Die schon im Hochmittelalter einsetzende Differenzierung von Religion und Politik, von sacerdotium und regnum, gehört zu den entscheidenden Triebkräften der europäischen Moderne. Dabei verlief diese 'Differenzierung' höchst vielschichtig und widersprüchlich. Bis weit in das 19. Jahrhundert führte sie in Deutschland nicht zu einem säkularen, sondern eher zu einem konfessionellen Staat. Erst im 20. Jahrhundert entstanden Konzepte einer religionsfreien Politik des Staates, die sich am Leitbild einer 'fördernden Neutralität' gegenüber den Religionen orientieren (Original übernommen).
Alle reden von Solidarität, aber was damit eigentlich gemeint ist, ist heute umstrittener denn je. Als programmatischer Leitbegriff der europäischen Moderne entstand das Konzept der Solidarität im Frankreich des 19. Jahrhunderts und entfaltete sich nicht allein als eine politisch-moralische, sondern – bei Auguste Comte und Émile Durkheim – auch als eine sozialwissenschaftlich-deskriptive Kategorie zur Beschreibung der sich verdichtenden Interdependenzverhältnisse moderner arbeitsteiliger Gesellschaften. Auf dieser Grundlage entwickelte sich um die Jahrhundertwende in Frankreich unter dem Stichwort des solidarisme eine republikanisch-laizistische Reformbewegung, die den Anspruch erhob, mit der Kategorie der Solidarität eine jenseits von Liberalismus und Kollektivismus angesiedelte eigenständige Sozialphilosophie etablieren zu können. Mit beeinflusst vom laizistischen solidarisme Frankreichs entwickelte Heinrich Pesch SJ zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann einen aristotelisch-thomistisch geprägten katholischen Solidarismus, der in der katholischen Soziallehre Deutschlands eine prominente Rolle spielen sollte. Dieser Beitrag rekonstruiert Elemente der neuzeitlichen Begriffsgeschichte der Solidarität und des solidaristischen Denkens in Frankreich und Deutschland und fragt anschließend, inwiefern in der politischen Philosophie des Liberalismus heute ein solidaritätstheoretisches up date des kontraktualistischen Denkens notwendig und möglich ist, das es erlaubt, die 'liberalen Freiheitslektionen' des 18. Jahrhunderts mit den 'solidaristischen Interdependenzlektionen' des 19. Jahrhunderts zu einer solidaritätstheoretisch grundierten Theorie sozialer Gerechtigkeit zu verbinden.
In: Solidarität und Markt - die Rolle der kirchlichen Diakonie im modernen Sozialstaat: Beiträge zum Symposion der Fortbildungs-Akademie des Deutschen Caritasverbandes in Zusammenarb. mit dem Zentralausschuss Theologie und Ethik des DCV und dem Institut für christl. Sozialwissenschaften der Universität Münster vom 04. bis 06. April 2005, S. 42-67
Der Beitrag problematisiert grundsätzlich die Rede von einem 'europäischen Sozialmodell', das im Grunde ein Phantom ist. Vielmehr findet sich eine Vielzahl verschiedener europäischer Sozialtraditionen, deren nicht geringfügige Gemeinsamkeit darin besteht, an einer Gesellschaftsvision jenseits individualistischer Marktwirtschaft einerseits und staatlicher Zentralverwaltungswirtschaft andererseits festhalten zu wollen. Von dieser Gesellschaftsvision in ihren unterschiedlichen Ausprägungen ausgehend schlägt der Autor die öffentliche Erfindung eines europäischen Sozialmodells unter Berücksichtigung des Sozialkatholizismus vor, von der sowohl für die politisch-moralische als auch für die politisch-ökonomische Zukunft Europas eine wertvolle, vielleicht sogar die einzig tragfähige gesamteuropäische Integrations- und Legitimationsressource ausgehen kann. Ein derartig gesamteuropäischer sozialstaatlicher Grundkonsens wird hier anhand folgender Aspekte skizziert: (1) zwei politisch-moralische Grundoptionen (Option für soziale Grundrechte und Option für sozialen Ausgleich); (2) drei politisch-institutionelle Grundoptionen (nichtetatistische Option für den Sozialstaat, solidarische Option für gesetzliche Sozialversicherungen, zivilgesellschaftliche Option für einen korporativen Wohlfahrtsmix). (ICG2)
Der Autor zeichnet einige zentrale Inhalte und Traditionen des Gemeinwohl-Diskurses in der politischen Ideengeschichte Europas nach, um vor diesem Hintergrund die Frage zu erörtern, ob diese altehrwürdige Integrations- und Legitimationsformel des Politischen heute noch tragfähig sein kann. Er skizziert zunächst die Bedeutung des "bonum commune" im hohen Mittelalter, um danach die administrative Etatisierung des Gemeinwohls in der frühen Neuzeit, die Entdeckung der staatsfreien Autonomie des Gemeinwohls in der Aufklärung sowie die wohlfahrtsökonomische Mathematisierung des Gemeinwohls nach dem "Pareto-Optimum" darzustellen. Da seiner Einschätzung nach weder die klassische noch die moderne Gemeinwohlvorstellung überzeugen, diskutiert er abschließend neuere demokratisch-deliberative Ansätze, welche versuchen, die Themen und Probleme des gesellschaftlichen Zusammenhalts normativ zu bewältigen. (ICI)
Vertragslogik und Gesellschaftsverträge aller Art erfreuen sich gegenwärtig besonderer Wertschätzung und im Hinblick auf die politisch-moralischen Legitimationsgrundlagen moderner Gesellschaften konnte die normative Kraft der Vertragssemantik in den letzten 200 Jahren eine Spitzenposition erobern. Mit ihrer Auszeichnung von Freiheit und Gleichheit, rationaler Meinungsbildung und individueller Zustimmung konnte sie - trotz schwerer historischer Niederlagen - alternative Konzeptualisierungen einer gesellschaftlichen Identität entwickeln. Insofern artikulieren sich in der vom politischen Liberalismus erfundenen Rede vom Gesellschaftsvertrag - von ihrer frühliberalen "Blütezeit" über ihr "vorzeitiges Altern" im späten 19. Jahrhundert bis hin zu ihrem überraschenden "zweiten Frühling" in der Gegenwart - elementare Moralgehalte, die kaum aufgekündigt werden können, ohne das Normativitätsprofil der politischen Moderne in seinem Kern zu gefährden. Die liberale Semantik des Gesellschaftsvertrages muss jedoch angesichts der veränderten Komplexitätslagen spätmoderner Gegenwartsgesellschaften durch "postliberale" Konzeptionen und Leitbilder ergänzt und weiterentwickelt werden, wie der Autor mit Blick auf die Herausforderungen einer kontraktualistischen Vernunft zeigt. (ICI2)
In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie: ARSP = Archives for philosophy of law and social philosophy = Archives de philosophie du droit et de philosophie sociale = Archivo de filosofía jurídica y social, Band 91, Heft 2, S. 303-305
Der Beitrag geht am Beispiel der ultramontanen deutschen Katholiken im 19. Jahrhundert der Frage nach den Entstehungs- und Bedingungskontexten eines zivilgesellschaftlichen Musters von Staat und Politik nach. Konkret geht es um die Frage, wie die Mehrheit der katholischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert mit den neuen Herausforderungen der politischen Moderne umging und welche Reaktionsmuster sie gegenüber den oft so fremd und bedrohlich erscheinenden "Zumutungen" von Bürgerlichkeit und Modernität, von Säkularisierung und Verwissenschaftlichung, von Demokratie und Parlamentarismus ausbildete. Nach einem kurzen einführenden Abschnitt zur ultramontanen Bewegung wird exemplarisch an drei typischen ultramontan-katholischen Reaktionsmustern - an der "inszenierten Gegenöffentlichkeit" der Wallfahrten und Katholikentage, am "modernen Antimodernismus" der katholischen Publizistik und an der "indirekten Verstaatsbürgerlichung" vieler Katholiken durch katholische Vereine und Verbände - nachgezeichnet, wie sich das konfliktreiche Verhältnis von Abschottung und Verweigerung, von Annäherung und Integration zwischen antimodernem Katholizismus und modernem Staat entfaltete. Die Ausführungen zeigen insgesamt, dass für die Ausbildung eines zivilgesellschaftlichen Modus von Staat und Demokratie nicht allein oder in erster Linie die wohlwollende staatliche Förderung entsprechender Vereinigungen und Initiativen oder ein breiter bürgerlich-liberaler Konsens in der politischen Kultur der Gesellschaft verantwortlich sind. Vielmehr scheint einiges dafür zu sprechen, dass die vielfach gebrochenen Konflikt- und Begegnungserfahrungen ausschlaggebend sind, die unterschiedliche Staatsbürgergruppen im politischen Prozess miteinander machen, voneinander trennen und zugleich immer auch aneinander binden. (ICA2)
"In der Debatte um die Legitimitätsgrundlagen des Sozialstaates hat Wolfgang Kersting im Jahr 2000 einen vielbeachteten Entwurf einer liberalen Sozialstaatsphilosophie vorgelegt. Kersting, der früher mit der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls sympathisierte, gründet seinen Ansatz nun zentral auf einen 'verdienstethischen Naturalismus', der sich polemisch von allen Formen eines liberalen Egalitarismus absetzt. Der Beitrag zeichnet nach, wie Kersting auf dem Weg von John Rawls' 'Theory of Justice' (1971) über Robert Nozicks 'Anarchy, State, and Utopia' (1974) zu seiner Konzeption eines 'Minimalsozialstaates' gelangt, und er macht deutlich, dass diese Konzeption weder dem Komplexitätsniveau moderner Gesellschaften noch dem Normativitätsprofil des klassischen politischen Liberalismus gerecht zu werden vermag." (Autorenreferat, IAB-Doku)
Wohlfahrtspolitik gehört seit dem 19. Jahrhundert zum Kerngeschäft des modernen Staates, bewegte sich von Beginn an aber auch im Kontext der christlichen Kirchen. Protestantismus und Katholizismus standen an der Wiege des Bismarckschen Sozialversicherungsstaats. Der brüchige Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik und der deutlich robustere Wohlfahrtsstaat der frühen Bundesrepublik wären ohne die Kirchen und ihre Soziallehren nicht denkbar gewesen. Wie aber eine angemessene und kluge Politik der Wohlfahrt genauer bestimmt werden könnte, bleibt Gegenstand von Kontroversen. So setzen sich die Beiträge dieses Bandes mit den normativen Grundlagen des Sozialstaats im Kontext religiöser Traditionen in Zeiten zunehmender Säkularisierung auseinander.
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