere Parteien präferieren und wählen (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 60).Das Milieu des autoritären Nationalradikalismus, insbesondere der AfD, das an diese erste Schicht anschließt, präsentiert und propagiert entsprechende Ausgrenzungsstrategien und konstruierte Feindbilder. Die AfD "saugt" die jeweiligen individuellen Einstellungen in der Bevölkerung auf und verdichtet sie zu kollektiven Aussagen, die sie dann wiederum auf die politische Agenda setzt. Sie konzentriert also potenzielle menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, die bereits im Vorfeld durch andere Bewegungen, wie beispielsweise Pegida, verdichtet wurden und bildet für sie den parlamentarischen Arm.Ein weiteres Kennzeichen dieses Milieus ist eine gewisse ideologische Heterogenität, da die Einstellungen von "[...] rechtskonservativen bis hin zu "Übergangspositionen" in das systemfeindliche Milieu des völkischen "Flügels" der AfD" reichen" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Zudem bemüht sich die AfD um den Anstrich einer "bürgerlichen" Partei, um anschlussfähig an die Mitte der Gesellschaft zu sein.Im systemfeindlichen Milieu ist man parteipolitisch eindeutig im rechtsextremen Milieu verortet, Bezug genommen wird etwa auf die NPD, was auch für die extremistisch-modernistische Identitäre Bewegung gilt. Gemeint sind also rechtsextremistische Bewegungen und neonazistische Kameradschaften, die sich an einschlägigen historischen Vorbildern orientieren. Die gemeinsame Grundlage stellt die Ideologie der Ungleichwertigkeit dar. In diesem Milieu sind bereits Gewaltattitüden verbreitet, Gewalt wird akzeptiert und zur Ausübung ist man situativ bereit (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 62). Jedoch lässt man sich in Form von Parteien durchaus darauf ein, vorübergehend am demokratischen System teilzunehmen.An staatliche Vorgaben passt man sich nur aus strategischen Überlegungen an, indem beispielsweise Demonstrationen angemeldet werden; zugleich ist "Systemüberwindung" das zentrale Ziel: "In der "Parteifantasie" arbeitet man auf den "Volksaufstand" hin, mit dem die Vergangenheit wiederhergestellt werden soll. Es ist ein offener und weitgehend öffentlicher Kampf gegen das verhasste System" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Diese wenn auch nur vorübergehende Teilnahme am demokratischen System gilt als wesentlicher Unterschied zur vorletzten Schicht, dem klandestinen terroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieu. Es schließt jegliche Teilnahme am demokratischen System aus und fasst jede partielle und temporäre Teilnahme als Verrat an der Bewegung auf (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64). Dieses Milieu gilt als noch radikaler und agiert im Geheimen, oft mit eindeutiger Gewaltoption oder Gewalttätigkeit. Ziel ist der "Umsturz", wenn nötig mit Waffengewalt, weshalb dieser verdeckte Kampf auch aus dem Untergrund unterstützt wird – hier weist Heitmeyer auf die hohe Zahl untergetauchter rechtsextremistischer Straftäter:innen als aufschlussreiches Indiz hin (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Den Kern der "Zwiebel" stellen terroristische Zellen oder Einzeltäter:innen dar. Den Unterschied zur vorherigen Eskalationsstufe stellt das alleinige Merkmal des "Grad(s) der Klandestinität und Vernichtungsrealisierung" dar: "Die einen führen zum Schein noch ein "normales" Alltagsleben, die anderen eine Existenz im Untergrund. Sie beschaffen Waffen, erstellen Todeslisten und bereiten sich auf den Tag X vor. Die einen planen die Vernichtungstaten, die anderen setzen sie um" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 64).Die fünf Schichten des konzentrischen Eskalationskontinuums werden durch sogenannte "Legitimationsbrücken" zusammengehalten. Diese können dann entstehen, wenn es für gesellschaftliche Entwicklungen keine Lösungen zu geben scheint. Die Entwicklungen werden als Bedrohungen empfunden, für die die "Anderen", beispielsweise Geflüchtete oder Menschen mit anderen Lebensstilen, oder "die da oben", ergo der Staat als Ganzes, demokratische Institutionen oder demokratisch gewählte Entscheidungsträger:innen, verantwortlich gemacht werden. Diese kollektiven Schuldzuweisungen aus Teilen der Bevölkerung können sich dann in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit übersetzen.Zum anderen können sich die Legitimationen aus Verschwörungsideologien, aus Anleihen bei gesellschaftlichen Ordnungen oder historischen ideologischen Konzepten, wie dem Regime des Nationalsozialismus, dessen Ordnung wiederhergestellt werden soll, ergeben. Diese beispielhaft aufgezeigten Legitimationsquellen werden dann im Eskalationskontinuum von den äußeren Schichten weiter nach innen "transportiert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 65). Heitmeyer hat vier solcher Legitimationsbrücken jeweils zwischen den Stufen bestimmt, wie die folgende Abbildung zeigt:Abbildung 4: Legitimationsbrücken im Eskalationskontinuum (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67)1. Das Einstellungsmuster gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung stellt den Ausgangspunkt dar. Es dient dem autoritären Nationalradikalismus der AfD als Legitimation, entsprechende Feindbilder aufzubauen und zuzuspitzen. Wichtig anzumerken ist, dass auch Menschen mit diesen Einstellungen, die nicht die AfD wählen oder mit ihr sympathisieren, zu diesem Legitimationsfundus beitragen. Sie bestimmen das gesellschaftliche Klima mit, aus dem die AfD ihre politische Legitimation "saugt" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 66 f.).2. Führende Vertreter:innen des autoritären Nationalradikalismus der AfD machen von einer "Gewaltmembran" Gebrauch, was bedeutet, dass eine aggressive Rhetorik die trennende Membran zur nächsten Stufe in gewissen Fällen durchdringen kann und den Weg freilegt für autoritär nationalradikale Bewegungen mit weiteren Aufheizungen – psychische Gewaltandrohungen können von gewalttätigen Akteur:innen in physische Gewalt umgesetzt werden, "[...] ohne dass diese Gewalt den sprachlichen Urhebern und Legitimationsbeschaffern direkt zuzurechnen wäre" (Heitmeyer, 2018, S. 271). Durch diese Gewaltmembran werden dem systemfeindlichen Milieu Motive für entsprechende Gewalt geliefert. Zur aggressiven Rhetorik zählen beispielsweise Erzählungen von einem "Bevölkerungsaustausch", Parolen wie "Corona-Diktatur" oder das Beschwören von Untergangsszenarien von Führungskräften der AfD. Auch das Propagieren einer Reinterpretation der deutschen Geschichte insbesondere seitens des völkischen "Flügels" der AfD durch Begriffe wie "Umvolkung" bringt die Gewaltmembran zum Schwingen. Diese Rhetoriken und Untergangsfantasien erzeugen Handlungsdruck (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 67 f.).3. Das systemfeindliche Milieu ist geprägt von verschiedenen Akteur:innen, die sich auf der Schwelle zur Legitimation offener Gewalt gegen Vertreter:innen des Staates und gegen Minderheiten bewegen. Heitmeyer führt als Beispiel die Partei "Die Rechte" an, die den klandestinen terroristischen Planungsmilieus Motivation und Legitimation liefert (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).4. Im letzten Schritt stehen die klandestinen Planungsmilieus. Diese errichten im Gegensatz zu den vorherigen Eskalationsstufen keine zusätzlichen ideologischen Legitimationsbrücken. Ihr Ziel sind die "Brücken zur Tat" und das Abschirmen terroristischer Akteur:innen gegen staatliche Verfolgung (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 68).Hieraus resultiert die Schlussfolgerung, dass über verschiedene, eskalierende Stufen jene Teile der Bevölkerung, die explizite autoritäre Einstellungen oder Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit aufweisen, an politischer Gewalt beteiligt sind; nicht zwangsläufig als Täter:innen im juristischen Sinne, aber als Gehilf:innen und Legitimationshelfer:innen, wie das konzentrische Eskalationskontinuum anschaulich darstellt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 43). Das Modell des konzentrischen Eskalationskontinuums wird in Kapitel 6 in Bezug auf das Auftreten der AfD näher erläutert und an Beispielen untersucht.3.2 Analyseschema2018 hat Heitmeyer ein weiteres Analyseschema eingeführt. Ausgangspunkt für dieses soziologische Analysekonzept ist die Thematik, dass allein das Vorhandensein von autoritären Versuchungen in Teilen der Bevölkerung nicht ausreicht, um die entsprechenden Inhalte dann auch umgesetzt zu sehen. Hierzu ist es notwendig, dass diese Einstellungen in der Bevölkerung zusammen mit autoritären politischen Angeboten wirken. Insofern, formuliert Heitmeyer, "[...] wäre es zu kurz gegriffen, die Entstehung von autoritären Versuchungen nur aus Fehlentwicklungen des politischen Systems erklären zu wollen" (2018, S. 21).Die erste Ebene des Analyseschemas bildet Interdependenzen zwischen dem ökonomischen, sozialen und politischen Bereich ab. Diese sind als strukturelle Entwicklungen gekennzeichnet. Die unter "individuelle Verarbeitung" genannten Punkte sind von großer Bedeutung. Zentral ist hier, wie diese Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen der ersten Ebene seitens der Bevölkerung subjektiv und individuell verarbeitet werden. Die individuellen Verarbeitungsmechanismen werden nach der Konzeption von Heitmeyer durch die "gesellschaftliche Integrations- und Desintegrationsdynamik" geprägt. Hierfür sind die folgenden Faktoren und Fragen von besonderer Bedeutung:"Sicherheit oder Unsicherheit der materiellen Reproduktion, der Anerkennung, des Statusaufstiegs, der Statussicherung bzw. des Statusabstieges, und ein Gefühl der Kontrolle über die eigene Biografie.Wird die eigene Stimme bzw. die Stimme der sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe, der Personen sich zugehörig fühlen, von den Regierenden wahrgenommen oder vielmehr ignoriert?Verlässlichkeit oder Erosion sozialer Beziehungen und Anerkennung der eigenen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe durch Dritte, um emotionale Zugehörigkeit zu sichern" (Heitmeyer, 2018, S. 22).Zentral in Heitmeyers Analyse sind der Kontrollverluste und die Defizite in der Wahrnehmung sowie der subjektive Begriff der Anerkennung. Diese Verarbeitungen haben Auswirkungen auf die Integrations- und Desintegrationsprozesse bzw. auf Anerkennungsverhältnisse, aus welchen im letzten Schritt politische Konsequenzen, also politische Handlungsfolgen, resultieren.Essenziell ist an dieser Stelle die Tatsache, dass die individuellen Verarbeitungen auch als Grund dafür angeführt werden können, weshalb nicht alle Teile der Bevölkerung, die unter einer Art von Desintegrationsdynamik leiden, zwangsläufig für autoritäre Versuchungen anfällig sind und sich wahlpolitisch entsprechend verhalten. Von einer Krisenfolge betroffen zu sein, hat also nicht zwangsläufig das Annehmen eines autoritär nationalradikalen Angebots zur Folge (Heitmeyer, 2022 b, S. 269).Auch die autoritären Bewegungen, Parteien und Regime weisen autoritäre Versuchungen auf, die zu entsprechenden Einstellungen und Entscheidungen führen, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen, da sie Bezug auf die ökonomischen, sozialen und politischen Systeme nehmen (Heitmeyer, 2018, S. 21 f.). Dieses Schema wurde von Heitmeyer mit diversen theoretischen Ansätzen angelegt und ausgefüllt mit empirischen Daten (Heitmeyer, 2022 b, S. 252).Das Theoriegeflecht aus mehreren sich ergänzenden disziplinären Zugängen besteht aus der Theorie Sozialer Desintegration von Anhut & Heitmeyer, der Konflikttheorie von Hirschman, der Theorie kapitalistischer Landnahme von Dörre, der Anomietheorie von Thome und dem kontrolltheoretischen Ansatz aus der Sozialpsychologie von Frey & Jonas. Die für das Analysekonzept wichtigsten Charakteristiken dieser Theorien werden in Heitmeyer 2018 und 2022 b ausführlich erklärt. Die genauere Betrachtung dieser Theorien würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, weshalb darauf an dieser Stelle verzichtet wird.Abbildung 5: Analyseschema (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21)Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Durch das vorliegende Analyseschema soll verdeutlicht werden, wie autoritärer Kapitalismus in Zusammenwirken mit sozialen Desintegrationsprozessen und politischer Demokratieentleerung als "Ursachenmuster für die Realisierung autoritärer Sehnsüchte" fungiert (Heitmeyer, 2018, S. 16 f.).Demokratieentleerung meint, dass ein Teil der Bevölkerung das Gefühl hat, nicht mehr wahrgenommen zu werden und gleichzeitig das Vertrauen schwindet, dass die herrschende Politik bzw. die Regierung willens und fähig ist, soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Dies mündet bei Teilen der Bevölkerung in ein Gefühl, Bürger:innen zweiter Klasse zu sein (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 48). Heitmeyer hat 2022 das Analyseschema ergänzt; die Komponenten Krisen und Kontrollverluste wurden entsprechend ausdifferenziert (siehe Abbildung 6). Im Folgenden werden Krisen und Kontrollverluste als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und die dahingehende Erweiterung des Analyseschemas beleuchtet.4. Krisen und Kontrollverluste als Treiber autoritärer EntwicklungenEine Krise wird von Frankenberg & Heitmeyer durch drei Charakteristika definiert. Die bisherigen sozialen, ökonomischen und politischen Routinen zur Bewältigung von Ereignissen greifen nicht mehr und die bis dato vorhandenen Wissensbestände zur Problemlösung reichen nicht aus. Zusätzlich sind die Zustände, wie sie vor diesen Ereignissen herrschten, nicht wieder herstellbar. Darüber hinaus konkurrieren in solch krisenhaften Situationen verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung, was wiederum anomische Verhaltensunsicherheiten erzeugt (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45).Die Kombination der drei Kriterien legt nahe, dass "Situationen mit notstandsähnlichem Zuschnitt" mit der Erfahrung von Kontrollverlusten verflochten sind (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45; Heitmeyer, 2023, S. 253). Insofern verwundert die Tatsache nicht, wenn die These vertreten wird, dass krisenhaft zugespitzte Entwicklungen und Ereignisse nicht allein, jedoch in besonderem Maße als Treiber und Pfade des Autoritären sowie rechtsextremer Aktivitäten zählen (Heitmeyer, 2022 b, S. 251).Von autoritären Regimen wird in Krisen oder notstandsähnlichen Situationen erwartet, dass sie Sicherheit und die Wiedergewinnung der Kontrolle gewährleisten können (2022, S. 44 f.). Zudem werden die Ereignisse von der Bevölkerung individuell je nach Betroffenheit und auch Resilienz unterschiedlich bearbeitet. Diese Verarbeitung wiederum wird unterschiedlich intensiv und nachhaltig in individuelle Befürchtungen sowie kollektive Ängste übertragen. Somit dienen sie dazu, Vorstellungen von Entsicherungen und Kontrollverlusten zu erzeugen, die sich identifizieren lassen als Treiber autoritärer Bestrebungen (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 45 f.).Eine weitere wichtige Unterscheidung in der Konzeption von Krise ist die Unterteilung in zwei Typen von Krise. Der erste Typus, sektorale Krisen, erfasst unterschiedliche Lebensbereiche und Funktionssysteme einer Gesellschaft schlagartig und mit massiven "Funktionsstörungen". Dazu gehören ein zeitlich entzerrtes Auftreten sowie die Lokalisierung in unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft. Zudem gab es verschiedene Instrumente, um diese Funktionsstörungen einzudämmen und gravierendere Auswirkungen zu verhindern.In der "Post-9/11"-Ära, in den sogenannten "entsicherten Jahrzehnten" seit Beginn des 21. Jahrhunderts, werden nach Heitmeyer vor allem drei – mit 9/11 als religiös-politische Krise vier - verschärfte Gefahrenlagen als sektorale Krisen identifiziert. Dazu zählt ab 2005 die Einführung von Hartz IV als eine sektorale, soziale Krise für gewisse Teile der Bevölkerung, die mit Statusängsten oder auch mit sozialem Abstieg konfrontiert waren. Weiter ist ab 2008/2009 die weltweite Banken- und Finanzkrise zu nennen, die die "systemrelevante" Finanzökonomie ins Wanken brachte mit Ausstrahlungseffekten auf das Gesamtsystem als ökonomisch-politische Krise. Fürderhin wird die sogenannte "Flüchtlingskrise" 2015/2016 als sozial-kulturelle bzw. kulturell-politische Krise angesehen, die das politisch-administrative System prägte (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46; Heitmeyer, 2022 b, S. 255).Der zweite Typus bezieht sich auf systemische Krisen. Sie erfassen das gesamte Gesellschaftssystem in sich zuspitzenden Gefahrenlagen. Als langsame bzw. schleichende systemische Krise kann die Klimakrise angesehen werden, als "schnelle" systemische Krise die COVID-19 Pandemie. Hier werden die Potenziale für autoritäre Entwicklungen besonders offen sichtbar, da zahlreiche "Einhegungsinstrumente" nicht greifen, wodurch politische, individuell-biografische und kollektive Kontrollverluste auftreten, die politisch instrumentalisiert und mit Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen verbunden werden können (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 46 f.). Krisen lösen je nach Gefahrenlage individuelle und kollektive Befürchtungen aus, die sich in der Vorstellung einer "kollektiven Hilflosigkeit" verdichten können.In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach Krisenängsten, ob und wie sie zu Treibern autoritärer Entwicklungen werden können. Ängste, unabhängig davon, ob eingebildet oder realistisch, ob auf Wissen oder Unwissen beruhend, lassen sich schwerlich von einer politischen Klasse, von Unternehmen oder dem freien Markt abfangen. Je mehr sich Gefahrenlagen häufen und sich Wahrnehmungen von Kontrollverlusten sowie Unsicherheiten ausbreiten, fallen auch Rechtsprechung und Verfassung als Orientierungsmedien aus und auch Wissenschaften können diese nicht mit der Lieferung von Begleitgewissheit neutralisieren.In solchen Situationen "[...] mutieren selbst Realängste, die vor greifbaren, konkreten Gefahren warnen, zu frei flottierenden, allfälligen Befürchtungen, die jede Risikoeinschätzung verhindern und irrationale Rettungsbedürfnisse wecken" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53). Diese Situationen können dann von autoritären Bewegungen, Organisationen und Regimen ausgebeutet werden, indem zunächst Ängste geschürt und im zweiten Schritt die Anhänger:innen mit wahnhaften Rettungsphantasien "versorgt" werden. Alexander Gaulands Aussage, "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen", liefert ein entsprechendes prominentes Beispiel für das Versprechen, die Kontrolle wieder herzustellen (Reuters Staff, 2017; Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 53; Nickschas, 2023).Eine Annahme von Heitmeyer & Heyder lautet hier, dass die Faktoren der Standortlosigkeit und Kontrollverluste Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bestärken. Eine Variante zur Wiederherstellung von Stabilität stellt die Demonstration von Überlegenheit dar, die durch autoritäre Aggression ausgeübt werden kann. Um wirklich Überlegenheit demonstrieren zu können, muss diese möglichst risikoarm sein; dies ist dann gegeben, wenn besonders schwache, machtlose Gruppen als Gegner:innen ausgewählt werden (Heitmeyer & Heyder, 2002, S. 62). Empirisch stehen Abstiegsängste in einem signifikanten Zusammenhang mit einerseits Kontrollverlust-Situationen und andererseits der Abwertung schwacher Gruppen:"Wenn jemandem das eigene Leben außer Kontrolle gerät (oder zu geraten scheint), kann das Panik erzeugen. Zur Panikbekämpfung erfolgt dann eine Selbstaufwertung, die gleichzeitig die Abwertung von ungleichwertig markierten Gruppen bedeutet (Flüchtlinge, Migranten, Langzeitarbeitslose etc.)" (Heitmeyer, 2018, S. 109).Die individuellen Verarbeitungsmuster von Krisen und (gefühlten) Kontrollverlusten lassen sich durch entsprechende autoritäre Angebote von "rechtspopulistischen Mobilisierungsexperten" – mittels scharf konturierter Feindbilder und Kontrollversprechen - politisch aufladen und bedienen zur vermeintlichen "Wiederherstellung von Ordnung" (Heitmeyer, 2018, S. 106).2022 stützt Heitmeyer also die oben erwähnte These von Krisen als besondere Treiber autoritärer Entwicklungen und rechtsextremer Aktivitäten, indem er formuliert, dass der Blick auf Veränderungen in Richtung autoritärer Entwicklungen in gesellschaftlichen und politischen Verläufen geweitet werden soll, die unter verstärktem Einfluss zeitlich verdichteter Krisen stattfinden (Heitmeyer, 2022 b, S. 251). Das soziologische Analysekonzept von 2018 wird entsprechend angepasst um die zwei zentralen Eskalationstreiber Krisen und Kontrollverluste bzw. "Kontrollverluste als Krisenfolgen" (siehe Abbildung 6).Dies geht aus der Abbildung insofern deutlich hervor, als in die Strukturentwicklungen der ökonomischen, sozialen und politischen Dimension "[...] verschiedene Krisen mit unterschiedlichen Auswirkungen "hineingewirkt" und Einfluss genommen haben auf die individuellen psychologischen und sozialen Verarbeitungen, die wiederum mit Kontrollverlusten durchsetzt waren – immer auch je nach Krisenbetroffenheit" (Heitmeyer, 2022 b, S. 252 f.). Hierdurch entstanden durch das generelle Bedürfnis nach Realitätskontrolle Handlungsoptionen, die mehrfach variieren und auch autoritäre Versuchungen bzw. Gefahren beinhalten können.Abbildung 6: Analyseschema, erweitert und angepasst (Quelle: eigene Darstellung nach Heitmeyer, 2018, S. 21; Heitmeyer, 2022 b, S. 254)Fürderhin ist anzufügen, dass sich Kontrollverluste in Krisen verschiedenartig ausdrücken und sich Verhaltensmöglichkeiten zur Realitätskontrolle, also zur Lösung von Problemen, massiv verengen, insbesondere in systemischen Krisen. Individuelle Suchbewegungen setzen ein, um das grundlegende Bedürfnis nach Realitätskontrolle zu befriedigen. Diese Suchbewegungen schließen politische Suchbewegungen nach autoritären Akteur:innen mit ein, die die Wiederherstellung von Kontrolle durch Reduktion der Krisenkomplexität versprechen (Heitmeyer, 2022 b, S. 256).Krisen und Kontrollverluste treten daher als Treiber autoritärer politischer sowie gesellschaftlicher Entwicklungspfade in Erscheinung, da indes eine kritische Masse entstanden ist, die nicht mehr in der Lage ist, ihr zentrale Bedürfnis nach Realitätskontrolle im "bisher gewohnten Maße" zu realisieren. Genau das bieten autoritäre Akteur:innen im Gegensatz zur abnehmenden Kapazität liberaler Demokratien, geeignete Lösungen schnell zu finden und die Kontrolle wiederherzustellen (Heitmeyer, 2022 b, S. 257). Zudem ist diese versprochene Wiederherstellung keine Wiederherstellung des vorhergehenden Prä-Krisenzustandes, "[...] sondern eine autoritäre Veränderung von Kontrolle und damit auch veränderte ökonomische, soziale, kulturelle und politische Verhältnisse" (Heitmeyer, 2022 b, S. 257).Als Indiz sieht Heitmeyer zwei Mechanismen, die besonders hervorstechen: Einerseits die Ambivalenz, dass zahllose Widersprüche zunehmen, und andererseits die Ambiguität, dass zunehmende Komplexität von modernen Gesellschaften gepaart sind mit uneindeutigen Situationen und Zukünften. Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz kristallisieren sich also als unabdingbar heraus, um autoritären Versuchungen nicht nachzugeben."Denn wenn Sitationen [sic] oder auch die Anwesenheit von fremden Menschen als unberechenbar oder unkontrollierbar wahrgenommen werden, dann reagieren Personen, deren Ambiguitätstoleranz niedrig ist, mit vereinfachten Weltsichten oder Stereotypen, um wieder Ordnung, Struktur und Kontrolle zu erreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 80).Hinzu tritt das Verschwimmen von gesellschaftlichen Koordinaten, die eigentlich als Vergewisserungen der jeweils eigenen Position in der Gesellschaft dienen, welches die Suchbewegungen nach politischen Akteur:innen aktiviert, die vorgeben, Widersprüche zu lösen, Unklarheiten in Klarheiten verwandeln und Kontrolle wiederherzustellen versprechen (Heitmeyer, 2018, S. 109 ff.; Heitmeyer, 2022 b, S. 258 f.).Hieraus könnte die Folgerung gezogen werden, dass das Potenzial von autoritären Versuchungen in der Moderne angelegt sei: "Ambivalenzen und Ambiguitäten als Grundparadigma der Moderne entfalten unter dem Druck von Krisen und damit verbundenen Kontrollverlusten eine neue Wucht, die ins Autoritäre drängt" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259). Beispielsweise ist die erwähnte "Entweder-Oder" Logik im Vergleich zu "Mehr-oder-weniger" darauf angelegt, Ambivalenzen und Ambiguitäten zu beseitigen. "Das Autoritäre dient dann als Strategie zur Reduzierung von ökonomischer, sozialer und politischer Komplexität – und gleichzeitig von Freiheitsräumen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 259).Heitmeyers Analysen zeigen, dass die Fähigkeiten zum Aushalten von Ambiguitäten und zum Umgang mit Ambivalenzen über zukünftige soziale, politische und ökonomische Entwicklungspfade in Teilen der Bevölkerung abnehmen. Dies ist passgenau für das Angebot vonseiten der autoritär-nationalradikalen Akteur:innen mit ihren dichotomischen Welt- und Gesellschaftsbildern (siehe Kapitel 2.2); das Angebot eignet sich hervorragend für mobilisierende Ideologien und rhetorische Eskalation (Heitmeyer, 2018, S. 246 f.).Erfolge rechter Parteien und Bewegungen wären demnach also nicht möglich gewesen ohne bestimmte Entwicklungen im sozialen System der Gesellschaft, im politischen System der Demokratie und im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus (Heitmeyer, 2018, S. 16). Konkreter ist es das Zusammenwirken eines autoritären Kapitalismus, sozialer Desintegrationsprozesse und politischer Demokratieentleerung als Ursachenmuster für die "Realisierung autoritärer Sehnsüchte" (Heitmeyer, 2018, S. 17).5. Die Partei "Alternative für Deutschland"Mit der inhaltlichen Neuausrichtung der vormals liberal-konservativen, eurokritischen Partei ab 2015 sowie mit dem immer weiter um sich greifenden Einfluss von rechtsextremistischen Akteur:innen innerhalb der AfD hält Heitmeyer es nicht mehr für angemessen, die AfD als rechtspopulistisch zu "verharmlosen", noch die Partei als vollständig rechtsextrem oder neonazistisch zu bezeichnen (Heitmeyer, 2022 a, S. 302; Heitmeyer, 2022 b, S. 265 f.; Heitmeyer & Piorkowski, 2023). Mit der herkömmlichen Typologie sei die AfD, als Typ einer neuen Partei, nicht zu beschreiben. Ebenso reichen die bisherigen Begriffe und Kategorien nicht aus, um "analytische Klarheit" über Zustand und Entwicklung der AfD zu gewinnen (Heitmeyer, 2018, S. 233).Seit dieser Neuausrichtung zieht die AfD Teile der Bevölkerung an, die unter den oben beschriebenen Krisen Kontrollverluste wahrnehmen oder empfinden und eine Wiedererlangung der Kontrolle forcieren. Das Autoritäre ist dann ein Weg zur Realitätskontrolle. Insofern lässt sich deutlich machen, dass die AfD nicht der Grund für die Entstehung von autoritären Versuchungen in der Bevölkerung ist. Diese autoritären Einstellungsmuster "schlummern" in Teilen der Bevölkerung bereits über einen längeren Zeitraum als Gefahrenpotenzial für die offene Gesellschaft (Heitmeyer, 2018, S. 113):"Ein Zwischenfazit zum Zusammenwirken von strukturellen Entsicherungen und individuellen Verunsicherungen zeigt, dass aufgrund der Krisen und ihrer Verarbeitungen, aufgrund von veränderten Lebensumständen und von Verschiebungen der gesellschaftlichen Koordinaten in entsicherten Zeiten bei Teilen der Bevölkerung ein erheblicher "Vorrat" an gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungen existiert, an die autoritäre politische Akteure bloß noch anzuknüpfen brauchten" (Heitmeyer, 2018, S. 117).Dies bedeutet, dass die Erfolgsvoraussetzungen des autoritären Nationalradikalismus der AfD eine längere Vorgeschichte haben, die in den letzten Jahrzehnten geformt und vorangetrieben wurden durch neue Entwicklungen des kapitalistischen Systems. Die Wähler:innen der AfD waren zuvor Wechselwähler:innen oder wählten gar nicht (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 115). Sie verharrten dann in "wutgetränkter Apathie", was folgenlos blieb für die Politik, da diese Teile der Bevölkerung keinen wahlpolitischen Ausdruck fanden.Dieser in der Bevölkerung existierende Autoritarismus, der laut Heitmeyer "[...] vagabundierte, mal auf diese, mal auf jene im Bundestag vertretene Partei setzte oder aber gar nicht offen zutage trat, sondern in der politischen Apathie verharrte [...]" (2018, S. 237), hat durch das Aufkommen der Partei "Alternative für Deutschland" und ihren autoritären Nationalradikalismus ein neues politisches "Ortsangebot" bekommen. Hinsichtlich des oben beschriebenen Zwischenfazits lässt sich konstatieren, dass es der AfD offensichtlich gelungen ist, "[...] Personen aus ihrer individuellen Ohnmacht herauszuholen und mit kollektiven Machtfantasien auszustatten. Dazu gehört es auch, gruppenbezogen-menschenfeindliche Einstellungen zu kanalisieren und gegen schwache Gruppen zu richten" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 116).In diesen Prozessen ist die Ideologie der Ungleichwertig eingelagert und wird genutzt, um sich selbst aufzuwerten durch Abwertung und Ausgrenzung der vermeintlich "Anderen". Für die sogenannte "rohe Bürgerlichkeit" entstehen neue Anschlussmöglichkeiten. Unter diesem Begriff verbirgt sich keine soziale Klassenzugehörigkeit, sondern es handelt sich um eine verachtende Haltung gegenüber Schwächeren, geäußert in einer rabiaten Rhetorik und gepaart mit einer Ideologie, in der bestimmte Gruppen als ungleichwertig angesehen werden, während sich die eigentlichen autoritären Haltungen hinter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmen, also bürgerlichen äußeren Umgangsformen, verbergen (Heitmeyer, 2018, S. 310; Heitmeyer, 2022 b, S. 273).6. Der autoritäre Nationalradikalismus der AfDSo folgert Heitmeyer, dass die AfD vorrangig für jenes Publikum attraktiv ist, "[...] das sich einerseits von den flachen Sprüchen rechtspopulistischer Akteure, die nur auf schnelle Erregungszustände fixiert sind, nichts verspricht, und sich andererseits von der Brutalität des Rechtsextremismus distanziert, um seine Bürgerlichkeit zu unterstreichen" (Heitmeyer, 2018, S. 235). Er weist zurecht auf ihre "bürgerliche Patina" hin, die die AfD für viele gesellschaftliche Gruppen wählbar macht (Heitmeyer & Piorkowski, 2023).Vor diesem Hintergrund überrascht der empirische Befund nicht, dass die bereits benannten 19,6 % der Bevölkerung mit Einstellungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sich selbst in der "politischen Mitte" einordnet, weshalb sich die "bürgerliche Patina" für die AfD als unentbehrlich erweist (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 132 f.).Die neue begriffliche Rahmung dient dazu, unterschiedliche inhaltliche und formale Ebenen zusammenzufassen, wie prägende Einstellungsmuster, der Mobilisierungsstil sowie zentrale programmatische Aussagen zu "bewegenden Themen" (Heitmeyer, 2018, S. 234). Daher ordnet Heitmeyer die AfD als autoritäre nationalradikale Partei ein, die gleichzeitig als Kern des autoritären Nationalradikalismus in Deutschland fungiert. Im Folgenden wird das Agieren der Partei als Protagonistin des autoritären Nationalradikalismus anhand der in Kapitel 2.4 erklärten Charakteristika erläutert:Als autoritär wird sie charakterisiert, da das Kontrollparadigma grundsätzlich ihre Vorstellungen von Politik sowie Gesellschaft durchzieht. Beispiele sind Forderungen nach einer streng hierarchisch organisierten sozialen Ordnung sowie nach rigider Führung in politischen Institutionen. Auch beruht das Verständnis von Politik und Gesellschaft wesentlich auf den Kategorien "Kampf und Konflikt", womit dichotomische Gesellschaftsbilder und strenge Freund-Feind-Schemata einhergehen (Heitmeyer, 2018, S. 234).Als national wird sie aufgrund der "[...] Betonung der außerordentlichen Stellung des deutschen Volkes" bezeichnet (Heitmeyer, 2018, S. 234). Hinzu kommt auch die Beanspruchung einer "neuen deutschen" Vergangenheitsdeutung sowie eines Überlegenheitsanspruchs gegenüber anderen Nationen oder ethnischen und religiösen Gruppen (Heitmeyer, 2018, S. 235).Das radikale Moment liegt in der Bekämpfung der offenen Gesellschaft und dem Ziel, die liberale Demokratie grundlegend umzubauen. Somit positioniert sich die Partei gegen zwei zentrale politisch-gesellschaftliche Errungenschaften. Hierzu dient ein rabiater und emotionalisierter Mobilisierungsstil der AfD, der mit menschenfeindlichen Grenzüberschreitungen arbeitet (Heitmeyer, 2018, S. 235).Die AfD hat die Destabilisierung gesellschaftlicher und politischer Institutionen zum Ziel, was entscheidend für die Erfolgsgeschichte der Partei ist, es geht um Militär, Polizei, Gerichte, Gewerkschaften, Rundfunkräte, politische Bildung, Theater oder auch Feuerwehrverbände (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Hierin besteht nach Heitmeyer die eigentliche Gefahr. Das Fiasko rund um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen 2020 zeigt, dass mittlerweile auch das parlamentarische System von der forcierten Destabilisierung betroffen ist (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 107). Der autoritäre Nationalradikalismus der AfD und das Agieren der Partei soll im folgenden exemplarisch an zwei Krisen der vergangenen Jahre behandelt werden.Die Fluchtbewegungen ab 2015 bezeichnete Alexander Gauland als "Geschenk" für seine Partei, die AfD (Decker, 2022). In der Tat diente sie AfD und PEGIDA, um Personen, die vorrangig unter Anerkennungsdefiziten litten, mittels dichotomischer Weltbilder und der Emotionalisierung sozial-kultureller Probleme zu instrumentalisieren. Der anhaltende Erfolgsmechanismus von Parteien und Bewegungen wie AfD und PEGIDA besteht demnach darin, Anerkennungsprobleme zu bearbeiten und so Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen. Als (potenzielle) Wähler:in würde man wahrgenommen werden und dies ließ Handlungsbereitschaften entstehen, die einerseits autoritäre Ausrichtungen entwickelten und andererseits themengebunden immer wieder neu aktiviert werden können (Heitmeyer, 2022 b, S. 275). Dies ist bei dem bereits genannten "Entweder-Oder"-Mechanismus der Fall, da es um "Alles" geht und Kompromisse von vornherein ausschließt.Weiter führt Heitmeyer aus, dass die Verbindungen von einem systemischen Krisentypus, wie beispielsweise der COVID-19-Pandemie, mit einer "Entweder-Oder"-Konfliktstruktur gesellschaftliche Entwicklungen begünstigen, die zwar nicht die Gesellschaft spalten, jedoch asymmetrisch polarisieren zwischen einer Bevölkerungsmehrheit und einer Minderheit (Beispiel: Geimpfte vs. Impfgegner:innen). In solchen Konstellationen enthüllt sich das Zusammenwirken und gemeinsame Auftreten der aufgeführten Mechanismen als äußerst gewaltanfällig (Heitmeyer, 2022 b, S. 275 f.).Im Jahr 2015 war der "Kampf um die Opferrolle" ein zentraler Mechanismus der AfD, um die Mobilisierung gegenüber Geflüchteten und staatlicher sowie gesellschaftlicher Integrationspolitik voranzubringen. Entsprechend entstanden Kampfbegriffe wie "Umvolkung" oder das Propagieren des "Untergangs der deutschen Kultur". Die Opferrolle kann nach Heitmeyer als Schlüsselkategorie interpretiert werden, "[...] denn wer [sich] in der öffentlichen Wahrnehmung glaubhaft als Opfer darstellen kann, schafft damit eine zentrale "moralgetränkte" Kategorie, um Widerstand als Notwehrrecht einschließlich Gewalt zu legitimieren" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). Insofern gilt der Opferstatus als eines der wichtigsten Instrumente, um Anhänger:innen an sich zu binden.Im Verlauf der COVID-19-Pandemie verkehren sich die Verhältnisse in den digitalen Medien, auf radikalisierten Demonstrationen und in der öffentlichen Debatte, was auch darauf zurückzuführen ist, dass der Mechanismus einer veränderten "Täter-Opfer"-Konstruktion sich ausbreitet. Neue Gelegenheitsstrukturen und Mobilisierungsaktivitäten werden in Figuren von "Freiheitskämpfern" ausgebaut und radikalisiert.Während der sogenannten "Flüchtlingskrise" waren es vor allem männliche Geflüchtete, die in der öffentlichen Wahrnehmung als bedrohliche Täter, die Verbrechen wie Vergewaltigungen und Tötungen begehen, dargestellt wurden. Staatliche Institutionen ließen sie "gewähren" im Sinne einer bevorstehenden "Umvolkung" (Heitmeyer, 2022 b, S. 266). In der COVID-19-Krise trat der Staat als Haupttäter auf: Die Bevölkerung wurde in den Lockdown getrieben, massiven Freiheitsbeschränkungen unterworfen und Ungeimpfte – ob Gegner:in oder nur Zweifelnde – wurden durch eine "Corona-Diktatur" in die Knie gezwungen.In diesem Strukturwandel wirken Verschwörungstheorien passgenau auf ideologische Konzeptionen ein, die an Krisen sowie an Kontrollverluste andockt. Verschwörungstheorien bilden hier als quasi-religiöses, glaubensbasiertes Kampfinstrument eine Art Ersatzlösung für die in der Moderne verloren gegangenen Gewissheiten und markieren gleichzeitig Feindgruppen für autoritäre politische "Lösungen", meist auch antisemitisch aufgeladen.Im Sinne des angeführten konzentrischen Eskalationskontinuums sind es unter anderem solche Parolen und Kampfbegriffe, die als begrifflich "notwehrrelevante" Legitimationsbrücken dienen. So wurden während der COVID-19-Pandemie von parlamentarisch einflussreichen Positionen weitere eskalationsorientierte Handlungsweisen beflügelt (Heitmeyer, 2022 b, S. 267). Die bisher aufgeführten Mechanismen und Strukturen fungieren demnach also als Bestandteile von Radikalisierungsprozessen. Diese wiederum bilden die Voraussetzungen für das Aufkommen von physischer Gewalt, von Körperverletzungen bis hin zu rechtsterroristischen Vernichtungstaten. Um diese Wirkung aufzuzeigen, soll folgend das Agieren der AfD anhand des oben beschriebenen Eskalationskontinuums verdeutlicht werden.In den "Schalen" des "Zwiebelmusters" wird, wie oben erläutert, die Gewaltorientierung größer, während die eskalierenden Akteur:innengruppen kleiner werden. Als Kernmechanismus werden die verschiedenen Legitimationsbrücken angeführt. In der äußersten, der größten Schale, finden sich feindbildliche autoritäre Einstellungsmuster in Teilen der Bevölkerung gegenüber dem Staat als Ganzes und generell demokratischer Politik. Diese liefern die entsprechenden Legitimationen für das Auftreten und Agieren des autoritären Nationalradikalismus der AfD.Zu Beginn der Pandemie forderte die AfD zunächst besonders harte Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung, sie blieb bei ihrem Stil der Emotionalisierung politischer und sozialer Probleme inklusive dem autoritären Kontrollparadigma. Da hiermit keine Zustimmungserweiterungen von potenziellen Wähler:innen gewonnen werden konnten, wurde eine radikale Richtungsänderung ins Gegenteil vollzogen. Dies führt Heitmeyer an, um zu verdeutlichen, "[...] dass es der Partei nicht um sachbegründete Prinzipien, sondern um opportunistische Nutzenkalküle zur Ausbreitung von Zustimmungen bzw. Verfestigungen der Wählerschaft geht – und um die Straße" (Heitmeyer, 2022 b, S. 276). Insofern mussten Parolen geprägt werden, wie der Begriff der "Corona-Diktatur", dem Selbststilisieren als "Freiheitskämpfer:innen" oder dem Verbreiten von Verschwörungsideologien wie des "Great Resets" (Siggelkow, 2023).So trat die AfD im Herbst und Winter 2021/2022 als wesentlicher Treiber der Corona-Proteste auf und baute gleichzeitig mit diesen Parolen, wie bereits ab 2015 in Zusammenhang mit der Krise um die Flüchtlingsbewegungen, gezielt Legitimationsbrücken für ohnehin schon mit Gewalt operierende rechtsextremistische Gruppen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Diese Gruppierungen können sich durch diese Parolen auf eine Art gewaltlegitimierendes "Notwehrrecht" berufen, um gegen eine "Diktatur" zu agieren, verbunden mit "Umsturzfantasien".Heitmeyer führt weiter aus, dass diese Gruppen sich öffentlich in Demonstrationen bewegen und gleichzeitig klandestine rechtsterroristische Kleingruppen bedienen, "[...] die unter anderem aus Misserfolgen gegen die staatlichen Ordnungsmächte dann Legitimationen zum Umsturz des Systems ziehen" (Heitmeyer, 2022 b, S. 277). Aus diesem Mechanismus eröffnet sich, was Heitmeyer durch das konzentrische Eskalationskontinuum eindrucksvoll darstellen kann, dass schlussendlich Teile der Bevölkerung durch die verschiedenen "Schalen" hindurch zu den Legitimationslieferant:innen zählen, auf die sich Gewaltakteur:innen berufen, wenn sie sich auf "das Volk" beziehen (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Die Mechanismen verweisen insgesamt auf Bedrohungen der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft. Weiter führt Heitmeyer an, dass staatliche Kontrollapparate sowie die Politik samt Appellen oder Ankündigungen der "wehrhaften Demokratie" nicht in der Lage sind, mehrere dieser Mechanismen in ihren Wirkungen "in den Griff zu bekommen". Die aufgezeigten Mechanismen, die bereits während der Krise der Flüchtlingsbewegungen und der Corona-Pandemie gewirkt haben, sind etabliert und werden auch weiterhin wirken.Die so genannte "3K-Trias" - Krisen, Konfliktstruktur und Kontrollverluste - gilt mittlerweile als etabliert und wirkt als wirkungsvoller Zusammenhang für autoritäre Entwicklungen. Die zukünftigen Krisenthemen werden wechseln, jedoch bleiben die gesellschafts- und demokratiezerstörerischen Mechanismen bestehen und können durch autoritär-nationalradikale Akteur:innen immer wieder neu themenbezogen aktiviert und emotional aufgeladen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 277).7. Fazit & AusblickHeitmeyers Arbeiten bilden einen Meilenstein in der empirischen Forschung zu Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und zu rechten Einstellungen in der Bevölkerung. Er wies bereits zu Beginn seiner Studien im Jahr 2001 darauf hin, dass ein globalisierter Kapitalismus zu politischen und sozialen Kontrollverlusten führen könne, die mit Demokratieentleerung und einem Erstarken des rabiaten Rechtspopulismus einhergehen.Anhand der Ergebnisse seiner langjährigen Forschung, unter anderem der Langzeitstudie zu den "deutschen Zuständen", konnte er empirisch nachweisen, dass knapp 20 % der Bevölkerung autoritäre Einstellungen haben (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 125 f.). Diese Einstellungen "schlummerten" in diesen Bevölkerungsteilen und fanden politisch bis zum Aufkommen der AfD keine sonderliche Beachtung. Sie "vagabundierten" zwischen den Parteien - meist zwischen den Volksparteien CDU/CSU und der SPD - oder verharrten in einer "wutgetränkten Apathie" und machten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch (Schaefer, Mansel & Heitmeyer, 2002, S. 127 f.).Die strukturellen Ursachen des autoritären Kapitalismus, also Transformationsprozesse in ökonomischen Strukturen samt den Krisen in der "Post-9/11"-Ära führen zu Veränderungen im sozialen Bereich, wie individuelle Verarbeitungsprozesse der Krisenfolgen in Form von Abstiegsängsten oder Anerkennungsverlusten, also soziale Desintegrationserfahrungen bzw. Desintegrationsgefährdungen. In Kombination mit den damit einhergehenden Kontrollverlusten sehnen sich Teile der Bevölkerung nach einem krisensicheren, kollektiven kulturell-politischen Identitätsanker und nach der "Wiederherstellung der Ordnung" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325). Dies schafft günstige Gelegenheitsstrukturen für die AfD, die sich 2015 inhaltlich radikal neu ausrichtete und als autoritär nationalradikales Angebot wahlpolitisch von diesen Entwicklungen profitierte. Durch ihre Fokussierung auf die kulturelle Dimension hat die Partei die Möglichkeit erhalten, "[...] soziale Kontrollverluste in Versprechungen zur Wiederherstellung von politischer Kontrolle zu übersetzen" (Heitmeyer, 2022 a, S. 325).Die Frage nach dem weiteren Verlauf liegt auf der Hand. Hier spricht Heitmeyer von "Zukünften" in einer Zeit, in der viele Menschen auf tiefgreifende Verunsicherungen seit 2001 mit einer Sehnsucht nach Ordnung, Kontrolle und Sicherheit reagiert haben, die von dem autoritären Nationalradikalismus der AfD bedient wird (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 281). Zu den Entsicherungen der sozialen Zustände der letzten Jahrzehnte gesellt sich nun eine "Unübersichtlichkeit möglicher Zukünfte". Klar ist, dass die Routinen zur Bewältigung politischer, ökonomischer und sozialer Probleme und Krisen nicht länger funktionieren und es kein Zurück zu den Zuständen davor geben wird.Nach Heitmeyer muss die Frage nach der Resilienz demokratischer Einstellungen und Gegenevidenzen zum grassierenden Autoritarismus auf der Ebene der Akteur:innen angesetzt werden, bei der Bürger:innenschaft. Jedoch beschreibt er sie, die in Krisen sonst durchaus wehrhaft und spontan auf Herausforderungen reagierten und heute mehr denn je gefragt seien, als erschöpft, auch wenn in der Mehrheit der europäischen Staaten bisher nur eine Minderheit der autoritären Versuchung vollends nachgibt (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 282; Heitmeyer, 2022 b, S. 277).Dennoch haben sich quer durch die Altersgruppen und unabhängig von der sozialen Lage unterschiedliche Teile der Bevölkerung "[...] statistisch signifikant und im Erscheinungsbild deutlich autoritären Versuchungen nachgegeben [...]" (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 74). Ebenso erschöpft seien auch die politischen Eliten, die eigentlich Visionen und Ideen für individuelle und gesellschaftliche Zukünfte, die Freiheit spenden und Sicherheit verheißen, entwickeln sollten. Es benötigt also mehr visionäre und zukunftssichernde Gesellschafts- und Politikvorstellungen gepaart mit neuen Beteiligungsformen, die von den Bürger:innen wahrgenommen werden (Heitmeyer, 2022 b, S. 278).Aktuelle empirische Befunde zu weiteren demokratischen Fortschritten geben wenig Anlass zu Optimismus (Frankenberg & Heitmeyer, 2022, S. 73 f.). Insofern folgert Heitmeyer, dass sich der Höhenflug autoritärer Politikangebote weiter fortsetzen wird, insofern sich der autoritäre Nationalradikalismus nicht selbst (von innen) zerlegt und es kein massives politisches Umsteuern mit gravierenden wirtschaftspolitischen Reformen gibt, wofür derzeit keine Anzeichen bestehen (Heitmeyer, 2018, S. 368). Nach Heitmeyer müssten aus den folgenden Punkten ökonomische, soziale und politische Konsequenzen gezogen werden:"Der finanzialisierte Kapitalismus verfolgt weiter ungehindert seine globale Landnahme, ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Integration.Die nationalstaatliche Politik ist angesichts der ökonomischen Abhängigkeit nicht willens oder in der Lage, soziale Ungleichheit konsequent zu verringern.Ein Fortschreiten der sozialen Desintegration ist angesichts von Prozessen wie der Digitalisierung sehr wahrscheinlich.Kulturelle Konflikte entlang konfessioneller und religiöser Grenzen werden nicht dauerhaft befriedet; vielmehr ist davon auszugehen, dass sie – auch im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen – immer wieder angefacht werden.Sozialgeografische Entwicklungen wie Abwanderung und das ökonomische Abdriften ganzer Regionen gehen ungebremst weiter" (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 283 f.).Die aufkommenden Probleme dieser auf Dauer gestellten Faktoren können von autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen als "Signalereignisse" für sich ausgebeutet werden. Sie stellen also "stabile" günstige Voraussetzungen für ein weiteres Erstarken des autoritären Nationalradikalismus der AfD dar (Heitmeyer, Freiheit & Sitzer, 2021, S. 284). Es ist mittelfristig nicht abzusehen, dass die Themen, die die AfD mit ihrer eskalativen Rhetorik bearbeitet, in absehbarer Zukunft von der Bildfläche verschwinden werden.Zudem weisen die Strukturen der AfD und des sie unterstützenden Milieus mittlerweile einen hohen Organisations- und Institutionalisierungsgrad auf. Insofern ist davon auszugehen, dass die autoritär nationalradikalen Parteien und Bewegungen öffentliche Debatten weiterhin maßgeblich prägen und so das soziale Klima innerhalb der Gesellschaft dauerhaft in Richtung von mehr Aggressivität verschieben werden.Die Bedrohungen für die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft durch den globalisierten Kapitalismus, durch Desintegrationsprozesse und dem autoritären Nationalradikalismus sind offensichtlich. Es hängt also viel von der Kraft konfliktbereiter und widerspruchstrainierter Gegenbewegungen ab, die für die offene Gesellschaft eintreten und sich nicht mit den Normalitätsverschiebungen, die aktuell bereits ablaufen, abfinden wollen (Heitmeyer, 2018, S. 372).LiteraturverzeichnisDahrendorf, R. (14. 11 1997). Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit. Von zeit.de: https://www.zeit.de/1997/47/thema.txt.19971114.xml/komplettansicht abgerufen am 21.10. 2023.Decker, F. (02. 12 2022). Etappen der Parteigeschichte der AfD. Von bpb.de: https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273130/etappen-der-parteigeschichte-der-afd/ abgerufen am 21.10. 2023.Frankenberg, G., & Heitmeyer, W. (2022). Autoritäre Entwicklungen. Bedrohungen pluralistischer Gesellschaften und moderner Demokratien in Zeiten der Krisen. In G. Frankenberg, & W. Heitmeyer (Hg.), Treiber des Autoritären: Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. 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Von reuters.com: https://www.reuters.com/article/deutschland-wahl-afd1-idDEKCN1BZ0QJ abgerufen am 21.10. 2023.Schaefer, D., Mansel, J., & Heitmeyer, W. (2002). Rechtspopulistisches Potential. Die "saubere Mitte" als Problem. In W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 1 (S. 123-135). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1. Auflage.Siggelkow, P. (16. 01 2023). Verschwörungsmythen: Klaus Schwab, das WEF und der "Great Reset". Von tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/wef-schwab-101.html abgerufen am 21.10. 2023.Universität Bielefeld. (o.J.). Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer. Von ekvv.uni-bielefeld.de: https://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/PersonDetail.jsp?personId=21765 abgerufen am 21.10. 2023.