Themen: 1. Standard-Trendvariablen: Politikinteresse; eigene Meinungsführerschaft; allgemeine Lebenszufriedenheit; erwartete Verschlechterung bzw. Verbesserung im nächsten Jahr in Bezug auf das Leben allgemein, die wirtschaftliche Situation des eigenen Landes, die finanzielle Situation des eigenen Haushalts, die Arbeitsmarktsituation des eigenen Landes und die eigene berufliche Situation; erwartete Steigerung der finanziellen Ausgaben für die kommenden sechs Monate in den Bereichen Wohnen, Kleidung, Lebensmittel, Gesundheit, Verkehr und Freizeit; Kenntnis der Europaflagge nach Bildvorlage; Zustimmung zur Europaflagge als repräsentatives Symbol; Identifikation mit der Flagge und Wunsch nach einer Präsentation vor öffentlichen Gebäuden; Selbsteinschätzung der Informiertheit über die EU (Skalometer); genutzte und erwünschte Informationsquellen über die EU, ihre Politik und ihre Institutionen; allgemeine Einstellung zur EU-Mitgliedschaft des Landes; Beurteilung der Vorteilhaftigkeit der EU-Mitgliedschaft des Landes allgemein und für den Befragten persönlich; positives oder negatives Image der EU; Vorteilhaftigkeit einer EU-Mitgliedschaft für ein Land bei der Bewältigung von Schäden durch Umweltkatastrophen (Fluten); Einschätzung der derzeitigen und gewünschten Entwicklungsgeschwindigkeit Europas; erwartete und gewünschte Bedeutung der EU für das tägliche Leben des Befragten in fünf Jahren; Kenntnis ausgewählter europäischer Institutionen (Europäisches Parlament, Europäische Kommission, Europäischer Ministerrat, Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, Europäischer Ombudsmann, Europäische Zentralbank, Europäischer Rechnungshof, Ausschuss der EU-Regionen, EU-Ausschuss für Wirtschaft und Soziales, Europäischer Konvent); Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit und der Wichtigkeit dieser Institutionen für die EU; Demokratiezufriedenheit im Land und in Europa; Präferenz für Entscheidungen auf Landesebene oder auf EU-Ebene in den folgenden Bereichen: Verteidigung, Umweltschutz, Währungsfragen, humanitäre Hilfe, Gesundheitswesen, Medien und Pressefreiheit, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, Arbeitslosigkeitsbekämpfung, Agrarpolitik und Fischereipolitik, Unterstützung wirtschaftlich schwacher Regionen, Bildungswesen, Wissenschaft und Forschung, Information über die EU sowie ihre Politik und Institutionen, Außenpolitik, Kulturpolitik, Einwanderungspolitik, Asylpolitik, Bekämpfung des organisierten Verbrechens, Polizei, Justiz, Flüchtlingspolitik, Abwendung von Jugendkriminalität und Kriminalität in Städten, Drogenpolitik, Bekämpfung von Menschenhandel und Ausbeutung, Bekämpfung von internationalem Terrorismus sowie Angehen des Problems der alternden Bevölkerung; Einstellung zu einer gemeinsamen europäischen Währung, Außenpolitik und Verteidigungspolitik; Einstellung zu einer Erweiterung der EU durch die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten; Einstellung zu einer Verantwortlichkeit der EU für Angelegenheiten, die auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene nicht effizient gelöst werden können; Einstellung zu einer Abwahlmöglichkeit des Präsidenten und der Mitglieder der Europäischen Kommission durch eine Mehrheit des Europäischen Parlaments; Einstellung zu einem Schulunterricht über die Arbeit der EU-Institutionen; erwünschte Prioritäten in der EU-Politik und wahrgenommene Effizienz der Problemlösung in Bezug auf folgende Bereiche: Neuaufnahme von Mitgliedsstaaten, Bürgernähe der EU, erfolgreiche Einführung des Euro, Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Arbeitslosigkeitsbekämpfung, Reform von EU-Institutionen, Bekämpfung des organisierten Verbrechens und des Drogenhandels, Stärkung des Ansehens der EU in der Welt, Friedenssicherung und Sicherheit in Europa, Bekämpfung von Terrorismus und illegaler Einwanderung; persönliche Ängste und Befürchtungen (Unfälle in Kernkraftwerken und mit nuklearen Waffen sowie Einsatz von ABC-Massenvernichtungsmitteln, ethnische Konflikte, Weltkrieg, Terrorismus, organisierte Kriminalität, Epidemien); Präferenz für eine nationale, europäische oder NATO-Entscheidungsgewalt über die europäische Verteidigungspolitik; Verbundenheit mit dem Ort, der Region, dem Land und der EU; Selbstwahrnehmung als Europäer oder Angehöriger eines Staates; Befürwortung der bereits erfolgten oder einer möglichen Einführung des Euro; Vertrautheit mit dem Euro.
Außer in Dänemark, Schweden und Großbritannien wurde gefragt: Einschätzung von Preisänderungen durch die Einführung des Euro (Auf- und Abrundungen in allen oder nur in bestimmten Gebieten); Verbundenheit mit dem Euro und mit der ehemaligen Landeswährung.
2. EU-Erweiterung: Befürwortung der EU-Erweiterung; eigene Beteiligung an der politischen Diskussion um die EU-Erweiterung; präferierte neue EU-Mitgliedsstaaten; Einstellungen zur EU-Erweiterung und erwartete Implikationen (Skala); eigene Informiertheit und Informationsquellen über die EU-Erweiterung; eingeschätzte Auswirkungen der EU-Erweiterung auf gesellschaftliche Gruppen des Landes: kleine Unternehmen, Großunternehmer, Bauern, Fischer, Arbeitnehmer, Arbeitslose, junge Leute, alte Leute, ethnische Minderheiten, Großstadtbevölkerung, Landbevölkerung; Einschätzung der Länder Ost- und Zentraleuropas bezüglich der Aspekte Demokratie, Korruption, Wohlstand und Umweltschutz; Einstellung zur Rolle der USA bei folgenden Problemen: Weltfrieden, Kampf gegen Terrorismus, Wachstums der Weltwirtschaft, Armutsbekämpfung und Umweltschutz; Präferenz für eine EU-Verfassung; präferierter Wahlmodus für den Präsidenten der Europäischen Kommission (durch die Staatsoberhäupter bzw. Regierungen der EU, durch eine Mehrheitswahl des Europäischen Parlaments oder durch die EU-Bürger); Einstellung zum Vetorecht der Mitgliedsstaaten bei EU-Entscheidungen; Kenntnistest zur Europäischen Union (Anzahl der Mitgliedsstaaten, Gründungsdatum, Hymne, Europatag, Wählerdefinition zum Europaparlament).
3. Einstellungen zu Finanzdienstleistungen: persönliche finanzielle Prioritäten (Rechnungen zahlen, Altersvorsorge, Kredite abbezahlen, Immobilie bauen, Kinder und Enkel finanziell unterstützen, Vorsorge für den Fall der Arbeitsunfähigkeit und andere Notfälle, Wahrung des Lebensstandards); Bewertung der derzeitigen eigenen finanziellen Situation; Besitz eines Kontos bei einer Bank, Sparkasse, Bausparkasse oder bei der Post mit sowie ohne Scheckkarte; Konto mit Zinseintrag; Besitz von Scheckheft, Kreditkarte und anderen Bankkarten; Vorhandensein einer Lebensversicherung, einer privaten Rentenversorgung, von Aktien, Hypotheken, Anleihen, Anlagefonds, Kredite zum Autokauf und für andere Dinge mit einer Laufzeit von über einem Jahr sowie Vorhandensein eines Dispokredits (Kontoüberziehung); Nutzung von Telefon oder Computer für Zahlungen (Telebanking), Aufträge zu Kontobewegungen u.a. Finanzdienstleistungen; Gründe für eine Nichtnutzung (keine Geldkarte, keine Gelegenheit, fehlende Sicherheit, fehlendes Interesse); bisher genutzte und für die nächsten Jahre erwartete Nutzung von Finanzdienstleistungen aus einem anderen Land der EU: Bankkonto, Kreditkarte, private Rentenversicherung, Autoversicherung, Lebensversicherung, Hypothek, Aktien, Anlagefonds; Hindernisse bei der Nutzung von Finanzdienstleistungen innerhalb der EU (Informationsmangel, schlechte Information, hohes Risiko, mangelndes Geld, zu große Distanzen, mangelnde gesetzliche Regelungen bei Problemen, Sprachprobleme); präferierte Zahlungsmittel bei einer größeren Anschaffung im Inland und in einem anderen EU-Mitgliedsstaat; Begründung der Zahlungsmittelpräferenz; Bereitschaft zur Nutzung einer Geldkarte; wahrgenommene Schwierigkeiten beim Beschaffen von Informationen über den Preisvergleich bei finanziellen Dienstleistungen und Einschätzung der Schwierigkeit, einen Streit mit einer Bank oder Versicherung zu gewinnen (Skala); Einstellung zu Finanzdienstleistungen und Kreditinstituten (Skala); Vertrauen in die nationale Gesetzgebung hinsichtlich von Finanzdienstleistungen; Vertrauen in den Verbraucherschutz und Datenschutz sowie bei Banken in das Telephone Banking und die Internetnutzung; Befürwortung einer Harmonisierung des Verbraucherschutzes in allen Mitgliedsstaaten.
Nur in Dänemark wurde gefragt: Kenntnis und Bedeutung der Präsidentschaft Dänemarks im Ministerrat der EU.
Demographie: Nationalität; Selbsteinschätzung auf einem Links-Rechts-Kontinuum; Familienstand; Alter bei Ende der Ausbildung; Geschlecht; Alter; berufliche Position; Stellung im Haushalt; Beruf des Haushaltsvorstandes; Urbanisierungsgrad; monatliches Haushaltseinkommen.
Zusätzlich verkodet wurden: Interviewdatum und Interviewbeginn; Interviewdauer; Anzahl der beim Interview anwesenden Personen; Kooperationsbereitschaft des Befragten; Ortsgröße; Region; Interviewernummer; Telefonbesitz (Mobiltelefon und Festnetz).
In Luxemburg, Belgien und Finnland: Interviewsprache.
This thesis examines the spread and promotion of English on a global level, from a historical perspective in particular 'Third World' contexts. The globalization of English as an exclusive language of power is considered to be a trap, when accompanied by an ideology aiming to universalize monolingual and monocultural norms and standards. World-wide English diffusion is related - not to any mystical effects of some psycho-social mechanisms or transmuting alchemy - but to a global rise of military, political, economic, communicational and cultural Euro-American hegemony. The fact that the English language has become perhaps the primary medium of social control and power has not been given a prominent place in the analyses of established social scientists or political planners. On the contrary, the positively idealized dominance of English as a universal medium has become part of a collection of myths seeking to deny the global reality of multilingualism. Not allowing for the existence of any power besides itself, the perpetuation of this hegemony of English within a multilingual scenario has become a contradiction in terms. Centuries of colonialism, followed by neo-colonialism, are seen to have resulted in a world-wide consensus favouring centralization and homogenization of state and world economies, administrations, language, education and mass media systems, as prerequisites to local and global unity. The particular case of India as encountered by a colonizing Britain is used to illustrate the historical clash between differing language and educational traditions and cultures. It was on the strength of their own predominantly positive attitudes towards diversity - encoded in their promotion of complex social and religious philosophies, as well as varied economic and educational practices of pluralism and hierarchy-without-imposition, unity in diversity, etc. - that the people and their leaders finally achieved Indian independence from British colonialism. Contemporary Indian society, however, is still grappling with the legacy of a Eurocentric civilizational model - encoded in the neo-colonial system of English education - and in conflict with its own positively idealized and actively promoted traditions of pluralism. On national and international levels, the destabilization and destruction of diversity continues to threaten more than the linguistic and cultural uniqueness of numerous communities and individuals. For those majorities and minorities who refuse to give up their 'differences', political, economic and physical survival is at stake. A paradoxical reality, seldom acknowledged, is that while for the politically and economically already powerful language groups, the enormous resources spent on formal (language) education have become a means to maintain their material and political capital, whereas for the majority of modern societies' marginalized members, powerful linguistic barriers to full economic or political participation remain firmly in place. The justifications for perpetuating exclusionary policies and sustaining structural inequality have come from monocultural ideological assumptions in education and language policies as one of the key mechanisms for state control of labour. This thesis concludes that the trap of an ideologically exclusive status for English can be avoided by theoretically positivizing and institutionally promoting existing multilingual and multicultural peoples' realities as an integral part of their human rights, in order to resist global Englishization. ; Diese Dissertation ist eine kritische Untersuchung der globalen Ausbreitung der englischen Sprache sowie eine Analyse ihrer dominanten Position in bestimmten Kontexten der 'Dritten Welt'1. Die Globalisierung der englischen Sprache als exklusives hegemoniales Medium wird als Falle betrachtet, wenn sie mit einer eurozentristischen Ideologie (Amin 1989) verbunden ist, die aus einem politischen und kulturellen System besteht, das beabsichtigt, seine eigenen monolingualen und monokulturellen Normen zu universalisieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die positiv idealisierte universelle Verbreitung und Vorreiterstellung der englischen Sprache Teil einer Sammlung von Mythen geworden, die die globale Existenz der Mehrsprachigkeit verleugnen. Eine weitere Destabilisierung pluralistischer Sprachen und (politischer und kultureller) Wissensstrukturen könnte in der völligen Zerstörung der Vielfalt enden. Um diesen mächtigen Tendenzen entgegenzuwirken und um der universellen Sprache Englisch als Falle zu entgehen, ist mehr erforderlich als eine bloße Anerkennung der Mehrsprachigkeit. Nur eine aktive Ermächtigung und Förderung sowie der alltägliche Gebrauch einer Vielfalt von globalen und lokalen (machtlosen) Sprachen, Kulturen, Traditionen und Praktiken auf allen Ebenen der Administration, Bildung und im akademischen Diskurs kann ihr Überleben sichern. Der spezifische Fall Indiens in seiner Begegnung mit einem kolonialen England wird benutzt, um den historischen Konflikt zweier Zivilisationen aufzuzeichnen, die in radikal unterschiedlichen Sprachtraditionen im Bereich der Bildung, der Administration, der Justiz und der mündlich und schriftlich überlieferten Literatur verwurzelt sind. Die überwiegend positiven Einstellungen der Menschen und ihrer Herrscher des indischen Subkontinents gegenüber dem Pluralismus beweisen, daß eine kulturell und philosophisch vereinte Gesellschaft, die einen linguistischen und sozialen Pluralismus praktiziert, möglich ist. Die Beispiele politischer und kultureller Zentralisierungstendenzen im frühmodernen Europa, die in gesellschaftlichen Umstrukturierungen auf nationaler und homogenisierender Basis mündeten, dienen als Beispiele des Triumphs hauptsächlich negativer Einstellungen gegenüber der Heterogenität. Diese beiden gegensätzlichen Einstellungen der Kolonisatoren und der Kolonisierten haben die Rolle und den Status des Englischen als koloniale und postkoloniale Sprache tief beeinflußt, und das nicht nur auf dem indischen Subkontinent. Im Kontext eines modernen, unabhängigen Landes, wie Indien es ist, behält das Englische weiterhin seinen Stellenwert auf den höheren Ebenen der Bildung, des akademischen Diskurses und der Verwaltungsstrukturen. Die Gleichberechtigung der Sprachen im Bildungswesen, in der Administration und in der Justiz sowie in anderen wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens setzt die Beteiligung aller Mitglieder (Individuen und Gemeinschaften) einer (pluralistischen) Gesellschaft voraus. Eine solche Gleichberechtigung bedarf ebenfalls einer Debatte über Vor- und Nachteile, Theorien und Praktiken präkolonialer, kolonialer und moderner (offener und verdeckter) Sprachplanung. Diese Dissertation kommt zu dem Ergebnis, daß der exklusive Status des Englischen als Falle durch ein theoretisch-positives Entgegensetzen der mehrsprachigen und multikulturellen Realitäten umgangen werden kann. Diverse Gemeinschaften zusammen mit ihren diversen Sprachen auf unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ebenen zu fördern und als einen integralen Teil der Menschenrechte anzusehen, mag die einzige Möglichkeit sein, der globalen Anglisierung zu widerstehen.
Es wird über eine Befragung der Eltern von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf berichtet, die auf Grund einer Entscheidung, an der die Eltern beteiligt waren, entweder eine integrative Klasse einer Regelschule oder eine Sonderklasse besuchten. Die Erfahrungen von 547 Eltern integrierter Schüler wurden jenen von 207 Eltern der Schüler in Sonderschulen gegenübergestellt. Neben einer insgesamt hohen Zufriedenheit mit den schulischen Erfahrungen ihrer Kinder zeigten sich auch einige Unterschiede zwischen den beiden Elterngruppen. Eltern von Sonderschülern erlebten ihre Kinder in den schulischen Leistungen eher unterfordert, jene im integrativen Unterricht eher überfordert. Die soziale Entwicklung wurde bei Schülern in integrativ geführten Klassen positiver beurteilt und insgesamt war ein größerer Anteil der Eltern von integrativ unterrichteten lernbehinderten Schülern mit ihrer Wahl der Schulform zufrieden. Die Anforderungen an die Unterstützung des Lernens durch die Eltern waren in Integrationsklassen zwar größer als in der Sonderschule, die unterschiedliche Beurteilung der schulischen Erfahrungen war aber nicht allein darauf zurückzuführen. In einem zweiten Schritt wurden zufriedene mit unzufriedenen Eltern verglichen. Dabei zeigte sich, dass bei unzufriedenen Eltern die Wahl der Schulform unter weniger günstigen Bedingungen stattgefunden haben dürfte und dass ein größerer Teil dieser Eltern die Zuweisung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs bei ihrem Kind nicht akzeptiert hatte. Dies galt sowohl für die Eltern der integrativ als auch für jene der in Sonderklassen unterrichteten Schüler. Eine Gruppe, die häufiger unzufrieden war, waren außerdem die Eltern von Schülern mit nicht-deutscher Muttersprache. Zwischen den Eltern von Schülern verschiedener Klassenstufen und aus Bundesländern mit unterschiedlicher Integrationsquote bestanden keine signifikanten Unterschiede. (DIPF/ Orig.) ; The paper presents the results of a survey of 755 parents of learning disabled children with certified special needs who either attended classes within regular education or special schools. All parents were involved in the decision on the school placement of their children. The experiences of 547 parents of learning disabled students in inclusive classes were contrasted with those of 207 parents of children in special schools. Besides a rather high satisfaction with previous school experiences of their children a number of differences between the two groups of parents could be observed. Parents of students in special schools viewed their children as rather little challenged by their educational requirements whereas those in inclusive education found their children to be overtaxed. The social development of the students in inclusive education was judged as more positive and, generally, a higher rate of parents of learning disabled students in inclusive classes were satisfied with their choice of the educational setting. Although the requirements for parental support concerning studying were higher in inclusive classes this cannot solely explain the differences of experiences with school. In a second step, satisfied parents were compared to dissatisfied parents. It could be found that the group of dissatisfied parents had to make their choice on the educational setting of their children under less favourable conditions and many could not accept that their child had been classified as having special needs. This applied to parents of students in inclusive education as well as to parents of children in special schools. Additionally, parents of students with German as a second language reported to be discontented more frequently. No significant discrepancies could be found between different grades or federal states with different quotas of inclusive education. (DIPF/ Orig.)
In der interdisziplinär (pädagogisch-soziologisch-historisch-literaturwissenschaftlich) ausgerichteten Untersuchung stehen die Lebensgeschichten und Bildungserfahrungen von sozialen AufsteigerInnen aus bildungsfernen Herkunftsverhältnissen im Zentrum des Interesses. Auf der Grundlage deutschsprachiger autobiografischer Quellentexte aus insgesamt drei Epochenabschnitten (um 1800, um 1900 und um 2000) wird in einer vielschichtig vergleichenden Perspektive - insbesondere epochen-, sozialschicht- und geschlechterbezogen - sowohl nach den subjektiv empfundenen Entfaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten der BiografieträgerInnen als auch nach den objektiven gesellschaftlichen Chancenstrukturen gefragt. Ein zweiter Forschungsschwerpunkt liegt auf leiblich-sinnlichen Bildungskomponenten. So zeigt sich, dass die analysierte (vertikale) soziale Mobilität häufig einhergeht mit einer spezifischen (Bilde-)Bewegung aus einer eher körperlich-handwerklichen Subsistenzform heraus hin zu einer geistig-intellektuellen Lebensform. Tendenziell ist damit eine Distanzierung von leiblich-sinnlichen Aspekten verbunden. Die Quellenanalyse erfolgt mithilfe des Instrumentariums der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung (qualitative Methoden). Als theoretisch-konzeptioneller Ausgangspunkt dient eine figurationssoziologische Zusammenführung der Zivilisationstheorie von Norbert Elias (historisch-diachrone Perspektive) mit der praxeologischen Theorie von Pierre Bourdieu (synchrone Perspektive auf gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse). Die Auswertung des empirischen autobiografischen Materials bietet ein Erklärungsmodell dafür, weshalb gerade der soziale Aufstieg von "ganz unten", obwohl zur Selbstdefinition moderner demokratisch-meritokratischer Gesellschaftssysteme gehörend, bis in die Gegenwart hinein so selten gelingt. In einer Vielzahl gesellschaftlicher Teilbereiche werden Selektions- und Exklusionsphänomene, aber auch Assimilations-, Partizipations- und Integrationsversuche veranschaulicht. Überdies werden wesentliche Aufstiegsmechanismen zutage gefördert. Der Epochenvergleich lässt einen hohen Grad an Persistenz der Macht- und Herrschaftsverhältnisse und ein Fortbestehen quasi-ständischer Strukturen gerade in Deutschland erkennen. Unter Bezugnahme auf die jüngsten Ergebnisse der Ungleichheitsforschung wird abschließend auf alternative Gesellschaftsmodelle etwa in nordeuropäischen Staaten verwiesen, in denen egalitäre Denk- und Handlungsmuster schon auf wesentlich breiterer Ebene eine Verankerung gefunden haben. ; The interdisciplinary study (pedagogics, sociology, history, literature) looks at the biographies and educational opportunities of social climbers from educationally disadvantaged social strata. In a multi-layered comparative analysis with special reference to historical context, social class and gender, it discusses the possibilities for personal development and participation as seen by the individual concerned as well as objectively detectable and actually present chances of advancement using autobiographical texts from three historical epochs (the periods around 1800, 1900 and 2000). Sensual and bodily aspects of education form a second focus of the present study. The analysis shows that social mobility is often accompanied by a gradual move from a way of life emphasising the physical towards an existence focussing on the intellectual. Social climbers tend to distance themselves from their bodies and sensual needs. Qualitative methods (theory of biography) are used in the analysis of the sources. A merging of Norbert Elias' theory of civilisation (historical and diachrone perspective) and Pierre Bourdieu's praxeological theory (synchrone perspective on present social developments) forms the conceptual framework of the study. The present analysis of empirical autobiographical material sets out to explain why advancement from the very bottom of the social pyramid rarely succeeds even in today's democratic and meritocratic social system. Mechanisms of selection and exclusion as well as attempts at assimilation, participation and integration are demonstrated in a wide range of social situations. In addition, the study uncovers essential mechanisms of advancement. The comparison between historical epochs points to a high degree of continuity with regard to power structures and to the persistence of a hierarchical class system in Germany. Finally, the thesis refers to alternative social systems such as to be found in Northern Europe where recent studies on social inequality have found much more egalitarian structures.
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Was Deutschlands Politiker, Bildungsexperten und Verbände zu den historisch schlechten PISA-Ergebnissen sagen.
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), nannte die PISA-Ergebnisse "besorgniserregend". Eine zunehmend heterogene Schülerschaft stelle das Schulsystem und auch die Lehrkräfte vor enorme Herausforderungen. Zudem zeigten sich weiterhin die Auswirkungen der pandemiebedingten Einschränkungen und Schulschließungen. "Und wir stehen vor der Herausforderung, sicherzustellen, dass jede Schule die notwendigen Mittel erhält, um eine hochwertige Bildung zu gewährleisten. Dies umfasst nicht nur finanzielle Ressourcen, sondern auch die Unterstützung durch qualifizierte Lehrkräfte und zeitgemäße Lehrmaterialien." Alle seien sich einig, dass es jetzt vor allem auf die Stärkung der Basiskompetenzen ankommt, und das möglichst frühzeitig.
Als "besorgniserregend" stufte auch der parlamentarische Staatssekretär im BMBF, Jens Brandenburg (FDP) die PISA-Befunde ein. Die Daten zeigten ein generelles Absinken des Leistungsniveaus. Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg sei in Deutschland nach wie vor stark, gerade auch im Vergleich mit anderen OECD-Staaten. "Wir brauchen dringend eine Trendwende und müssen die Anstrengungen erhöhen, um die Grundkompetenzen aller Schülerinnen und Schüler zu stärken. Und wir brauchen dringend eine gezielte Förderung für die sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen." Mit dem Startchancen-Programm das Bundesbildungsministerium etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler besonders stärken. "Bis zum Ende der Programmlaufzeit wollen wir den Anteil derjenigen, die an den Startchancen-Schulen die Mindeststandards in Lesen, Schreiben und Rechnen verfehlen, halbieren."
Die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Katharina Dröge, und die bildungspolitische Sprecherin Nina Stahr bezeichneten die Ergebnisse als "erneutes Warnsignal für unser Bildungssystem. Nicht nur für die persönliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sind die Daten alarmierend. Auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind sie von hoher Bedeutung, denn die Schüler*innen von heute sind die Fachkräfte von morgen." Statt konjunktureller Debatten über Bildung brauche es eine gemeinsame bildungspolitische Strategie von Bund, Ländern und Kommunen mit gesamtstaatlichen Bildungszielen. "Diese muss unter enger Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Wissenschaft erarbeitet werden. Es ist wichtig, dass die Bildungsministerin diesen Prozess steuert und die Beteiligten an einen Tisch bringt." Nötig sei zudem eine ergebnisoffene Debatte über die Zukunft des Bildungsföderalismus.
Der Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik, Ludger Wößmann, sagte, einen derartigen Rückgang der Bildungsergebnisse hat es noch nie gegeben. "Mittlerweile sind die Leistungen sogar unter das Niveau gefallen, das vor gut 20 Jahren den ersten PISA-Schock ausgelöst hat. Der Rückgang von 25 PISA-Punkten, wie wir ihn gerade in Mathematik gesehen haben, kostet Deutschland langfristig rund 14 Billionen Euro an Wirtschaftsleistung bis zum Ende des Jahrhunderts." Die Verbesserung der schulischen Ergebnisse müsse in Politik, Bildungsverwaltung, Schulen und Familien Vorrang haben.
"Wir brauchen einen fast schon revolutionären Neuanfang in unserem Bildungswesen", forderte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. "PISA 2022 dokumentiert die erschreckenden Ergebnisse der Bildungspolitik. Wenn die Verantwortlichen jetzt nicht umgehend handeln, ist ein Kompetenzverlust nicht mehr aufzuholen", sagte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Die bisherigen Bildungsstandards, aber auch die Ausbildung der Lehrkräfte müssten auf den Prüfstand, MINT-Kompetenzen müssten als Zukunftskompetenzen gezielter gefördert, die Digitalisierung an den Schulen verlässlich und langfristig gesichert werden. "Der Ganztag an Schulen sollte gezielt zur individuellen Förderung genutzt werden. Das sind wir unseren Kindern schuldig."
In einer gemeinsamen Pressemitteilung forderten IG Metall und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall, Schulen müssten Priorität bekommen. "Bildung muss aus den Sonntagsreden raus und rein in echtes Handeln", sagte Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander. "Es ist unverzeihlich, dass die Schulen nicht die Aufmerksamkeit und die Unterstützung bekommen, die sie benötigen." Die Kultusministerkonferenz müsse einen Masterplan Bildung vorlegen. Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, verlangte mehr Unterstützung für die Berufsschulen an, deren technische Ausstattung sei oft mangelhaft, auch die personelle Situation gebe Anlass zur Sorge. "Nötig ist eine Investitionsoffensive an den Berufsbildenden Schulen. Wer hier investiert, investiert in die Zukunft!"
Ein grundsätzliches Verständnis für naturwissenschaftliche und mathematische Zusammenhänge sei Voraussetzung für die Teilhabe am öffentlichen Diskurs – "vom Klimawandel bis zur Impfstoffentwicklung", sagt Michael Fritz, Vorstandsvorsitzender der "Stiftung Kinder forschen". "Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, junge Menschen ohne ausreichend mathematische Kompetenzen von der Schule abgehen zu lassen. Gleiches gilt für die Naturwissenschaften." Naturwissenschaften und gerade auch Mathematik seien nichts, was man auswendig lernen kann. "Kinder lernen diese Dinge am besten, wenn sie damit konkrete Probleme lösen können, die mit ihrem Leben zu tun haben."
Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD kommentierte, die Ergebnisse seien zu erwarten gewesen. "Wir müssen in der öffentlichen Diskussion endlich die Ursachen klar benennen. Nur so wird der Blick frei für Lösungsansätze." Die Ursachen lägen auf der Hand: "Alle Lernstandsuntersuchungen nach dem Jahr 2020 zeigen, dass die lange Zeit der Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen während der Corona-Pandemie zu deutlichen Lernrückständen in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern geführt hat. Zudem hat sich gerade in Deutschland die Schülerschaft deutlich verändert: Die Zahl der Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern hat erheblich zugenommen." Rabe, der die SPD-Bildungspolitik in den Ländern koordiniert, fügte hinzu: Angesichts der veränderten Schülerschaft müssten mehr Zeit und mehr Konzentration für das Erlernen von Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben, Zuhören sowie Mathematik eingesetzt werden. "Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass die Kinder in ihren Familien Lesen, Schreiben und Rechnen durch Übungen festigen. Deshalb haben wir in Hamburg die Übungsprozesse in die Schulzeit integriert." Zudem habe sich es sich bewährt, bereits vor der Schule mit der Förderung beginnen. "Wer in Hamburg mit viereinhalb Jahren nicht altersangemessen spricht, wird bereits mit fünf Jahren schulpflichtig und intensiv gefördert."
"Schlimmer geht doch immer", kommentierte die Bildungspolitikerin Nicole Gohlke (Linke). "Da hilft nur eins: Weg mit den ideologisch verbohrten Brettern vor den Köpfen derer, die an alten Systemfehlern kleben. Weg mit dem Kooperationsverbot." Bund, Länder und Kommunen müssten in die gemeinsame Verantwortung. Bildung muss auf allen Ebenen Chefsache werden. Dem massiven Bildungsfiasko müsse endlich umfangreich und wirksam entgegentreten werden: "Umdenken, sozial gerecht und massiv investieren, Lehren und Lernen in Schule spürbar verbessern, Lehrerbildung reformieren. Wir brauchen eine Ausbildungsoffensive für mehr Lehrkräfte und Erzieher und ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen - und zwar sofort."
Der Philologenverband (DPhV) konnte den Ergebnissen auch Positives abgewinnen. Zum einen sei es gelungen, trotz der Schwierigkeiten während der Corona-Krise den Anteil der Schülerinnen und Schüler in den niedrigsten Kompetenzstufen in allen Kompetenzbereichen unter dem OECD-Durchschnitt zu halten, sagte die DPhV-Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing. Gleichzeitig seien zum Teil sichtbar mehr Schülerinnen und Schüler als im OECD-Durchschnitt in den obersten Kompetenzstufen, zum Beispiel im Bereich der Naturwissenschaften, dabei sei die Leistungsschere nicht weiter aufgegangen. Selbstverständlich könne man zum anderen aber mit der Leistungsentwicklung über die Zeit betrachtet überhaupt nicht zufrieden sein. "Obwohl die Studie schulische Bildungsziele als Gesamtheit nicht ausreichend abbildet, bestätigt sie doch insgesamt leider negative Trends, die wir seit Jahren beobachten." Es sei wichtig, dass die Politik den Fachunterricht wieder zur Priorität erkläre. "Lehrkräfte müssen umgehend und nachhaltig von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden – sie sind weder Hilfskräfte in der Verwaltung, Sozialarbeiter noch Reiseverkehrskaufleute."
Der Deutsche Lehrerverband forderte mehr Anstrengungen für den Bildungsbereich ab der frühkindlichen Bildung. Die Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen seien Schlüssel zu nachhaltigem Bildungserfolg. "Im Vorschulbereich müssen fehlende Sprachbeherrschung und fehlendes Kulturverständnis identifiziert werden. Die Kinder müssen ihren sozial-kulturellen Hintergrund mit der hiesigen Gesellschaft verbinden können." Darauf aufbauend müssten die Grundschulen sich auf die Grundfähigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens als Schlüssel zum nachhaltigen Bildungserfolg konzentrieren – immer in Bezug zur gesellschaftlichen Vielfalt einer freiheitlichen Demokratie. "Angesichts der zahlreichen Baustellen im deutschen Schulwesen – vom Lehrkräftemangel über Lernlücken aus der Corona-Zeit bis hin zu baufälligen Schulgebäuden – braucht es keine Strukturdebatte, sondern Ressourcen für unser bestehendes Bildungssystem."
Die Pisa-Ergebnisse müssten wir die deutsche Politik "ein Weckruf" sein, sagte Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, gleichzeitig stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende. "Wir müssen mehr in Bildung investieren. Wir brauchen ein neues Selbstverständnis! Deutschland muss den Weg vom Sozialstaat zum sozialen Bildungsstaat einschlagen." Über alle Altersstufen hinweg müsse Bildung in den Haushalten von Bund und Ländern priorisiert werden. "Frühkindliche Bildung, Schulbildung, Aus-, Fort und Weiterbildung aber genauso auch Grundlagen- und Spitzenforschung." Deutschland habe sich über Jahrzehnte in ideologischen Debatten über das Schulsystem verheddert, sei spät in der Digitalisierung gewesen und schaffe es trotz der zweithöchsten Lehrergehälter der OECD nicht, genügend qualifiziertes Personal an seine Schulen zu bekommen. "Trotzdem führen wir Debatten über immer neue Verteilungsmechanismen in unserem Sozialstaat. Die Antwort unserer Gesellschaft muss aber lauten: Sozial ist, was Bildungsgerechtigkeit schafft." Der soziale Bildungsstaat müsse als Ideal über allen politischen Debatten stehen.
Zu müde, um erschüttert zu sein?
Deutschlands Neuntklässler erreichen bei der neuen PISA-Studie historisch niedrige Testwerte. Was das bedeutet – und warum ein neuer PISA-Schock vermutlich trotzdem ausbleiben wird. (05. Dezember 2023) >>>
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Im Schuljahr 2017/18 wurden in Deutschland rund 317.000 Schülerinnen und Schüler in Förderschulen (Sonderschulen) unterrichtet. Die Förderschule stellt damit für rund 60% der Schülerschaft mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf den zu besuchenden Unterrichtsort dar. Trotz dieser hohen Zahlen an Förderschülern stehen die realen Organisationsbedingungen an den Förderschulen jedoch kaum im Blickfeld sonderpädagogischer Forschung. Inhalt dieser Arbeit ist es daher, differenziert nach sonderpädagogischen Förderschwerpunkten die Entwicklung des Förderschulwesens hinsichtlich seiner realen Organisationsbedingungen vor dem Hintergrund nationaler bildungspolitischer Empfehlungen aufzuarbeiten. Die Datengrundlage bilden hierzu auf der einen Seite Veröffentlichungen nationaler Akteure im Schulwesen wie insbesondere der KMK und des Sonderschulverbandes VDS (heute: Verband Sonderpädagogik e.V.) sowie auf der anderen Seite die amtlichen Daten der Schulstatistik des Bundes und der Länder sowie die KMK-Statistik zum Sonderschulwesen. Die bildungspolitischen Empfehlungen werden mit der realen Entwicklung in den einzelnen Förderschwerpunkten verglichen. Damit wird der sonderpädagogischen Forschung eine datenorientierte Untersuchung der Entwicklung des Förderschulwesens hinzugefügt, die ergänzt wird durch weitere Analysen wie den Anteil an Heimschulen oder die Bedeutung der Privatschulen. Abschließend werden Erweiterungen der statistischen Datenbasis erarbeitet, um die Organisationsbedingungen an Förderschulen konkreter abzubilden. Es wird darüber hinaus auch auf statistische Bedarfe zur zukünftigen Abbildung der inklusiven sonderpädagogischen Förderung verwiesen. (DIPF/Orig.) ; In the school year 2017/18, about 317,000 students with ascertained "special educational needs" have been taught in "special schools" (german: "Sonderschule" or "Förderschule") in Germany. These special schools are still the place of study for about 6 of 10 of all students with special educational needs. Despite these high numbers of students, the actual organizational conditions at the special schools are hardly in the focus of special pedagogical research. The content of this thesis, therefore, is to elaborate on the development of the special education system with regard to its real organizational conditions in the light of national educational policy recommendations (Western Germany). On the one hand the database consists of publications by national actors in the school system, in particular the KMK (Standing Conference of the Ministers of Education and Cultural Affairs of the Länder) and the special education association VDS (today's name: Verband Sonderpädagogik e.V.), and on the other hand it consists of the official school statistics data of the Federal Statistical Office and the statistical offices of the Länder as well as the statistics on special education of the KMK. The educational policy recommendations are being compared to the real development. This is done for each defined individual main area of support. Thus, special-purpose research is added to the existing pedagogic research. The research is supplemented by further analyses, such as the proportion of boarding schools or the importance of private schools. Finally, extensions to the statistical database will be developed in order to more specifically illustrate the learning conditions at special schools. Further, reference is also made to statistical needs for the future mapping of the inclusive special educational support. (DIPF/Orig.)
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Der IQB-Bildungstrend zeigt: Innerhalb von sieben Jahren ist die Deutschkompetenz von Neuntklässlern auf den Stand abgerutscht, den 2015 Siebt- und Achtklässler hatten. Dafür gibt es viel mehr Jugendliche, die richtig gut Englisch können – trotz der Corona-Schulschließungen. IQB-Direktorin Petra Stanat über die Suche nach den Ursachen – und die Gestaltungsaufgaben der Bildungspolitik.
Petra Stanat ist Psychologin, Bildungsforscherin und seit 2010 Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Foto: IQB Berlin.
Frau Stanat, nach 2009 und 2015 hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zum dritten Mal im Auftrag der Kultusminister die sprachlichen Kompetenzen der Neuntklässler in Deutschland überprüft. Jetzt liegen sie vor, die Ergebnisse des "IQB-Bildungstrends 2022". Sind irgendwelche Überraschungen dabei?
Für mich persönlich zum Teil schon. Ich hatte zwar erwartet, dass es wie im vergangenen Jahr im IQB-Bildungstrend für die Grundschulen auch in der neunten Jahrgangsstufe einen Rückgang in den erreichten Kompetenzen geben würde, allein schon wegen des Ausfalls von Präsenzunterricht und anderen Einschränkungen während der Corona-Zeit. In Deutsch mussten wir diesen
Rückgang jetzt tatsächlich auch feststellen, und zwar in allen drei untersuchten Kompetenzbereichen Lesen, Orthografie und Zuhören. Womit ich aber nicht gerechnet hatte: dass er in Deutsch derart heftig ausfällt. Und was mich noch mehr überrascht hat: dass die Schülerinnen und Schüler fast spiegelbildlich in Englisch so stark zulegen würden, sogar ebenso stark wie zwischen 2009 und 2015, als wir keine Pandemie hatten. Das ist ein bemerkenswerter Befund.
"Ein Lernrückstand zwischen einem und zwei Schuljahren im Vergleich zu 2015."
Wie heftig ging es denn runter in Deutsch und wie kräftig nach oben in Englisch?
In Deutsch beträgt der Rückgang zwischen den Jahren 2015 und 2022 im Lesen 25 Kompetenzpunkte, in der Orthografie 31 Punkte und im Zuhören sogar 44 Punkte. Wenn man das in Unterrichtzeit umrechnet, was allerdings in der Sekundarstufe schwierig ist, entspricht das je nach Kompetenzbereich einem Lernrückstand zwischen einem und zwei Schuljahren im Vergleich zu 2015.
Nur zur Klärung: Das heißt, heutige Neuntklässler sind in Deutsch auf dem Stand, den 2015 Siebt- oder Achtklässler hatten?
Wie gesagt: Diese Umrechnung ist aus verschiedenen Gründen nicht exakt, deshalb sollte man sie nicht allzu wörtlich nehmen, aber richtig ist in jedem Fall: Wir sprechen von einer massiven Verschlechterung der Ergebnisse in Deutsch. Umgekehrt erreichten die Schülerinnen und Schüler in Englisch im Leseverstehen im Schnitt 22 Punkte und im Hörverstehen 23 Punkte mehr, was wiederum etwa der Lernzeit von einem halben Schuljahr gleichkommt. Auch das ist erstaunlich viel. >>>
Stichproben, Risikogruppen und Länder-Unterschiede: die IQB-Ergebnisse in der Zusammenfassung
Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends basieren auf repräsentativen Stichproben in allen 16 Bundesländern, die insgesamt mehr als 35.000 Neuntklässler umfassten. Untersucht wurden 2022 die Kompetenzen in Deutsch, Englisch und (in einzelnen Bundesländern) Französisch, die Testaufgaben orientierten sich an den KMK-Bildungsstandards.
In Deutsch verfehlten im Kompetenzbereich Lesen fast 33 Prozent aller Schüler den Mindeststandard, der als Untergrenze für den Mittleren Schulabschluss (MSA) angesetzt wird, im Zuhören 34 Prozent und in der Rechtschreibung 22 Prozent, jeweils ein massiver Anstieg gegenüber der letzten Messung von 2015. Auch die durchschnittlichen Kompetenzen aller Neuntklässler rutschten ab, je nach Bereich um 25 bis 44 Punkte, was laut IQB-Direktorin Stanat grob dem Stoff von ein bis zwei Schuljahren entspricht. Der Rückgang betraf in unterschiedlicher Stärke fast durchgängig alle Bundesländer.
Genau umgekehrt verlief die Entwicklung in Englisch. Im Leseverstehen ging es im Vergleich zu 2015 um 22, im Hörverstehen um 23 Kompetenzpunkte hoch, wobei fast alle Länder einen positiven Trend verzeichneten. Damit setzt sich die seit 2009 beobachtete Aufwärtsbewegung fort.
Allerdings wurde die Risikogruppe derjenigen Schüler, die die Mindeststandards verfehlen, nicht in gleichem Maß kleiner, was laut IQB darauf hinweist, dass die Kompetenzsteigerung besonders bei den mittelguten und den leistungsstarken Schülern stattgefunden hat. Immer noch liegen 24 Prozent der Neuntklässler unterhalb der MSA-Mindestanforderungen für Englisch im Leseverstehen und 14 Prozent im
Hörverstehen. Immerhin: Legt man die geringeren Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss (ESA, früher Hauptschulabschluss) an, verfehlen diese beim Lesen weniger als neun und beim Hörverstehen weniger als zwei Prozent aller Schüler.
Am besten fielen die Deutsch-Ergebnisse erneut in Bayern und Sachsen aus, die Risikogruppen waren auch in Sachsen-Anhalt sowie teilweise in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen vergleichsweise klein. Besonders schwach schnitten laut IQB nahezu durchgängig Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen ab. Erfreulich: In Englisch gelingt es den meisten Ländern, den Anteil der Schüler unterhalb der ESA-Mindeststandards auf dem deutschen Durchschnittsniveau zu halten. Im Schnitt besonders gute Ergebnisse erreichen die Neuntklässler in Bayern und Hamburg sowie in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Auffällig ist, dass in Englisch wie schon 2015 die ostdeutschen Bundesländer gegenüber dem Westen schlechter da stehen als der Westen.
In der Gesamtbetrachtung beider Fächer liegen neben Bayern die Länder Baden-Württemberg und Hamburg jeweils in mehreren Kompetenzbereichen statistisch signifikant über dem Bundesdurchschnitt.
Eine gute Nachricht noch am Ende: Angesichts der aktuell sehr negativ geprägten Diskussion über den Lehrerberuf, sagt IQB-Direktorin Stanat, "hat mich der Befund erfreut, dass mehr als 70 Prozent der Lehrkräfte sagen, dass sie sehr zufrieden mit ihrer Berufswahl sind." Politik, Gesellschaft und gerade auch die Lehrerverbände müssten aufpassen, dass sie den Beruf nicht systematisch schlecht redeten, warnt Stanat.
>>> Sie geben beim Bildungstrend zusätzlich den Anteil der Schülerinnen und Schüler an, die die Mindeststandards verfehlen. Was genau bedeutet das?
Die Kultusministerkonferenz hat auf Grundlage der Bildungsstandards auch festgelegt, was Kinder und Jugendliche in bestimmten Klassenstufen mindestens können sollten in Deutsch, Englisch und anderen Fächern. Also im Sinne einer Untergrenze, die von allen erreicht werden sollte, um erfolgreiches Weiterlernen und Teilhabe zu ermöglichen. Dabei wird nach dem angestrebten Schulabschluss unterschieden. Das absolute Minimum ist der Mindeststandard für den früheren Hauptschulabschluss, der heute als Erster Schulabschluss bezeichnet wird. Den sollten wirklich alle erreichen.
Wer diesen Mindeststandard nicht beherrscht, kann nicht richtig lesen, rechnen oder schreiben?
Vereinfacht kann man das so sagen. Zumindest wird ohne das Beherrschen der Mindeststandards ein erfolgreicher Übergang in eine Berufsausbildung und gesellschaftliche Teilhabe deutlich erschwert sein. Und wir sehen, dass je nach Kompetenzbereich in Deutsch acht bis 18 Prozent der Jugendlichen dieses Minimum nicht mehr erreichen. Legen wir die höheren, aber immer noch sehr moderaten Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss an, verfehlen diese im Lesen und Zuhören inzwischen ein Drittel der Neuntklässler in Deutschland. In der Orthografie ist es gut ein Fünftel. Da inzwischen sehr viele Berufe den mittleren Schulabschluss erfordern, ist auch diese Gruppe zu groß und im Vergleich zu 2015 stark gewachsen: je nach Kompetenzbereich und Abschlussart um vier bis 16 Prozentpunkte – wobei die Leistungen im Zuhören besonders kräftig abgefallen sind, das war schon im Bildungstrend für die Grundschule der Fall.
"Deutlich mehr Jugendliche,
die richtig gut Englisch können."
Geben Sie bitte ein konkretes Beispiel für eine Aufgabe, die ich richtig beantworten muss, um den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss zu erfüllen.
Zum Beispiel lesen die Jugendlichen einen 70 Wörter umfassenden Text über die Seidenstraße, in dem wörtlich steht, dass es sich um die wichtigste Handelsroute zwischen Asien und Europa handelte. Dennoch wird zur Frage, "Was war die Seidenstraße laut Text?" nicht mit hoher Sicherheit die Antwortalternative "ein Handelsweg zwischen Asien und Europa" angekreuzt. Oder bei einer Korrekturaufgabe zur Orthografie wird in dem Satz "Das rote Auto hate das Kennzeichen MM-NB 612" nicht mit hoher Sicherheit das Wort "hate" korrigiert.
Sehen wir wenigstens umgekehrt, dass die Risikogruppen in Englisch kleiner geworden sind?
Sie sind zumindest nicht größer geworden. Die Kompetenzverbesserungen, die wir insgesamt beobachten, sind vor allem im mittleren und oberen Leistungsbereich festzustellen. Diejenigen Jugendlichen, die den Mittleren Abschluss anstreben, erreichen zu deutlich höheren Anteilen die Regelstandards und sogar die sogenannten Optimalstandards, hier sehen wir einen Anstieg in den Prozentwerten um zehn bis 14 Prozentpunkte. Anders formuliert: Im Vergleich zu 2015 gibt es heute deutlich mehr Jugendliche, die richtig gut Englisch können.
"Der Trend in Deutsch zeigt auch bei den nicht zugewanderten Jugendlichen nach unten. Es ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig, das festzuhalten."
So erfreulich die Entwicklung in Englisch ist: Die Bildungsdebatte der nächsten Tage wird sich vermutlich um die dramatisch schlechteren Ergebnisse in Deutsch drehen. Die Kultusminister könnten sagen, schuld sei nicht die Bildungspolitik, sondern verantwortlich seien die Corona-Schulschließungen und die Flüchtlingsströme seit 2015.
Da ist ja bestimmt auch etwas dran, nur wissen wir nicht, welchen Einfluss genau Corona hatte, das können wir nicht messen. Dafür, dass die Pandemie eine erhebliche Rolle gespielt hat, spricht jedoch, dass wir in praktisch allen Bundesländern unabhängig von ihrer Ausgangslage eine deutlich negative Entwicklung beobachten. Gleichzeitig erzielten neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler erneut signifikant schwächere Ergebnisse als der Durchschnitt, und der Anteil dieser Schülerinnen an der Gesamtschülerschaft in Deutschland ist seit 2015 um fünf Prozentpunkte auf insgesamt neun Prozent gestiegen. Wahr ist aber auch: Selbst wenn wir statistisch so tun, als hätte sich die Zusammensetzung der Schülerschaft seit damals nicht verändert, zeigt der Trend trotzdem eindeutig nach unten. Und auch bei den Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sehen wir in Deutsch einen Kompetenzrückgang, wenn auch weniger stark. Es ist in der aktuellen Debatte sehr wichtig, das festzuhalten.
Wirkt sich hier der vielerorts extreme Lehrkräftemangel aus?
Das können wir anhand unserer Daten nicht untersuchen. Eigentlich wollten wir uns ansehen, ob Schülerinnen und Schüler, die von nicht traditionell ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden, weniger gute Ergebnisse erzielen. Aber diese Auswertung ist daran gescheitert, dass die Gruppe der Quer- und Seiteneinsteigenden in den sprachlichen Fächern immer noch vergleichsweise klein ist: Von den etwa 1250 befragten Lehrkräften in unserer Studie betrifft das nur 40 Deutsch- und 59 Englischlehrkräfte. Der Anteil der Berufsanfänger, die ohne reguläres Lehramtsstudium unterrichten, steigt zwar, aber auf die Ergebnisse des Bildungstrends 2022 dürfte sich das kaum ausgewirkt haben.
Eben sagten Sie, die durchschnittlichen Kompetenzen seien in praktisch allen Bundesländern gesunken, aber es gibt schon noch deutliche Unterschiede, oder?
In der Tat kann man einige Länder herausheben. Hamburg zum Beispiel, das sich in den vergangenen 13 Jahren sukzessive hochgearbeitet hat, 2009 noch zu den Schlusslichtern zählte und jetzt in Deutsch im Mittelfeld liegt, in Englisch teilweise mit an der Spitze. Und das bei einem sehr hohen Anteil an Einwandererkindern wohlgemerkt. Erstaunlich finde ich auch, dass in Baden-Württemberg in mehreren Kompetenzbereichen wieder etwas bessere Ergebnisse erzielt werden als in Deutschland insgesamt. Auf die enttäuschenden Ergebnisse früherer Bildungstrends hat dieses Land strategisch reagiert, und vielleicht zeichnet sich hier schon eine Trendwende ab. Das lässt sich jetzt aber noch nicht mit Sicherheit sagen.
"Die Dynamik in Baden-Württemberg hat mich beeindruckt. Sogar der Ministerpräsident hat sich intensiv mit den Ergebnissen beschäftigt."
Baden-Württembergs damalige Kultusministerin Susanne Eisenmann hatte die Losung ausgegeben, von Hamburg lernen zu wollen.
Eine genaue Ursache-Wirkungs-Analyse kann ich Ihnen leider nicht bieten, nur einen Eindruck: Nach Veröffentlichung des Bildungstrends 2015 bin ich sehr oft nach Baden-Württemberg eingeladen worden, und es fanden dort viele bildungspolitische Diskussionen statt, unter Beteiligung von Politik, Administration, Schulpraxis, Bildungsforschung und Verbänden. Sogar der Ministerpräsident hat sich intensiv mit den Ergebnissen beschäftigt. Man war sich einig, dass etwas passieren muss. Diese Dynamik, die unter anderem in der Gründung von zwei Instituten mündete, die Bildungsprozesse wissenschaftlich fundiert unterstützen sollen und sehr überzeugende Arbeit leisten, hat mich beeindruckt.
Beeindruckend ist allerdings auch, wie sich Länder wie Bayern oder Sachsen von Mal zu Mal weit vorn halten. Wie ist das zu erklären?
Diese Frage stellt sich bei jedem Bildungstrend, und ehrlich gestanden habe ich darauf immer noch keine guten Antworten. Ein Faktor ist sicher, dass der Anteil zugewanderter Schülerinnen und Schüler in diesen Ländern geringer ist als in vielen der anderen Länder, vor allem in Sachsen. Das sieht man ansatzweise in Analysen, in denen wir statistisch so tun als wäre die Schülerschaft in allen Ländern so zusammengesetzt wie in Deutschland insgesamt, bezogen auf den sozioökonomischen und den zuwanderungsbezogenen Hintergrund. Dann schrumpft der Vorsprung in den erreichten Kompetenzen für Sachsen und Bayern etwas, er verschwindet aber keineswegs. Es müssen also weitere Faktoren eine Rolle spielen. Vielleicht ein besonders ausgeprägter Konsens darüber, dass Lernerfolg in grundlegenden Kompetenzbereichen wirklich zentral ist und auf sich abzeichnende Probleme reagiert werden muss. Und in Bayern hatte ich immer wieder den Eindruck, dass einmal getroffene bildungspolitische Entscheidungen von einer gut funktionierenden Bildungsverwaltung umgesetzt werden und in der Praxis auch ankommen. Wenn die bildungspolitischen Entscheidungen fundiert und zielführend sind, ist das natürlich von Vorteil. Aber das sind wirklich nur Spekulationen, die auf subjektiven Eindrücken und Gesprächen basieren.
Sie haben den Einfluss der Corona-Pandemie auf den Schulbetrieb erwähnt, den teilweise viele Wochen langen Distanzunterricht zum Beispiel. Wie kann es sein, dass der in Deutsch offenbar zum Absturz beigetragen hat – in Englisch die Leistungen aber hochgegangen sind, als sei nichts passiert?
Der Anstieg der Kompetenzen war im Zeitraum von 2015 bis 2022, in dem die Corona-Pandemie lag, sogar genauso groß wie von 2009 bis 2015. Auch hier kann ich im Moment nur spekulieren, weil wir uns in Ruhe anschauen müssen, wie sich die Sprachnutzung bei außerschulischen Aktivitäten verändert hat. Denn die Annahme liegt ja nahe, dass die Schülerinnen und Schüler auf Englisch Videos und Serien anschauen, Computerspiele spielen und im Internet unterwegs sind. Und genau diese Aktivitäten dürften während der Pandemie zugenommen haben. Das könnte mit dazu beigetragen haben, dass die Schülerinnen und Schüler in diesem Zeitraum ihre englischsprachigen Kompetenzen weiter gesteigert haben.
"Guter Englischunterricht schafft die Voraussetzungen, dass die Schülerinnen und Schüler von ihrer Internetnutzung profitieren können."
Das klingt so, als sei die Zeit mit Videogucken oder Daddeln besser angelegt gewesen als mit Schulunterricht?
Das wäre sicher übertrieben. Denn natürlich braucht man einen guten Englischunterricht, der die Grundlagen dafür schafft, dass Schülerinnen und Schüler von der Internetnutzung und anderen Aktivitäten auf Englisch profitieren können. Der Englischunterricht ist heute viel kompetenzorientierter als früher. Übrigens zeigt sich in einer unserer Analysen, dass Unterricht, der fachfremd, also nicht von einer Englischlehrkraft erteilt wird, mit einem niedrigeren Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler einhergeht. Ein weiteres Indiz dafür, dass guter Englischunterricht wichtig ist.
Aber auch nach Ihrer Ehrenrettung des schulischen Englischunterrichts bleibt festzuhalten: Die Behauptung, viel Zeit online wirke sich automatisch negativ auf die Schulnoten aus, ist vermutlich falsch.
Eine Fremdsprache lernt man durch ihre Nutzung – so, wie man Lesen durch Lesen lernt. Und weil die Schülerinnen und Schüler unter anderem online erleben, wie wichtig gute Englischkenntnisse sind, wie viele neue Inhalte sie sich mit Englisch erschließen können, dürfte das ihre Motivation gewaltig steigern. Hierin liegt ein weiterer großer Unterschied zum Deutschunterricht, für den wir eine vergleichsweise niedrige Lernmotivation bei den Neuntklässlern finden – das Fach kann offenbar nur wenige Jugendliche für sich begeistern. Das Interesse am Englischunterricht ist viel höher ausgeprägt.
Vorhin haben Sie darauf hingewiesen, dass eingewanderte Kinder deutlich schwächere Kompetenzen erreichen als der Durchschnitt. Deutschland gilt insgesamt als ein Land, in dem die soziale Herkunft stark über den Bildungserfolg entscheidet. Spiegelt sich das auch im IQB-Bildungstrend 2022 wider?
Leider ja. Die Disparitäten haben weiter zugenommen. Die negative Entwicklung im Fach Deutsch ist bei sozioökonomisch benachteiligten Jugendlichen im Schnitt stärker ausgefallen, auch der Rückstand der neu eingewanderten Schülerinnen und Schüler hat sich vergrößert. In Englisch wiederum haben Jugendliche aus sozioökonomisch besser gestellten Elternhäusern besonders stark zugelegt, die soziale Schere geht also auch hier weiter auf. Aber ein erfreuliches Ergebnis möchte ich noch erwähnen: Jugendliche, die zu Hause nicht immer Deutsch sprechen, haben zwar Nachteile in Deutsch, aber Vorteile in Englisch. Dies bestätigt, dass sich Mehrsprachigkeit auf den Erwerb weiterer Sprachen positiv auswirken kann – der Zusammenhang hat sich auch schon in früheren Studien gezeigt.
Insgesamt aber gilt: Deutschland entfernt sich weiter vom Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen – obwohl die Bildungspolitik seit vielen Jahren das Gegenteil beschwört?
So ist es.
"Besteht tatsächlich bei allen Akteuren
Einigkeit darüber, dass es brennt?"
Bildungspolitik und Öffentlichkeit werden angesichts der Ergebnisse natürlich wissen wollen, was zu tun ist. Wie lautet Ihre Antwort?
Zunächst müssen sich alle Akteure im Bildungssystem darüber einig sein, dass diese grundlegenden Kompetenzen wirklich grundlegend sind und dass wir alles dafür tun müssen, damit die Mindeststandards erreicht und gesichert werden.
Haben wir den Konsens nicht längst?
Einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Lesen, Schreiben, Mathematik wichtig sind, haben wir schon, denke ich. Auch die alten Debatten, in denen die Förderung dieser Kompetenzen und die Entwicklung sozialer Kompetenzen als Gegensatz darstellt wurden, haben wir zum Glück weitgehend hinter uns gelassen. Genauso wie die Stimmen, die Kompetenzmessungen und Sicherung von Standards als überzogenen Leistungsdruck betrachtet haben. Aber besteht tatsächlich bei allen Akteuren Einigkeit darüber, dass es brennt und wir trotz schwieriger Rahmenbedingungen dringend dafür sorgen müssen, dass wirklich alle Kinder und Jugendlichen die grundlegenden Kompetenzen erwerben, die sie benötigen, um sich gut weiterentwickeln zu können? Da bin ich mir nicht sicher.
Wie erreichen wir diese Einigkeit?
Dazu ist es unter anderem erforderlich, dass regelmäßig geschaut wird, wie sich die Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen entwickeln, inwieweit sie besondere Förderung benötigen und ob die Förderung gegriffen hat. Stichwort "Kultur des Hinschauens" durch datengestützte Unterrichtsentwicklung, die selbstverständlicher Bestandteil von Professionalität werden muss. Das hat ein Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK jüngst für die Grundschule beschrieben. Oder nehmen Sie die frühkindliche Sprachförderung, die schon so lange Thema ist. Hier hat sich zwar schon einiges getan, aber von einer systematischen Umsetzung in der Fläche sind wir noch weit entfernt. Und wir müssen uns dringend mit der Frage beschäftigen, wie die Sprachförderung für Kinder und Jugendliche zu gestalten ist, die mit geringen Deutschkenntnissen ins System kommen. Hier ist in den vergangenen Jahren nach den großen Fluchtbewegungen ad hoc viel geleistet worden, aber wir werden ja weiter Zuwanderung haben und müssen diese Förderung jetzt systematischer aufsetzen und begleiten. Alles anspruchsvolle Entwicklungen, die natürlich Zeit brauchen. Aber die Ergebnisse des Bildungstrends zeigen erneut, dass wir dringend vorankommen müssen.
Bund und Länder werden auf das geplante "Startchancen"-Programm verweisen als ihren Beitrag zur Lösung der Probleme.
Das "Startchancen"-Programm ist dann eine Chance, wenn es wirklich fokussiert wird auf die evidenzbasierte Förderung grundlegender Kompetenzen in Deutsch und Mathematik. Dafür müssen Bund und Länder bei ihrer Ankündigung bleiben, die "Startchancen" wissenschaftlich begleiten und evaluieren zu lassen. Denn eines darf nicht passieren: dass das Programm in Maßnahmen zerfasert, für die es keinen soliden Grund zur Annahme gibt, dass sie wirken.
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Und jetzt?
Welche Erklärungen Politiker aus Bund und Ländern für den Abwärtstrend bei den Schülerleistungen haben – und was sie jetzt tun wollen. (13. September 2023) >>>
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Der neue OECD-Bildungsbericht zeigt: Deutschlands soziale Polarisierung spiegelt sich auch in seinem Bildungssystem wider. Wie Bund und Länder reagieren – und was sich tatsächlich aus den Ergebnissen lernen ließe.
Illustration: pinterastudio / pixabay.
BUND UND LÄNDER IN A NUTSHELL: Als am Dienstag der Industriestaatenverband OECD seinen jährlichen Bildungsvergleich "Bildung auf einen Blick" präsentierte, kommentierte BMBF-Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP): "Es ist alarmierend, dass der Anteil gering qualifizierter junger Erwachsener in Deutschland erneut gestiegen ist." Es brauche daher dringend eine bildungspolitische Trendwende. Mit dem geplanten Startchancen-Programm wolle man "den großen Hebel" ansetzen. Anschließend lobte er die berufliche Bildung als "ausgezeichnet".
Während Torsten Kühne (CDU), Vorsitzender der KMK-Amtschefskonferenz und Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung, mit dem Lob der beruflichen Bildung in Deutschland anfing, die "weltweit großes Ansehen" genieße und führe in vielen Bereichen "zu erfreulichen Ergebnissen" führe. Um dann zu sagen: "Besondere Sorge bereitet uns, dass der Anteil der gering qualifizierten Erwachsenen angestiegen ist." Es bleibe eine "kontinuierliche Aufgabe, unsere Bildungslandschaft weiter zu verbessern, um sicherzustellen, dass alle jungen Menschen in Deutschland die besten Bildungschancen erhalten".
Zwischen Alarmismus und Allgemeinplätzen
Sowohl der alarmistische Ton des Bundes (der überwiegend von der Medienberichterstattung aufgegriffen wurde) als auch die betont nüchterne, in Allgemeinplätze mündende Rhetorik aus den Ländern reflektieren den Zustand des deutschen Bildungswesens. Dazu das Selbstverständnis seiner politischen Akteure. Und die Beziehung, die sie im Moment zueinander pflegen.
Zuerst aber einige wichtige OECD-Ergebnisse und was sie bedeuten.
Erstens: Im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Ländern bis auf Tschechien stieg in Deutschland der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Berufsausbildung oder Abitur zwischen 2015 und 2022: um drei Prozentpunkte auf 16 Prozent. Das ist viel. Und ja, das kann auch mit dem Zustrom an Geflüchteten in den vergangenen Jahren zu tun haben, von denen viele in diese Altersgruppe fallen und keinen entsprechenden Abschluss mitbringen konnten. Aber als alleinige Erklärung taugt das nicht, wie der Verweis auf Schweden zeigt. Dort ging der (in den Jahren vorher stark gestiegene) Prozentwert junger Leute ohne mindestens Sekundarstufe-II-Abschluss seit 2015 um drei Prozentpunkte auf 15 herunter – obwohl Schweden noch 2015 und 2016 auf die Bevölkerung bezogen sogar mehr Menschen aufnahm als Deutschland. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Schweden seit 2016 den Zugang für Geflüchtete extrem erschwert hat.
Zweitens: Zu den großen Erfolgsgeschichten der Bildungspolitik zählt, dass Deutschland bei den akademischen Abschlüssen seinen lange gewaltigen Rückstand weiter aufholt. 2022 hatten 37 Prozent einen Hochschulabschluss (in der OECD insgesamt 47 Prozent), sieben Prozentpunkte mehr als 2015. Bemerkenswert ist, dass sich in der Bundesrepublik erst jetzt die Schere zwischen den Geschlechtern öffnet, die aus vielen anderen Ländern lange bekannt ist. Akademiker-Anteil bei den Männern: 35 Prozent (+6); bei den Frauen: 40 Prozent (+9).
Drittens: So viel in Deutschland im vergangenen Jahr über die sogenannten NEETs diskutiert wurde, also über junge Menschen, die sich weder in Ausbildung befinden noch einen Job haben: Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik hier noch unter dem Schnitt, mit je nach Bildungsstand fünf bis 12 Prozent der 25- bis 29-Jährigen. OECD: 10 bis 17 Prozent, Frankreich 10 bis 22 Prozent. Griechenland, das die schlechtesten Wert aufweist, erreicht gar bis 33 Prozent.
Viertens: Deutschland investiert für seine Schüler und Studierenden pro Kopf rund 15.800 Dollar und übertrifft damit das Mittel der OECD-Länder um etwa 3.100 Dollar. Weniger schmeichelhaft wird die Statistik, wenn man die Aufwendungen ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung setzt: 4,6 Prozent – ein satter halber Prozentpunkt weniger als der internationale Durchschnitt. Schaut man auf diejenigen Länder mit den führenden Bildungs- und Wissenschaftssystemen weltweit, wird der Unterschied eklatant. Israel: 6,4 Prozent, Schweden: 5,7 Prozent, Großbritannien: 6,3 Prozent. Und ja, im Fälle Großbritanniens liegt das auch am sehr gebührenlastigen Hochschulsektor, aber nicht nur. Für das übrige Bildungssystem verwendet das Vereinigte Königreich 4,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung – und Deutschland 3,3 Prozent.
Es geht nicht um eine Wahl "Ausbildung oder Studium"
Was lässt sich also unabhängig vom politischen Spin oder das Aufsetzen von Bund-Länder-Brillen festhalten? Vor allem dies: In Deutschland läuft, wenig überraschend, etwas auseinander. Während erfreulicherweise mehr Menschen als je zuvor einen Hochschulabschluss erwerben, gibt es deutlich mehr Menschen, die komplett abgehängt werden. Weil sie ohne Abitur oder Berufsabschluss keinen Beruf werden ausüben können, der ausreichend gut bezahlt wird. Und weil sie nicht mithalten können mit den technologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich besonders stark auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt auswirken.
Angesichts solcher Zahlen ist es ärgerlich, wieviel Zeit in den vergangenen Jahren auf vollkommen überflüssige Debatten einer angeblichen Akademikerschwemme verwendet wurde, die nur Unsicherheit unter jungen Menschen erzeugt haben, aber ansonsten vollkommen am Punkt vorbeigingen: Nicht mehr Abiturienten und mehr Hochschulabsolventen sind das Problem, da sie praktisch alle ein erfolgreiches Berufsleben vor sich haben. Diejenigen, die auf der Strecke bleiben, standen nicht nämlich gar nicht vor der Wahl "Ausbildung oder Studium".
Stattdessen zeigt sich, dass eine Beseitigung des so stark befürchteten Fachkräftemangels aufs Engste verknüpft ist mit der Beantwortung der sozialen Frage im Bildungssystem: Nur wenn es in den Schulen gelingt, den eklatant hohen (und gestiegenen) Anteil junger Menschen zu senken, die nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können, werden wieder mehr von ihnen die Kompetenzen erreichen, die sie brauchen, um eine berufliche Ausbildung zu schaffen und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Deutungsstreit um politische Geländegewinne
Was bedeutet dies nun für die politische Debatte? Weder den Ländern noch dem Bund sind die Zahlen oder die von der OECD beschriebenen Entwicklungen wirklich neu. Doch nutzt der Bund sie wie so oft in den vergangenen Monaten, um Druck auf die Länder auszuüben. Das Ziel ist nicht mehr eine Reform des Bildungsföderalismus insgesamt, wie er Anfang der Legislaturperiode vorstellbar erschien, das hat sich die Ampel angesichts der starken Friktionen mit den Ländern längst abgeschminkt. Aber die "Startchancen", dieses symbolträchtige Förderprogramm für benachteiligte Schüler und Schulen, gilt es noch über die Ziellinie zu bringen. Und hier hilft dem Bund, um in den laufenden Verhandlungen seine Vorstellungen der Pakt-Konditionen möglichst weit durchzusetzen, jede öffentliche Empörung über den Status Quo. Denn für diesen Status Quo sind entsprechend der Verfassung zu allererst die Länder zuständig.
Entsprechend gelassener, ja beschwichtigender daher die Positionierung der Länder. Sich nur nicht vorführen lassen mit dem Reden über eine bildungspolitische Trendwende, lautet die Devise: die Problem einräumen, ja, aber vor allem aber auch auf die Stärken des Bildungssystems hinweisen. Und auf das, was man selbst tut und wofür man den Bund gar nicht braucht. Weshalb der Berliner Staatssekretär auch nicht die "Startchancen" als Antwort auf den wachsenden Anteil der gering Qualifizierten erwähnt, sondern den "Pakt für berufliche Bildung, den die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit der Wirtschaft und allen relevanten Akteuren auf den Weg bringt".
Bund und Länder in a nutshell und Business as usual im Föderalismus? Vielleicht. Wäre da nicht das Misstrauen zwischen den Ebenen, das zurzeit sogar noch stärker ist als normalerweise. Was zu tun hat mit einer Kultusministerkonferenz, deren überfällige Reform hin zu einer größeren Wirksamkeit lähmend langsam vor sich geht und deshalb allergisch reagiert auf alle Versuche, vorgeführt zu werden. Und mit einer Ampel-Regierung, deren leuchtende Versprechungen vom großem Bildungsaufbruch in einer gewaltigen Diskrepanz stehen zu der einen einzigen zusätzlichen Bildungsmilliarde pro Jahr, die vollständig erst 2025 fließen soll und trotzdem von FDP-Finanzminister Christian Lindner bei jeder Gelegenheit als Großtat gefeiert wird.
So werden – leider – auch die OECD-Zahlen wohl kaum nüchtern diskutiert werden können und nach einem kurzen Aufblitzen wieder in der Versenkung der Tagespolitik verschwinden. Schade eigentlich. Denn, siehe oben, es ließe sich eine Menge aus ihnen lernen.
Hinweis am 15. September: Ich habe die Passage zu Geflüchteten unter "Erstens" geändert, weil meine Darstellung hier nicht korrekt, zumindest aber nicht vollständig war. Ich danke Susmita Arp von der SPIEGEL-Dokumentation, die mich auf meinen Gedankenfehler hinwies.
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Abstract: The paper presents the field of history of education in Hungary, analysing the central periods in the development of historical educational research in Hungary since the 19th century. In the first period since the end of the 19th century the history of education has been adopted in Hungary too as a subject of instruction in teachers' education. This subject of history of education, with its bibliography and literarature has built an acadmeic model which is operative still today. However, since the 1970s and 1980s the educational sciences have a research method, whic is more oriented towards social science. The historiography of educational research and writing in Hungary has been responsive to this international trends from the early 1990s. The second part of the paper is focused on an outline of the present state of the art and trends in the Hungarian development, with the main agents, important works, institutional contexts and methodological debates. Keywords: history of education; history of historical educational research in Hungary; periods of development; major works; methodological debates. Espacio, Tiempo y Educación, v. 3, n. 1, January-July 2016, pp. 85-110. ISSN: 2340-7263 Die historische Pädagogik in Ungarn. Geschichte und heutiger Stand The Historical Educational Research in Hungary. His History and Actual Position András Németh e-mail: nemeth.andras@ppk.elte.hu Eötvös Loránd University. Hungary Zusammenfassung: Der Aufsatz gibt einen Überblick über die Hauptperioden der ungarischen historischen Pädagogik in ihrer Geschichte seit dem 19. Jahrhundert. In der ersten Periode wurde sie dann seit der Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Lehrfach der Lehrerbildung. Das Fach und sein Literatur haben einen Kanon gebildet, der bis heute wirksam ist. Seit den 1970er und 1980er Jahren hat sich auch in der Erziehungswissenscheften eine neue sozialwissenschaftlich orientierte Historische Forschung herausbildet, derer internationale Trends begann die ungarische historische Pädagogik seit Anfang der 1990er Jahren zu rezipieren. In dem zweiten Teil wird der heutige Stand dieser Entwicklungsperiode mit den Hauptakteuren, institutionellen Kontexten, grundlegenden Werken, theoretisch- methodischen Debatten dargestellt. Schlüsselwörter: Erziehungsgeschiche; Geschichte der historischen Pädagogik in Ungan; Entwichlungsperioden; Hauptwerke; methodische Debatten. Abstract: The paper presents the field of history of education in Hungary, analysing the central periods in the development of historical educational research in Hungary since the 19th century. In the first period since the end of the 19th century the history of education has been adopted in Hungary too as a subject of instruction in teachers' education. This subject of history of education, with its bibliography and literarature has built an acadmeic model which is operative still today. However, since the 1970s and 1980s the educational sciences have a research method, whic is more oriented towards social science. The historiography of educational research and writing in Hungary has been responsive to this international trends from the early 1990s. The second part of the paper is focused on an outline of the present state of the art and trends in the Hungarian development, with the main agents, important works, institutional contexts and methodological debates. Keywords: history of education; history of historical educational research in Hungary; periods of development; major works; methodological debates. Recibido / Received: 09/01/2016 Aceptado / Accepted: 17/01/2016 Cómo referenciar este artículo / How to reference this article Németh, A. (2016). Die historische Pädagogik in Ungarn. Geschichte und heutiger Stand. Espacio, Tiempo y Educación, 3(1), 85-110. doi: http://dx.doi.org/10.14516/ete.2016.003.001.6 26/1. oldal 26/2. oldal 86 András Németh Espacio, Tiempo y Educación, v. 3, n. 1, January-July 2016, pp. 85-110. ISSN: 2340-7263 1. Einführung Das Forschungsfeld der historischen Pädagogik entwickelte sich weltweit im Rahmen eines akademischen Institutionalisierungsprozesses wie die Einrichtung selbständiger Lehrstühle für die Geschichte der Pädagogik, die Gründung von Fachzeitschriften und die Organisation von Fachkongressen – vor allem seit den 1960er Jahren. Diese Prozesse verstärkten sich dann in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, und führten zu einer «erstaunliche(n) Karriere» (Tenorth 1996, S. 343). Das Forschungsfeld der neuen wissenschaftlich anerkannten Teildisziplin wurde erweitert, und es entstanden überaus produktive interdisziplinare Verbindungen. Seit dieser Zeit wurden neue bzw. erneuerte Zeitschriften gegründet (z.B. seit 1961 History of Education Quarterly, seit 1972 History of Education in England, seit 1978, Histoire de l'éducation, seit 1990 in neuer Serie Paedagogica Historica in Belgien, in Deutschland seit 1993 Das Jahrbuch für historische Bildungsforschung, seit 1994 in der Schweiz die Zeitschrift für Pädagogische Historiographie), und ein reiches internationales Konferenzleben entstand (am wichtigsten seit 1978 die International Standing Conference for the History of Education). Das Forschungsfeld wurde methodisch wie konzeptionell fest etabliert, die Forschungen der historischen Pädagogik in den einzelnen Länder (insbesondere in Belgien, Deutschland, der Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal) wurden von den nationalen Forschungsfonds gefördert, und die Erträge der Forschungen wurden in zahlreichen Monographien, Hand- und Lehrbüchern und in Zeitschriftsbeiträgen dokumentiert (Vgl. Heinemann, 1979; Wolff, 1986; Fuchs, 2010, S. 703.; Tenorth, 1996, S. 344; Tenorth, 2010, S. 135-136). Wenn man die Verbreitung dieser Tendenzen nach Osten hin überblickt, kann man leicht erkennen, dass die osteuropäische Lage vor 1989 als ein Spezialfall zu betrachten ist. Bis zu dieser Zeit herrschte im gesamten Ostblock, und so auch in Ungarn, eine monolitische marxistisch-leninistische Interpretation auch in der Erziehungswissenschaft bzw. in ihrer Teildisziplin, in der sogenannten sozialistischen Erziehungsgeschichte, die theoretisch wie auch metodologisch an diesen Rahmen gebunden und so von den westlichen Entwicklungslinien fast völlig abgeschottet war. In Ungarn gelang eine nennenswerte Ausweitung der neuen wissenschaftlichen Gesichtspunkte erst in den 1980er Jahren, und zwar nach der Milderung des politischen Drucks des Kadar-Regimes. Erst nach der Wende begann eine wirklich neue Epoche, in der die historische Pädagogik auch in Ungarn einen wichtigen Platz in der akademischen Lehre einzunehmen begann, insbesondere in der Lehrerbildung. Unser Beitrag verfolgt zwei Ziele: Einerseits geht es darum, einen Überblick über die ungarische historische Pädagogik in ihrer Geschichte, ihrem internationalen 26/2. oldal 26/3. oldal 87 Die historische Pädagogik in Ungarn. Geschichte und heutiger Stand Espacio, Tiempo y Educación, v. 3, n. 1, January-July 2016, pp. 85-110. ISSN: 2340-7263 Kontext und die Rezeptionstendenzen zu geben, andererseits einen Einblick in die unterschiedlichen aktuellen Perspektiven dieser Teildisziplin zu vermitteln. Daraus ergibt sich folgender Aufbau: in einem historischen Kapitel werden die zentralen Etappen mit ihren jeweiligen Hauptakteuren und deren grundlegende Werke vorgestellt. So kann aufgezeigt werden, dass die ungarische Geschichte der pädagogischen Historiographie eine Rezeptionsgeschichte vor allem deutscher Entwicklungen beinhaltet, die aber zugleich als eine kreative Adaptationsleistung anzusehen ist. Die Entwicklung nach der Wende 1989 und der heutige Stand wird dann detailliert im darauf folgenden Abschnitt dargestellt. Darin werden die aktuellen Tendenzen mit ihren institutionellen Kontexten und ihren Richtungen in Verbindung mit den grundlegenden theoretisch-methodischen Debatten aufgezeigt, durch die sich die historische Pädagogik in den letzten 20 Jahren und in der Gegenwart als ein anerkannter Bereich der ungarischen Erziehungswissenschaft etablieren konnte. Ihre nun auch internationale Bedeutung zeigt sich darin, dass sie mit zahlreichen Werken und Forschern thematisch vielfältig und erfolgreich in die internationale Forschungslandschaft integriert ist. 2. Kurze Historiographie der Erziehungsgeschichte in Ungarn – von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Wende 1989 Der historische Gesichtspunkt hat in der wissenschaftlichen Pädagogik vor allem in Deutschland eine seit dem 18. Jahrhundert andauernde Tradition. Nach diesen Vorbildern wurde die Erziehungsgeschichte in ganz Mitteleuropa rezipiert, so auch in Ungarn. Erziehungsgeschichte wurde schon im 19. Jahrhundert zum grundlegenden Lehrfach in der Lehrerbildung und parallel dazu zu einem Teilgebiet der in dieser Zeit schon selbständigen theoretischen Pädagogik. Der Ausbau des Schulwesens und mit diesem der Ausbau der Lehrerbildung sowie die Anfänge der Etablierung der Pädagogik als Universitätsdisziplin – diese beiden Faktoren können als die wichtigsten Faktoren der in Frage stehenden Entwickung angesehen werden. Dieser Prozess vollzieht sich seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Wende zum 20. Jahrhundert in den verschiedenen Regionen Europas mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung parallel zur Entstehung der modernen Nationalstaaten. Die neuen Wissenschaften haben den Schulkanon der höheren und dann auch der elementaren Bildung mitgeformt. Allmählich und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Form eines sekularen Schulwesens durch. Das grundlegende länderspezifische Merkmal der ungarischen Entwicklung bestand darin, dass die Entfaltung des modernen nationalen Schulwesens seit dem 18. Jahrhundert parallel mit der Entwicklung des österreichischen Bildungswesen stattfand. Die Ursprünge der Gemeinsamkeiten in der Schulentwicklung beider 26/3. oldal 26/4. oldal 26/1 65 Társítás András Németh (andrasnemeth0@gmail.com) 65 megjelenítése.
Der zweite Tagungsband des Netzwerks bildet nicht nur vielfältige Ergebnisse der Hochschulforschung ab, sondern beschäftigt sich auch mit der Verortung dieser Forschung selbst. Er beinhaltet Beiträge aus verschiedenen Disziplinen und setzt unterschiedliche Forschungszugänge und -intentionen voraus. So werden Erkenntnisgewinn, Forschungsrelevanz und der angewandte Forschungsbezug sowie die Praxis in den Beiträgen diskutiert und dargestellt. Der Tagungsband liefert damit einen Beitrag zur aktuellen und zukünftigen (Weiter-)Entwicklung auf der System- oder Institutionenebene unter Berücksichtigung der handelnden Akteur*innen. (DIPF/Orig.)
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Was im neuen Nationalen Bildungsbericht steht und warum Autorensprecher Kai Maaz davor warnt, Einwanderer für die schlechte Performance des Bildungssystems verantwortlich zu machen.
Schaubild aus dem Nationalen Bildungsbericht 2024. CC BY-SA 3.0 DE.
ER GILT ALS DIE große Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens. Das ist Verdienst und Problem zugleich. Denn der Nationale Bildungsbericht, der seit 2006 alle zwei Jahre mit inzwischen jedes Mal fast 400 Seiten Analysen, Grafiken, Tabellen veröffentlicht wird, ist so umfassend, dass Bildungspolitiker seinen Verfassern gelegentlich vorwerfen, dass vor lauter Details und Trends die politisch verwertbaren Empfehlungen auf der Strecke bleiben.
Am Montagnachmittag wurde nun die aktuelle Ausgabe des Bildungsberichts veröffentlicht, Förderer sind wie immer das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Kultusministerkonferenz. Und erneut lieferten die beteiligten Bildungsforscher und Statistiker parallel eine nicht einmal 30-seitige Kompaktfassung, die entlang der gesamten Bildungskette wichtige Kennzahlen im Überblick präsentiert und dazu – tatsächlich sehr klare – "zentrale Herausforderungen" benennt.
Fragt man Kai Maaz, was für ihn persönlich die wichtigste Aussage des neuen Berichts ist, antwortet der Sprecher der Autorengruppe: "Die sozialen Disparitäten in unserem Bildungssystem von der Kita bis zur Weiterbildung sind ein riesiges Dauerproblem, die Politik schafft es nicht, daran etwas zu ändern."
"Wir sollten uns fragen", fügt Maaz, Chef des DIPF Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, hinzu: "Warum haben all die lobenswerten Bildungsinitiativen von Bund und Ländern, all das Geld, das in sie hineingesteckt wurde, keine messbare Wirkung erzielt hin zu einer flächendeckenden Verbesserung von Bildungschancen und Bildungsqualität?"
19 Prozent der Viertklässler können nicht adäquat lesen
Ein paar Zahlen aus dem Bericht. 264 Milliarden Euro hat Deutschland 2022 in Bildung investiert. Zwischen 2012 und 2022 stieg der Anteil der Bildungsausgaben an der Wirtschaftsleistung nur geringfügig von 6,6 auf 6,8 Prozent. Deutlicher erhöhten sich die Ausgaben für die Kitas, trotzdem gibt es weiter viele Eltern, die keinen Krippenplatz für ihre Kleinkinder finden. Bedarf bei Einjährigen: 65 Prozent. Tatsächlich zur Kita gingen 2023: 38 Prozent. Immerhin dreimal so viele wie 2006 (zwölf Prozent). Besonders Kinder aus Einwandererfamilien sind unterrepräsentiert, bei den 3- bis 5-Jährigen ging die Kitaquote seit 2014 sogar um sieben Prozentpunkte auf 78 Prozent zurück – gegenüber 100 Prozent bei Kindern, deren Eltern beide in Deutschland geboren sind.
19 Prozent der Viertklässler verfehlten 2021 die Mindeststandards beim Lesen, die Hälfte mehr als 2011 (zwölf Prozent). Im Osten nehmen 84 Prozent der Grundschulkinder an Ganztagsangeboten teil, im Westen nur 50 Prozent. Und auch hier gilt: Beim Wettbewerb um die knappen Plätze öffnet sich die soziale Schere mit Nachteilen für Kinder aus Einwandererfamilien, von Eltern mit niedrigerem Bildungsabschluss oder von erwerbstätigen Müttern..
Unterdessen steigt der Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss seit Corona wieder deutlich auf 6,9 Prozent im Jahr 2022. Und während von 100 Akademikerkindern 78 ein Studium aufnehmen, tun das von 100 Nicht-Akademikerkindern nur 25.
Alte Erkenntnisse und Altlasten der Politik
Die Zahlen sind nicht neu – können sie auch nicht sein, weil für den Bildungsbericht keine eigenen Studien erstellt, sondern vorhandene Untersuchungen und Statistiken zusammengetragen werden. Viele der Ergebnisse haben bei ihrem Bekanntwerden bereits einmal Debatten ausgelöst. Das Besondere ist aber der Gesamtüberblick, der durch ihre Kombination entsteht.
Der, so Maaz, nur Schlussfolgerungen zulässt: "Wir müssen aufhören, uns kurzfristig über bildungspolitische Krisenmeldungen aufzuregen und ansonsten immer weitermachen wie bisher." Und: Die Politik müsse sich ehrlich machen und sagen: "Es liegt an der Art, wie wir unsere Bildungspolitik organisieren, wie wir unsere Bildungseinrichtungen steuern."
Und damit fordere er keine weitere Grundsatzdebatte über den Bildungsföderalismus, "weil die uns nicht weiterbringt. Im Gegenteil, wir könnten aus dem Föderalismus Honig saugen, indem wir systematisch evaluieren, warum etwa ein Land wie Hamburg mit geringeren Pro-Kopf-Ausgaben weit mehr Qualität und Chancengerechtigkeit in der Bildung schafft als Berlin." Es sei richtig und normal, die Schülerleistungen regelmäßig zu überprüfen, so der Bildungsforscher. Aber: "Ebenso, wie wir die Schülerleistungen testen, muss auch die bildungspolitische Steuerlogik und Koordinationsleistung der einzelnen Bundesländer Teil des nationalen Bildungsmonitorings werden."
Mancherorts sind die Hälfte aller neueingestellten Lehrer Seiteneinsteiger
Zwischen Bund und Ländern müsse diskutiert werden, wie all die nebeneinanderher laufenden Bildungsprogramme von "QuaMath" (für besseren Matheunterricht) über "SchuMaS" (Schulentwicklung für benachteiligte Schüler) bis hin zu dem milliardenschweren Startchancen-Programm so "miteinander koordiniert und verknüpft werden könnten, dass sie eine nachhaltige Wirkung erzielen".
Es wird spannend sein zu sehen, ob die Bildungspolitik in Bund und Ländern sich auf die damit geforderte öffentliche Nabelschau einlässt, auf die systematische Untersuchung und Evaluierung des Zusammenspiels etwa von Ministerien, Schulträgern und Schulämtern. Oder ob sie sich lieber auf die üblichen Narrative stützt, die allesamt auch ihre statistischen Belege im Bildungsbericht finden.
Etwa, dass die Bildungskrise eng mit dem gewaltigen Mangel an Fachkräften in allen Bildungsbereichen zusammenhänge. Laut Bildungsbericht waren 2023 11,9 Prozent der bundesweit neu eingestellten Lehrkräfte Seiteneinsteiger, bei gewaltigen Länderunterschieden allerdings: In Sachsen-Anhalt lag ihr Anteil bei 53 Prozent, in Bayern und Rheinland-Pfalz nur ein Prozent. An den Berufsschulen wiederum hatten insgesamt 21 Prozent des Kollegiums keine Lehramtsausbildung.
Zuwanderung ist "Ausrede" für Qualitätsmangel in der Bildung
Oft wird von Bildungspolitikern auch das zweite Erklärungsmuster angeführt: der hohe und weiter steigende Prozentsatz neu eingewanderter Kinder und Jugendlicher. Auch hierzu eine eindrückliche Statistik aus dem Bildungsbericht: Im Jahr 2022 kamen rund 535.000 Menschen zwischen sechs und 19 neu ins Land – gegenüber 114.000 zehn Jahre davor.
Und doch: "Dass wir die Qualität wegen der Zuwanderung oder des Lehrkräftemangels nicht steigern können, halte ich für Ausreden", sagt Kai Maaz. "Wir hätten seit 50 Jahren einen Bevölkerungsrückgang und würden uns als Gesellschaft abschaffen, gäbe es keine Einwanderung." Deutschland habe es allerdings nie vermocht, seine "Bildungssteuerung so auszurichten, dass sie der Wirklichkeit eines Einwanderungslands entspricht: mit einem kontinuierlichen Zustrom und immer wieder größeren Peaks."
Neben dem DIPF am Bericht beteiligt sind das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung, das Deutsche Jugendinstitut, das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, das Soziologische
Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität, das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe und die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Ein Schwerpunkt liegt dieses Jahr auf der beruflichen Bildung.
Neben dem großen politischen Steuerungsproblem benennt der Bericht weitere zentrale Herausforderungen für die Bildung in Deutschland: dort pro Kopf am meisten Geld in Schulen & Co zu schicken, wo die Missstände am größten sind, wobei die "Startchancen" als zukunftsweisendes Beispiel genannt werden. Außerdem kurzfristige und langfristige Strategien dafür zu entwickeln, dass nicht nur genug, sondern auch genug gut ausgebildetes pädagogisches Personal zur Verfügung steht, wobei es besonders auf die Weiterbildung ankomme. Schließlich brauche es mehr Datenerhebung und -nutzung in allen Bildungsbereichen und auf allen Ebenen, damit die vorhandenen Bildungsangebote nicht am Bedarf vorbeigingen, inklusive der statistischen Erfassung individueller Lernverläufe und der Evaluation von Reformmaßnahmen.
Dieser Beitrag erschien heute zuerst im Tagesspiegel.
Aktualisierung am 14. Juni, 15.30 Uhr
Wie Bund und Länder den Bildungsbericht kommentieren
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Christine Streichert-Clivot, kommentierte unmittelbar nach Veröffentlichung des Berichts: "Wir müssen noch ehrgeiziger sein, um das Versprechen des sozialen Aufstiegs für Jugendliche zu erneuern." Immer noch hingen die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen stark vom sozialen Hintergrund ab. "Die kommende Generation erwartet zurecht, dass wir diese Ungerechtigkeit angehen. Und das machen Bund und Länder. Zum Beispiel mit dem Startchancen-Programm, dass Schulen bei der Gestaltung einer modernen, attraktiven Lernumgebung, passgenauen pädagogischen Angeboten und dem Ausbau multiprofessioneller Unterstützung unterstützt."
Angesichts der laut Bildungsbericht wachsenden Zahl junger Erwachsener ohne formale Qualifikation verwies Streichert-Clivot, im Hauptberuf SPD-Bildungsministerin des Saarlandes, auf den Pakt für Berufliche Schulen. Gemeinsam mit dem BMBF wolle man Lösungen erarbeiten, um den Einstieg in die Berufswelt zu erleichtern und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. "Und weil starke Schüler:innen starke Lehrkräfte brauchen, haben wir als Länder auf der historischen Transformations-KMK in Völklingen in der vergangenen Woche neue Wege ins Lehramt ermöglicht, zum Beispiel für sogenannte Ein-Fach-Lehrkräfte sowie Absolventinnen und Absolventen sogenannter Quereinstiegs-Masterstudiengänge und dualer Studiengänge."
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger sagte, der Bildungsbericht zeige, "dass unser Bildungssystem vor großen Herausforderungen steht. Wir brauchen dringend eine bildungspolitische Trendwende." Es brauche von den Kitas bis zu den Ausbildungsbetrieben einen Perspektivwechsel und Bildungsinstitutionen, die Vielfalt als Chance begriffen. "Wir setzen uns mit aller Kraft für mehr Chancengerechtigkeit ein", fügte die FDP-Politikerin hinzu und führte ebenfalls das zum kommenden Schuljahr beginnende Startchancen-Programm an, "das größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik".
Ebenso zeige der neue Bildungsbericht die Notwendigkeit eines starken Berufsbildungssystems, das junge Menschen konsequent fördere und an die speziellen Bedarfe der modernen Arbeitswelt angepasst sei. "Deshalb geben wir mit der Exzellenzinitiative Berufliche Bildung mit gezielten Maßnahmen dem gesamten System der beruflichen Bildung einen neuen Schub."
Zu dem im Bildungsbericht aufgeworfenen und von Autorensprecher Kai Maaz hervorgehobenen Steuerungsproblem der deutschen Bildungspolitik äußerten sich in ihrer gemeinsamen Pressemitteilung zunächst weder BMBF-Chefin noch KMK-Präsidentin.
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Der Bildungsforscher Olaf Köller sagt, warum er positiv überrascht ist vom Startchancen-Verhandlungsergebnis, wie die Wissenschaft zum Erfolg des Programms konkret beitragen und welche Rolle dabei die Ständige Wissenschaftliche Kommission spielen könnte.
Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel und Ko-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK). Foto: IPN/Davids/Sven Darmer.
Herr Köller, die Verhandlungsführer von Bund und Ländern haben sich auf Eckpunkte zum Startchancen-Programm geeinigt. Hat der Bildungsföderalismus herausgeholt, was er aus sich herausholen kann?
Eine Milliarde Euro Bundesgeld pro Jahr ist nicht viel, da muss man sich nichts vormachen, das sind 250.000 Euro pro Schule. Trotzdem finde ich: Bund und Länder haben eine Menge herausgeholt. Ich war positiv überrascht, als ich das Papier gelesen habe. Alle Länder haben sich verpflichtet, Sozialkriterien für die Auswahl ihrer Schulen zu bestimmen. Auch diejenigen, die bislang keinen eigenen Sozialindex haben. Einigkeit herrscht über das wichtigste Ziel: Die Zahl derjenigen, die die Mindeststandards in den Kernfächern nicht erreichen, soll in zehn Jahren halbiert werden. Für schlau halte ich es, dass man nicht mit allen 4000 Schulen auf einmal beginnt, sondern mit 1000. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass der Einstieg überhaupt noch zum Schuljahr 2024/25 gelingt. Besonders erfreulich ist schließlich, dass Bund und Länder den Erfolg des Programms nicht nur behaupten, sondern messen lassen wollen.
"Es war absehbar, dass, wenn man den Königsteiner Schlüssel aufgibt, ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt."
Stört Sie, dass das Bundesgeld zu großen Teilen weiter per Gießkanne auf die Länder verteilt wird? Und widerspricht das nicht dem immer wieder behaupteten Paradigmenwechsel?
Es war absehbar, dass alle Länder ordentlich etwas abhaben wollen und dass, wenn man schon den Königsteiner Schlüssel aufgibt, jetzt ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt. Darum ist der eigentliche Paradigmenwechsel für mich ein anderer: dass Bund und Länder sich zu einer wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Programms verpflichtet haben, und zwar mit explizitem Bezug auf ein Impulspapier, das wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) vergangenes Jahr vorgelegt haben. Wir haben viele große bildungspolitische Reformen erlebt in den Jahrzehnten nach Pisa 2000, von der Einführung der Ganztagsschulen über G8 bis zurück nach G9, doch hat es fast immer und in fast allen Ländern an der Bereitschaft gefehlt, mit harten Indikatoren die Wirkung dessen zu überprüfen, was man da beschlossen hat. Genau das passiert jetzt mit dem Startchancen-Programm, ausgestattet mit einem eigenen Evaluationsbudget. Das ist der Paradigmenwechsel. Wenn es denn so kommt und die Länder nicht vor ihrem eigenen Mut zur Empirie zurückschrecken.
Aber was genau kommt denn? Die Eckpunkte sprechen von einem "verbindlichen Berichtswesen", von "wissenschaftlicher Begleitung" und "Evaluation", die getrennt voneinander laufen sollen.
Ich habe mich auch gefragt, wie es genau gemeint ist. Persönlich würde ich wissenschaftliche Begleitung als formative Evaluation begreifen, bei der man schaut, für welche der ergriffenen pädagogischen Maßnahmen es Evidenz gibt und wie sie in den Schulen implementiert werden. Man kann dann auch die Schulen bei der Auswahl und Implementation wirksamer Programme unterstützen. Während das, was im Papier als Evaluation bezeichnet wird, vermutlich summativ verstanden wird: Man misst nach einer bestimmten Zeit, welche Kompetenzstände Schülerinnen und Schülern erreicht haben.
An der Stelle bleibt das Papier ziemlich vage. Was empfehlen Sie der Bildungspolitik?
So vage ist das gar nicht. Durch die Fokussierung auf die Basiskompetenzen, den Bezug zu den Bildungsstandards und die Halbierung der Risikogruppe in zehn Jahren haben Bund und Länder sich selbst den entscheidenden Benchmark gesetzt. Und zugleich das Instrument zu dessen Messung impliziert: den IQB-Bildungstrend, den das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen für die Klassenstufen vier und neun entwickelt hat. Wir müssen also das Rad an der Stelle nicht neu erfinden. Es eignet sich aber auch keine andere vorhandene Methodik, die vielleicht von einzelnen Bundesländern angewandt wird – weil nur der Testaufgabenpool des Bildungstrends so eng und valide auf die Erfüllung der Bildungsstandards abzielt. Ein Vorgehen könnte daher sein, dass das IQB im Frühjahr 2025 eine sogenannte Null-Messung an den dann ausgewählten ersten 1000 Startchancen-Schulen durchführt, in Deutsch, Mathe und vielleicht noch Englisch. Und zwar sowohl in Klasse vier als auch in den Klassenstufen neun und zehn, je nachdem, wann die Sekundarstufe I im jeweiligen Land und in der jeweiligen Schulart endet. Nach fünf Jahren wird die Messung in den gleichen Klassenstufen zum ersten Mal wiederholt, nach zehn Jahren zum zweiten Mal.
Diese Art der Messung würde bedeuten, dass sich keine Aussagen über einzelne Schülerkarrieren treffen ließen.
Ein Ansatz bei der Evaluation des Startchancen-Programms wäre tatsächlich eine Trenderfassung der Schulen mit Feststellung der Leistungsniveaus der Schülerinnen und Schüler als Ganzes. Für alles andere bräuchte man eine Längsschnittstudie, bei der dieselben Kinder bzw. Jugendlichen immer wieder getestet würden. Das halte ich in der Größenordnung, über die wir bei den Startchancen sprechen, nicht für realistisch. Sehr wohl wäre es aber ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn, kleinere Stichproben von Schülerinnen und Schüler so, wie Sie das sagen, über einen längeren Zeitraum zu begleiten.
"Es wird auf jeden Fall
recht uneinheitlich zugehen."
Apropos Größenordnung der Evaluation: Was passiert mit den 3000 Schulen, die später dazu kommen?
Ich würde davon abraten, alle 4000 Schulen gleichermaßen evaluieren zu wollen, das wäre zu aufwändig und wohl ebenfalls zu teuer. 1000 Schulen bieten einen großen Ausschnitt, sind für das IQB eine zusätzliche Herkulesaufgabe, aber vermutlich handelbar, und eine Vorbereitungszeit von anderthalb Jahren erscheint realistisch. Ein weiterer Vorteil der Nullmessung wäre, dass so geprüft würde, ob die Länder mit ihren eigenen Sozialkriterien jeweils die richtigen Schulen erwischt haben: nämlich diejenigen mit den besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern – oder ob hier einzelne Länder noch einmal nachsteuern müssen. Es ist ja kein Naturgesetz, dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler grundsätzlich geringe Kompetenzniveaus aufweisen.
Erwarten Sie eine stark unterschiedliche Treffsicherheit – je nachdem, ob die Länder schon etablierte Sozialindizes haben?
Es wird auf jeden Fall recht uneinheitlich zugehen. Diejenigen Länder, die bereits Programme für benachteiligte Schüler und Schulen betreiben, werden versuchen, die Schulen aus ihren Programmen auch in die Startchancen zu bringen. Und Länder, die noch keinen Sozialindex haben, müssen erst einen Algorithmus entwickeln, von dem sie nicht wissen, wie er sich auswirkt. Schließlich wird es Unterschiede geben zwischen Ländern mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler und anderen, die eine geringere Armutsdichte aufweisen. All das könnte durch die Nullmessung ermittelt werden – unter der Voraussetzung, dass sie mit Fragebögen zum sozialen und familiären Hintergrund der Schülerinnen und Schüler begleitet werden, wie das IQB das beim Bildungstrend bereits tut.
Was aber bedeuten die Ergebnisse, die bei der wiederholten Messung nach fünf oder zehn Jahren herauskommen? Wer sagt, dass die festgestellte Verbesserung oder Verschlechterungen der Kompetenzen an einer Startchancen-Schule etwas mit dem Programm zu tun hat?
Eine berechtigte Frage – weshalb die wissenschaftliche Begleitung im Sinne formativen Assessments so wichtig ist. Wir brauchen regelmäßig erhobene Daten, wie an jeder untersuchten Schule die drei Säulen des Programms konkret umgesetzt werden, wobei mir die Baumaßnahmen noch am wenigsten ausschlaggebend erscheinen. Aber wie genau wird die Interaktion zwischen Lehrkräften, Förderkräften, Sozialarbeitern und Schülerinnen/Schülern gestaltet? Werden nur Maßnahmen etabliert, für deren Qualität es empirische Evidenz gibt? Werden zwar Förderkräfte eingestellt, müssen diese aber Vertretungs- statt Förderstunden geben? Dann, das wissen wir, würde ihre Wirkung verpuffen.
Gehen wir also davon aus, dass sich bei der richtigen Kombination von wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation nach fünf oder zehn Jahren ein Zusammenhang herstellen lässt zwischen den ergriffenen Maßnahmen und der Entwicklung der Schülerkompetenzen, was folgt daraus?
Das ist doch klar: Nach fünf Jahren muss die Politik bei einigen Schulen nachsteuern, und das konsequent. Vermutlich werden viele Schulen nach fünf Jahren noch weit von dem Ziel der Halbierung entfernt sein. Hoffentlich wird es auch Standorte geben, an denen man positive Effekte sieht – die sich dank der Kopplung von formativer und summativer Evaluation auf die Maßnahmen des Programms zurückführen lassen. Die Politik wird sich Gedanken machen müssen, wie sie mit denjenigen Schulen verfahren will, die über Jahre Geld bekommen haben, ohne dass es vorangeht. Sicherlich wird man dann verstärkt über neue Zielvereinbarungen sprechen müssen, mit einer verstärkten Kooperation zwischen Schulen und Schulaufsicht, damit auch diese Schulen die Früchte des Programms ernten. Das wäre zumindest meine Empfehlung.
"Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte."
Die sie als wer aussprechen? Als Chef des IPN Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik – oder als einer der Vorsitzenden der SWK?
Ich vermute, vieles von dem, was ich hier im Interview gesagt habe, wird von den meisten Bildungsforscherinnen und Bildungsforschern in Deutschland geteilt werden. Aber nichts davon ist abgestimmt mit den übrigen 15 Mitgliedern der SWK. Letzteres auch deshalb nicht, weil wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission bislang gar nicht explizit nach unseren konkreten Ideen zur Evaluation des Startchancen-Programms gefragt oder beauftragt worden sind.
Würden Sie gern beauftragt werden?
Natürlich würde ich mir wünschen, dass die Bildungsforschung eingebunden und um Rat gefragt wird. Nicht, weil wir auf irgendwelche zusätzlichen Forschungsgelder aus sind, sondern weil wir ein genuines Interesse daran haben, den Bund und die Länder in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Der Bund will insgesamt zehn Milliarden Euro einsetzen, die Länder, in welcher Form auch immer, zehn weitere Milliarden dazu geben. Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte. Die SWK ist allerdings eine Kommission der Kultusministerkonferenz, sie stimmt dementsprechend auch ihr Programm mit der KMK ab. Gleichwohl könnten KMK und BMBF sich zusammentun und uns in die Diskussion um eine wissenschaftliche Begleitung beziehungsweise Evaluation einbinden. Ich kann mir vorstellen, dass die SWK dann eine Stellungnahme erarbeiten und darin ausbuchstabieren würde, wie eine wissenschaftliche Begleitung, eine Evaluation und ein Monitoring des Startchancen-Programms aussehen könnte. Um das mit Leben zu erfüllen, was das Eckpunktepapier als ambitioniertes Ziel ausgegeben hat.
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Mit Nachdruck plädiert die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK für den Einsatz generativer KI-Sprachmodelle im Schulunterricht – allerdings nur für ältere Schüler. Die Bildungsforscherin Ulrike Cress über das Lernen mit ChatGPT, die Auswirkungen auf Prüfungskultur und Chancengerechtigkeit – und die Bedeutung guten Promptens.
Ulrike Cress ist Psychologin, Bildungsforscherin und Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM). Seit Mai 2021 gehört sie der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusminsterkonferenz an. Foto: IWM.
Frau Cress, jetzt also auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK): "Large Language Models und ihre Potenziale im Bildungssystem" heißt das Impulspapier mit Empfehlungen, das Sie heute veröffentlichen. Können Sie den vielen Stellungnahmen zu LLM, ChatGPT & Co überhaupt noch Substanzielles hinzufügen?
ChatGPT war ein Einschnitt und markierte den enormen Fortschritt, den die generative Künstliche Intelligenz (KI) gemacht hat. Sie ist erstmals in der Breite der Gesellschaft angekommen, auch in der Breite des Bildungswesens, und damit ergeben sich viele Fragen für die Schule und für
das Prüfungswesen. Darauf wollten wir als SWK reagieren und bewusst einen Impuls der Versachlichung setzen gegen die Aufregung der vergangenen Monate. Vielen ist erst durch ChatGPT auf einen Schlag klar geworden, was sich schon lange abzeichnete: dass KI und digitale Medien Schule dramatisch verändern. Doch darauf mit einem Verbot von LLM reagieren zu wollen, halten wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission weder für angemessen noch realistisch. Mit unseren Empfehlungen wollen wir Orientierung geben.
"Gerade Kinder und Jugendliche haben sehr schnell gemerkt, was sie mit LLM alles machen können.
Die Lehrkräfte waren etwas langsamer."
Als jemand, die sich seit vielen Jahren mit digitalen Medien auseinandersetzt, haben Sie selbst mit einer so rasanten Entwicklung generativer KI-Sprachmodelle gerechnet?
Wir haben an unserem Institut bereits vor Jahren zu LLM geforscht; damals GPT2, das noch viel schwieriger zu bedienen war. Trotzdem waren wir bereits beeindruckt, wie gut das Tool zum Beispiel bei der Erstellung von Gedichten war. Dass der Fortschritt hin zu einer derart vereinfachten Nutzung dann so schnell gehen würde, haben wir uns damals aber nicht vorstellen können. Doch erst dies ermöglichte den weitreichenden Einsatz, wie wir ihn jetzt erleben. Die Dialogfähigkeiten heutiger Systeme verführen dazu, sie spielerisch auszuprobieren. Gerade Kinder und Jugendliche haben sehr schnell gemerkt, was sie damit alles machen können. Die Lehrkräfte waren etwas langsamer.
Und kritischer?
Sicherlich stand am Anfang die Sorge im Vordergrund: Was passiert jetzt mit den Hausaufgaben, die wir stellen, was machen LLM mit der Schule, wie wir sie kennen? Der zweite Schritt kam aber nur wenig später. Dass viele Lehrkräfte sich gefragt haben: Wie können wir so ein System sinnvoll nutzen für den Unterricht? Womit wir sofort bei der systemischen Frage sind: Was braucht es, damit LLM, die ja nicht für die Schule entwickelt wurden, dort eine positive Wirkung entfalten können?
Die systemische Frage?
Ja, welche Unterstützung benötigen Lehrkräfte, um sich individuell mit diesem Tool auseinanderzusetzen, und durch wen? Welche Fortbildungsangebote erfordert das? Hier braucht unser Bildungssystem einen systematischen Ansatz, eine gemeinsame Vorstellung, was sich zum Positiven verändert, was zum Negativen, wie wir den Nutzen maximieren und den Schaden geringhalten.
In ihren Empfehlungen fordert die SWK eine Übergangsphase, eine Zeit der Erprobung zwischen Praxis und Wissenschaft. Was genau meinen Sie damit?
Es gibt noch keine umfassenden Studien zu den Effekten, wie sich LLM auf den Bildungserfolg auswirken. Trotzdem können wir nicht warten, bis empirische Evidenz vorliegt, die Schulen brauchen jetzt eine Einordnung. Immerhin haben wir Evidenz zu anderen Tools. Etwa als in den Schulen Taschenrechner eingeführt wurden, gab es dieselben Diskussionen, ob am Ende keiner mehr das Kopfrechnen lernt. Seitdem wissen wir aus der Lernforschung, wie sich neue Hilfsmittel so in der Schule einsetzen lassen, dass sie für den Lernerfolg förderlich sind und ihn nicht behindern. Doch was davon lässt sich auf LLM übertragen? Das gilt es in der Übergangsphase herauszufinden, und dabei wollen wir als Wissenschaft die Lehrkräfte nicht allein lassen.
"Es ist Aufgabe der Politik, die nötige Rechtssicherheit zu schaffen."
Was bedeutet das praktisch?
Das bedeutet, dass wir in dieser Übergangsphase gemeinsam mit den Lehrkräften und den Landesinstituten für Lehrkräftebildung neue Unterrichtskonzepte entwickeln, evidenzbasiert. Und bis es die gibt, ist eine offene Fehlerkultur, eine Kultur des Ausprobierens, entscheidend. Fest steht: Nicht alles wird funktionieren, wie wir uns das wünschen.
Wie lange sollte die Übergangsphase dauern?
In unserem Impulspapier nennen wir keinen Zeitraum. Für mich aber dauert die Übergangsphase, bis es ausreichend Materialien und Konzepte zum Einsatz von LLM in Schulen gibt, die geprüft sind und von denen wir wissen, was sie wirklich bewirken.
Erneut müssen sich das deutsche Bildungssystem und die deutsche Bildungspolitik auf die Regeln und Bedingungen einer Technologie einlassen, die in den USA entwickelt wurde.
Zumal sich in den Schulen besondere Anforderungen an den Datenschutz stellen, an die rechtlichen Rahmenbedingungen, an die Transparenz. Als Kommission sagen wir: Es ist Aufgabe der Politik, hier die nötige Rechtssicherheit zu schaffen. Lehrkräfte brauchen Bedingungen, unter denen sie genau wissen, was sie dürfen und was sie nicht dürfen. Wir brauchen Tools, die nicht einfach Daten sammeln und an die Firmen zurückspielen. Die starke Abhängigkeit von US-Konzernen erfordert eine umso stärkere und eindeutige Reaktion der Politik. Eine zentrale Voraussetzung ist, dass die Bundesländer sich auf ein weitgehend gemeinsames Vorgehen einigen, wenn sie LLM in ihre Lernplattformen integrieren. Dass sie, wo möglich, Tools verwenden, die speziell fürs Lernen entwickelt wurden und frei beforscht werden können. Wir reden ja nicht nur über LLM, wir reden über die Möglichkeiten neuer intelligenter tutorieller Systeme insgesamt.
Von denen wir in Deutschland schon ziemlich lange reden. Wer soll das denn konkret leisten, die Entwicklung digitaler Tools und die Anpassung von LLM an die Bedürfnisse der Schulen in Deutschland?
Dafür braucht es genau jene dauerhafte Einrichtung länderübergreifender Zentren für digitale Bildung, die wir als SWK in unserem allerersten Gutachten überhaupt gefordert haben. In denen Experten aus Schulpraxis, Lehrerbildung, Wissenschaft und Unternehmen gemeinsam digitale Materialien und didaktische Konzepte für den Unterricht entwickeln und verteilen. Die Kompetenzzenten für digitales und digital gestütztes Lernen, die das BMBF befristet finanziert, sind ein erster Schritt, um zu zeigen, welches vielfältige Potenzial in digitalen Medien steckt. Wir müssen aber weg von der drittmittelfinanzierten, oft kleinteiligen Projektförderung. Wir müssen hin zum großen Ganzen, zum systematischen Blick auf einzelne Schulfächer, und dafür bräuchten wir größere Zentren ohne Befristung. Unser Vorschlag wäre, mit Zentren für zwei Fächer anzufangen, eine Naturwissenschaft, eine Sprache.
"Erst wenn ein Kind die eigenständige
Produktion von Texten wirklich beherrscht,
ergibt es Sinn, Tools wie ChatGPT einzusetzen."
Die SWK will ChatGPT & Co aus den Grundschulen möglichst heraushalten, warum?
Wir wollen nichts verbieten. Wir sind aber der Auffassung, dass das eigenständige Schreiben von Texten als Grundkompetenz und Kulturtechnik unbedingt erhalten bleiben muss. Schreiben ist das Werkzeug zum strukturierten Denken, zum Vernetzen der eigenen Gedanken und Argumente, das dürfen wir nicht preisgeben. Das Erlernen und Ausbauen dieser Kompetenz geschieht in der Grundschule und dauert bis in die Sekundarstufe hinein. Erst wenn ein Kind die eigenständige Produktion von Texten wirklich beherrscht, ergibt es Sinn, Tools wie ChatGPT einzusetzen. Aber immer in Form einer versierten Koaktivität – mit LLM als Hilfsmittel, um die eigenen Gedanken zu ordnen und weiterzuentwickeln.
Wie wollen Sie die Nutzung von ChatGPT durch Grundschüler verhindern? Spätestens am Nachmittag, wenn die Kinder zu Hause sind, ist der Zugriff möglich. Ist es dann nicht gefährlich, wenn die Grundschule das Tool tabuisieren würde?
Wir wollen nichts tabuisieren! Es ist sinnvoll, LLM und deren Nutzung in der Grundschule zu thematisieren. Aber wir müssen zugleich sicherstellen, dass der Erwerb von Schreibkompetenz nicht gefährdet wird. Deshalb werden Hausaufgaben künftig anders aussehen. Das klassische Textschreiben als Hausaufgabe wird es nicht mehr lange geben. Diesen Teil des Lernens müssen wir in den Unterricht verlagern, wo die Lehrkräfte einen Blick darauf haben.
Und wie wird sich die Prüfungskultur in den Schulen ändern? Ergibt das Schreiben von Klassenarbeiten ohne Hilfsmittel überhaupt noch Sinn, wenn das so gar nichts mehr mit dem späteren Leben zu tun hat?
Bildung wird auch künftig bedeuten, dass Wissen in den Köpfen entsteht und nicht einfach ausgelagert wird. Denn das ist die Voraussetzung, um die Welt begreifen zu können. Insofern wird es weiter hilfsmittelfreie Prüfungen geben, und das ist gut so. Aber je älter die Schüler werden, desto stärker kommt etwas Zweites dazu. Bin ich in der Lage, mein Wissen so einzusetzen, dass ich digitale Tools effizient prompten kann? Denn nur dann werden ich Texte erhalten, die mir wirklich etwas bringen.
"Ein Chatbot hat kein Verstehen, der liefert mir nur die statistisch wahrscheinlichste Antwort."
Prompten als neue Kulturtechnik?
Prompten als sprachliche Eingabe an den Chatbot, um ihn zu einer Antwort herauszufordern. Wie sinnhaft diese Antwort ist, ob sie einfach nur gut klingt oder tatsächlich stichhaltig ist, hängt entscheidend von meiner Eingabe ab, von meinem Inhaltswissen. Je mehr ich weiß, desto konkreter kann ich fragen und hinterfragen und anschließend prüfen, ob überhaupt richtig ist, was mir da geliefert wird, oder ob es sich um sogenannte Halluzinationen handelt, erfundene Sachverhalte, Zitate oder Fehler. Das erfordert eine hohe Kompetenz, die Schule künftig vermitteln muss und die Lehrkräfte, genauso wie die Schüler, erst erwerben müssen. Ein Chatbot hat kein Verstehen, der liefert mir nur die statistisch wahrscheinlichste Antwort.
Die Lehrkräfte können es auch nicht?
Die meisten sind in Sachen LLM und deren Einsatz genauso blutige Anfänger wie die Schüler, wobei die Schüler oft noch experimentierfreudiger sind. Darum plädieren wir als SWK für diese Übergangsphase und appellieren an alle Lehrkräfte: Setzt euch in dieser Zeit mit den Tools auseinander, macht eure Erfahrungen, übt damit, erstellt Unterrichtsmaterialien mit Hilfe von LLM. Dann merkt ihr schon, was funktioniert und was nicht. Natürlich kommt bei der Qualitätssicherung auch den Landesinstituten eine entscheidende Aufgabe zu, sie müssen zum praktischen Ausprobieren der Lehrkräfte die notwendigen reflektierenden Fortbildungen anbieten.
Wir wissen aus der Forschung zum Einsatz digitaler Medien, dass sie die Bildungsungleichheit eher noch erhöhen können. Man spricht dann vom sogenanntem Matthäus-Effekt: Wer schon hat, dem wird noch mehr gegeben. Vergrößert sich dieser Effekt durch LLM noch?
Wenn Sie die Kinder sich selbst überlassen bei der Nutzung von ChatGPT, ist das sicher so. Kinder, die von ihren Eltern die nötige Unterstützung und Bildung mitbekommen, werden dem Tool dann gute Fragen stellen, effektiv prompten, und gute Antworten bekommen. Sie werden auch eher in der Lage sein, die Qualität der Texte, die sie erhalten, einzuschätzen. Weniger privilegierte Kinder dagegen werden LLM unter Umständen so nutzen, dass sie eben nicht mehr das eigenständige Schreiben von Texten erlernen. Genau deshalb ist es ja so wichtig, dass Schule und Unterricht sich verändern und dass Lehrkräfte lernen, hier gezielt zu instruieren. Dann nämlich könnte es sogar zur gegenteiligen Wirkung kommen: wenn eine Lehrkraft LLM einsetzt, um Lernmaterialien zu erstellen, die auf die Leistungsniveaus der einzelnen Kinder angepasst sind. Oder auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Indem zum Beispiel Erklärtexte in einfache Sprache übersetzt werden, damit Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, einen besseren Zugang erhalten. In dem Sinne sollten LLM übrigens auch in den Grundschulen eine große Rolle spielen, in ihrer Nutzung durch die Lehrkräfte.
Insgesamt werden LLM viele interessante Unterrichtsmöglichkeiten eröffnen, die wir bisher nicht hatten. Etwa, wenn ein Kind durch LLM mit einer literarischen Figur reden kann, die ihm den Zugang zum Lesen eröffnet. Das sind didaktische Möglichkeiten einer interaktiven Bildung, die sich vor kurzem keiner hätte vorstellen können.
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Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe tritt zurück. Für die Bildungspolitik der Hansestadt und Deutschlands ist das ein Einschnitt – und für die Kultusministerkonferenz ein Verlust zu einem kritischen Zeitpunkt.
Foto: Daniel Reinhardt / Senatskanzlei Hamburg.
ES IST EINE ZÄSUR, und sie kommt völlig überraschend. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe wird am Montagabend seinen Rücktritt erklären. Offiziell scheidet er am Mittwochfrüh aus dem Amt aus. Das Hamburger Journal berichtete von ausschließlich gesundheitlichen Gründen: Der 63-Jährige müsse sich mehrere Monate schonen.
Damit verlässt nicht nur der dienstälteste Kultusminister die politische Bühne, sondern der erfolgreichste. Er hat die Bildungspolitik weit über Hamburg hinaus geprägt, sein strategisch-langfristiger Ansatz einer datenbasierten Schulentwicklung wurde von Bildungsforschern bundesweit zum Vorbild erklärt und von vielen seiner Ministerkollegen aus anderen Ländern kopiert.
Abgesehen von Edelgard Bulmahn, die bis 2005 als letzte Sozialdemokratin das BMBF führte, war der studierte Gymnasiallehrer der einflussreichste SPD-Bildungspolitiker seit zwei Jahrzehnten. Als langjähriger sogenannter A-Koordinator führte er die Bildungspolitik aller SPD-geführten Bildungsministerien zusammen, war ihr Gesicht. Und auch wenn Rabe den Regularien der Kultusministerkonferenz (KMK) entsprechend nur ein einziges Jahr, ganz zu Anfang seiner Amtszeit 2012, ihr Präsident war, so galt er doch parteiübergreifend als der mächtigste Strippenzieher des Ministerclubs, nicht wegen eines Hangs zu Winkelzügen, sondern im Gegenteil, wegen seiner beeindruckenden Geradlinigkeit.
Zugleich war sein sich über die Jahre zunehmend einstellender bildungspolitischer Erfolg Inspiration vieler später hinzugekommener Ministerkollegen – zeigte er doch, was mit Reformmut und Ausdauer möglich ist in einem so oft verkrustet wirkenden deutschen Bildungssystem.
Hamburger Erfolgsgeheimnisse
2018 setzte Ties Rabe einen Tweet ab, da war gerade der langjährige bayerische Kultusminister zurückgetreten. "Sieben Jahre Schulsenator und seit heute bin ich dienstältester Schulminister Deutschlands", schrieb Rabe. Ein Bildungspolitiker in Angeberlaune? Nicht ganz, denn dann folgte Rabes eigentliche Botschaft: "Kein Grund zu triumphieren - denn es tut Schulen nicht gut, wenn alle zwei Jahre der Minister wechselt und das Ministerium alles neu erfindet." Rabes Philosophie, in 280 Zeichen.
Seine Strategie war langfristig angelegt. Rabe ließ die Schüler häufiger als anderswo zu Untersuchungen des Leistungsstandes antreten, zusätzlich zu den (inzwischen bundesweit üblichen) Tests in Klasse 3 und 8 kommen in Hamburg landesweite Vergleichsarbeiten in den Klassen zwei, fünf, sieben und neun hinzu. Die Behörde sammelt weitere Leistungsdaten der Schulen, den Unterrichtsausfall etwa oder die Zahl der Schulabbrecher.
Entscheidend, sagte der Senator einmal, seien nicht nur die Daten, sondern das, was man damit mache: kein medientaugliches Schulranking, sondern eine Rückmeldung für jede Schule und jeden Lehrer. "Wir schauen genau hin, stellen die Schulen nicht an den Pranger, aber lassen sie auch nicht allein", sagte Rabe, der sein System "freundliche Belagerung" nannte.
Spätestens alle zwei Jahre schauen in Hamburgs Schulen externe Experten für eine Schulinspektion vorbei. Und der Senator selbst besuchte lange jeden Freitag eine Schule, setzte sich in den Unterricht, traf sich mit der Schulleitung zum Vieraugengespräch und mit dem ganzen Kollegium zur Konferenz. Und während andere Länder umstrittene Reformen noch diskutierten, handelte der ehemalige Gymnasiallehrer (Fächer: Deutsch, Religion Geschichte): Er führte einen verpflichtenden Deutschtest für Vierjährige ein und, falls Förderbedarf festgestellt wird, den verpflichtenden Besuch der Vorschule. Er pushte die Ganztagsschule, bis sie an den Grundschulen einen fast hundertprozentigen
Deckungsgrad erreichte, und installierte mit "Starke Schulen" schon vor Jahren ein Programm für Brennpunktschulen, wie der Bund es so ähnlich jetzt mit den "Startchancen" deutschlandweit umsetzen will. Hamburg brachte auch ein bundesweit einmaliges Schulbauprogramm auf den Weg, vier Milliarden wurden seit 2011 investiert.
Bevor Rabe Senator wurde, schien es ausgemacht, dass Stadtstaaten in nationalen Bildungsvergleichen schlecht abschneiden, doch trotz einer mit Berlin oder Bremen vergleichbaren Sozialstruktur gelang es Hamburg in den vergangenen zehn Jahren, zur Spitzengruppe aufzuschließen, sich teilweise sogar ganz vorn zu platzieren.
Hamburg habe "sich in den vergangenen 13 Jahren sukzessive hochgearbeitet", obwohl es 2009 noch zu den Schlusslichtern zählte, lobte erst im Oktober 2023 Petra Stanat, Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das regelmäßig den bundesweiten IQB-Bildungstrend erstellt. "Und das bei einem sehr hohen Anteil an Einwandererkindern wohlgemerkt."
Rabes Nachfolgerin als Senatorin wird Ksenija Bekeris, 45, stellvertretende SPD-Fraktionschefin und -Landesvorsitzende, und Berufsschullehrerin mit mehreren Jahren Schulerfahrung. Lorz folgt als hessischer Kultusminister der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schwarz, 55, nach, Oberstudienrat und früherer bildungspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion. Neuer hessischer Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur wird der 48 Jahre alte Politikwissenschaftler Timon Gremmels (SPD), zurzeit ebenfalls Bundestagsabgeordneter
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) kommentierte auf "X", sie bedaure Rabes Rücktritt sehr. Es sei sein Verdienst, das Schulsystem in Hamburg vorangebracht "und für viele zum Vorbild gemacht zu haben".
Und er wurde gebraucht, gerade erst wieder im vergangenen Jahr, als Eklats zwischen Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und der Kultusministerkonferenz die Verhandlungen um Startchancen-Programm und Digitalpakt 2.0 mehrfach um ein Haar gesprengt hätten. Er war an den richtigen Stellen unerbittlich und kompromissbereit, im Rücken sein nicht weniger versierter Staatsrat Rainer Schulz, der Vorsitzender der KMK-Amtschefskommission "Qualitätssicherung in Schulen" ist.
Inzwischen sind die Startchancen fast im Ziel, verhandelt von einer Vierer-Ländergruppe mit Hamburg, Rheinland-Pfalz, NRW und Schleswig-Holstein mit dem BMBF. Aktuell schauen die übrigen zwölf Länder auf die Details, Anfang Februar soll die Vereinbarung dann stehen. Allerdings ist immer noch unklar, ob die Bundesregierung nicht doch die für die Länder nicht weniger wichtige (und im Ampel-Koaltionsvertrag versprochene!) Digitalpakt-Fortsetzung wegspart.
Für die KMK ist Rabes Rücktritt noch in anderer Hinsicht geradezu dramatisch. Als am Freitag die diesjährige KMK-Präsidentin, Saarlands Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD), offiziell das Amt übernahm, fiel auf, dass bei dem Festakt in der saarländischen Landesvertretung in Berlin-Mitte neben Rabe auch sein CDU-Konterpart fehlte: Alexander Lorz, seit 2014 Hessens Kultusminister und Koordinator der unionsgeführten Bildungsministerien. Wie jetzt bekannt wurde, wird er in der neuen CDU-/SPD-Koalition das Finanzministerium übernehmen. Womit der KMK auf einen Schlag zwei ihrer wichtigsten und erfahrensten Protagonisten abhanden kommen.
Kontinuität in der zweiten Reihe, an der Spitze neue Hoffnungsträgerinnen?
Und das zu Beginn des Jahres, in dem Streichert-Clivot die lang vorbereitete Grundsatzreform der KMK, ihrer Gremien, Abläufe und ihres Sekretariats, zum Abschluss bringen will. Bei der KMK-Feier in der saarländischen Landesvertretung sagte KMK-Generalsekretär Udo Michallik, bei der nächsten Amtsübergabe in einem Jahr werde die KMK eine andere sein.
Der Bildungsföderalismus will seine Leistungsfähigkeit beweisen. Er muss es nicht nur angesichts seines schlechten Rufs oder eines (von den Kultusministern mutig selbst beauftragten) "Prognos"-Gutachtens mit teilweise katastrophalen Ergebnissen. Sondern auch weil, woraufhin zuletzt der ehemalige Berliner Bildungsstaatssekretär Mark Rackles in Table.Bildung hinwies, die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen eine AfD-Regierungsbeteiligung bringen könnten. Mit unabsehbaren Folgen für eine bislang auf dem Einstimmigkeitsprinzip beruhende Entscheidungsfindung bei allen wichtigen Fragen in der KMK.
Wie tief die Zäsur gerade durch Rabes Weggang ist, konnte man am Nachmittag auch daran erkennen, dass Streichert-Clivot umgehend eine Pressemitteilung veröffentlichen ließ, um den beiden scheidenden KMK-Präsidiumsmitgliedern zu danken. Es sei für die KMK "ein herber Verlust, an einem Tag beide Koordinatoren von A- und B-Seite zu verlieren", sagte Streichert-Clivot. Rabe und Lorz hätten über ein Jahrzehnt im Amt die Geschicke der KMK entscheidend mitgeprägt. "Hart in der Sache debattieren, aber immer wieder auch Kompromisse schließen können, immer orientiert an gemeinsamen, länderübergreifenden Handeln – das hat ihre Arbeit ausgezeichnet." Es folgte in der Pressemitteilung die Versicherung der eigenen Handlungsfähigkeit: "Die Mitglieder der KMK blicken zuversichtlich in die Zukunft und sind fest davon überzeugt, dass die positive Entwicklung des deutschen Bildungssystems unter der Führung neuer engagierter Persönlichkeiten fortgesetzt wird."
Was jedenfalls Hoffnung macht: Sowohl in Hessen als auch in Hamburg bleiben die Amtschefs hinter den Ministern im Amt. Rainer Schulz bestätigte mir auf Anfrage, dass er auf jeden Fall bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibe. Gewählt wird in Hamburg im Frühjahr 2025. Schulz gilt als Treiber und Ideengeber für die KMK-Reform. Ob er allerdings Vorsitzender der Amtschefkommission bleiben kann, wird sich zeigen. Denn solche Posten sind traditionell eng an die Koordinatoren geknüpft.
Apropos: Als mögliche Nachfolgerin in der Koordination der SPD-Bildungsministerien gilt Stefanie Hubig aus Rheinland-Pfalz, seit 2016 im Amt. 2020, im ersten Corona-Jahr, war sie KMK-Präsidentin und führte die Kultusministerkonferenz durch die Krise. Bis heute berichten Kultusminister, in den Pandemiejahren sei ihr Club sich nahe wie nie gewesen, seitdem sei die Arbeit miteinander eine andere geworden. Wird sie am Ende des Jahres mit dem Mut einer echten Reform gekrönt?
Eine, die als neue CDU-Koordinatorin sicherlich ihren Teil dafür tun würde, ist Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, stellvertretende Vorsitzende der Bundespartei, die über die Jahre zur einflussreichsten CDU-Bildungspolitikerin avanciert ist. Neben einem enormen politischen Instinkt hat Prien, die 2022 KMK-Präsidentin war, vor allem ein Erfolgsgeheimnis: Sie schaut sich um, was anderswo besonders gut funktioniert – und macht es nach. Besonders oft das Vorbild: Hamburg.
Nachtrag am 17. Januar, 19 Uhr
Neue Koordinatorinnen stehen fest
Nach den SPD-Kultusministern haben am Mittwoch auch die CDU-Ressortchefs entschieden, wer ihre Arbeit künftig in der Kultusministerkonferenz koordinieren wird. Wie erwartet votierten die Sozialdemokraten bereits am Dienstag für die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig als sogenannte "A"-Koordinatorin, ihre Unionskollegen wählten am Mittwoch Karin Prien aus Schleswig-Holstein zur Koordinatorin der "B"-Seite.
Die ebenfalls neue KMK-Präsidentin, die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD), lobte Hubig und Prien am Nachmittag als "zwei engagierte und erfahrene Kolleginnen, die in ihren Ländern erfolgreich und mit Herzblut Bildungspolitik gestalten". Sie freue sich auf die Zusammenarbeit und sei sicher, dass die neuen Koordinatorinnen "in enger Abstimmung mit der saarländischen Präsidentschaft für Kontinuität und zugleich Erneuerung sorgen können, die die KMK jetzt benötigt".
Die neue A-Koordinatorin Hubig sagte, ihr Vorgänger und langjähriger Hamburger Bildungssenator Ties Rabe werde als "sehr kluger und hoch geschätzter Kollege" fehlen. Dem ebenfalls ausgeschiedenen B-Koordinator Alexander Lorz wünschte sie für sein neues Amt als hessischer Finanzminister gutes Gelingen und dankte ihm für die stets enge Zusammenarbeit, "ganz besonders in der gemeinsamen Zeit im KMK-Präsidium".
Das Bildungssystem stehe vor vielfältigen Herausforderungen, sagte Hubig weiter und nannte unter anderem die Stärkung der Basiskompetenzen bei allen Schülern, Bildungsgerechtigkeit, den Umgang mit KI und die Demokratiebildung junger Menschen. "Wir leben im Zeitalter der Transformation – auf neue Fragen können wir dabei nicht mehr alte Antworten geben, stattdessen müssen wir das Lernen und Lehren neu denken." Auch ihr Ziel sei es, die KMK gemeinsam neu aufzustellen, "ebenso wie die neue Präsidentin Christine Streichert-Clivot dies vorhat." Schon seit dem Jahr 2020, dem Beginn der Pandemie in Hubigs Zeit als KMK-Präsidentin, sei es den Kultusministern gelungen, deutlich agiler zusammenzuarbeiten. "Hieran möchte ich anknüpfen."
Die neue B-Koordinatorin Prien sprach nach ihrer Wahl von einer verantwortungsvollen Aufgabe, "der ich mich angesichts der großen Herausforderungen vor denen unser Bildungssystem steht, gerne stelle". Dabei wolle sie an die Schwerpunkte der schleswig-holsteinischen KMK-Präsidentschaft von 2022 anknüpfen und den Weg der Reform der Kultusministerkonferenz fortsetzen.
Prien danke ihrem Vorgänger Lorz "für seinen unermüdlichen Einsatz als B-Koordinator für einen starken und kooperativen Bildungsföderalismus". Die über Parteigrenzen hinweg vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit in der Kultusministerkonferenz würden die B-Länder weitergehen und gemeinsam mit den A-Ländern die Bundesregierung "an ihre Versprechen, Zusagen und die gemeinsame Verantwortung" erinnern. "Jetzt geht es darum, das Startchancenprogramm und den Digitalpakt zu Ende zu verhandeln."
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
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