Die Schweiz stand ab 1914 unter zunehmendem Druck. Außenpolitisch war man ständig darum bemüht, die Neutralität zu bekräftigen, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Man nahm daher mit Blick auf die Wahrung der Neutralität auch die schon 1871 bei der Hospitalisierung der Bourbaki-Armee gezeigte Bereitschaft zur Humanität auf und erklärte sich so zunächst bereit, den Austausch von Zivilinternierten über Schweizer Gebiet in die Heimat zu übernehmen. Hier liegen die Anfänge der Liebestätigkeit oder des Liebeswerkes der Schweiz. Als nun 1914 von der Institution des IKRK bei der Schweizer Regierung angefragt wurde, ob man auch bereit wäre, sich um die diplomatische Vermittlung eines Austausches von schwerverletzten Kriegsgefangenen zu bemühen, wurden offizielle Stellen in der Schweiz wieder aktiv und vermittelten zwischen den Kriegsparteien. Unterstützung für dieses Projekt kam aber auch von kirchlicher Seite. Der Vatikan hatte humanitäre Bestrebungen und hoffte, diese durch eine Zusammenarbeit mit der Schweiz in die Tat umzusetzen. So konnte schließlich, auch unter Vermittlung des Vatikans, zwischen Deutschland und Frankreich ein Austauschabkommen geschlossen werden. Nachdem der Austausch erfolgreich angelaufen war, ergriff erneut das IKRK um Präsident Gustave Ador die Initiative und schlug der Schweizer Regierung die Hospitalisierung von Kriegsgefangenen vor. Als man sich nun Anfang 1916 darauf geeinigt hatte, medizinische Nachlesekommissionen aus der Schweiz nach Deutschland und Frankreich zu schicken, um die Kriegsgefangenen zu untersuchen und auszuwählen, konnten nach einer probeweisen Internierung die ersten Züge in die Schweiz rollen. Für die Internierten wurde dann eigens eine eigene Verwaltung unter Leitung von Armeearzt Oberst Jakob Hauser eingerichtet, welche dafür Sorge trug, dass die Internierten in der ganzen Schweiz verteilt wurden. Zur medizinischen Versorgung wurden vom Armeearzt zahlreiche Ärzte eingeteilt und man eröffnete in allen Internierungsregionen Einrichtungen, in welchen man die Internierten täglich behandeln konnte. Notwendige Operationen wurden in Schweizer Krankenhäusern und bis Herbst 1917 in der Armeesanitätsanstalt (A.S.A.) in Luzern durchgeführt. Diese war im heute noch bestehenden Gebäude der Schweizer Unfallversicherung (SUVA) untergebracht. Im medizinischen Bereich lässt sich bei einem Blick auf die Publikationslisten Schweizer Ärzte ein starkes Interesse an der theoretischen Kriegsmedizin erkennen. Neben Schuss- und Explosionsversuchen lässt sich aber ebenfalls eine lange Tradition der Lazarettreisen feststellen. Aus der Schweiz brachen immer schon Ärzte zu Konfliktherden auf, um dort zu arbeiten. Beispiele finden sich im 19. Jahrhundert, vor allem bei den Kriegen von 1866 und 1871. Im 20. Jahrhundert schickte man dann, überwiegend im Rahmen von Rotkreuzmissionen, zahlreiche Ärzte in das Krisengebiet auf dem Balkan. Mit Abschluss der Vereinbarungen über den Verwundetenaustausch und die Internierung von kranken und verletzten Kriegsgefangenen in der Schweiz erweiterte sich auch der Kreis der Ärzte, welche kriegschirurgisch tätig wurden. Diese Medizin in den Armeesanitätsanstalten in der Schweiz war jedoch anders als die Kriegschirurgie im Ausland. Die Patienten hatten in der Regel schon mindestens eine Operation in der Kriegsgefangenschaft hinter sich und wiesen häufig Komplikationen auf, welchen nun korrektiv entgegengewirkt wurde. Im Bereich der Orthopädie konnte man in der Schweiz auf die Erfahrung der großen Einrichtungen in Bern, Basel, Zürich, Lausanne und Genf zurückgreifen. Hier gab es orthopädische Spezialkliniken wie die Schulthess-Klinik am Balgrist in Zürich oder das Hospice Orthopédique in Lausanne. Verbunden mit der Krankengymnastik und der Rehabilitation war auch die Ausstattung der Internierten mit Prothesen für Arme und Beine. Man konnte hier die in den kriegführenden Staaten gemachten Erfahrungen anwenden. Man durfte Prothesen in der Schweiz nicht erwerben, deshalb richtete man spezielle Werkstätten in Stans, später Luzern und Engelberg ein, um Prothesen und orthopädische Schuhe anzufertigen. Der tatsächliche Erfolg und Umgang mit den verstümmelten und arbeitsunfähigen ehemaligen Kriegsteilnehmern war allerdings Sache der Heimatstaaten. Für die Schweiz endete die Behandlung mit der Repatriierung.
Die vorliegende Arbeit ist eine völkerrechtliche Analyse der bestehenden internationalen Vorschriften und Überwachungsmechanismen die dem Schutz internierter Kinder in bewaffneten Konflikten dienen. Den Schwerpunkt bildet dabei die Frage, ob bereits eine hinreichende Regelung dieses Rechtsbereiches gegeben ist und wenn ja, wie die Einhaltung der Normen effizient gewährleistet werden kann.Der erste Abschnitt klärt, ob Internierungen von Kindern in bewaffneten Konflikten überhaupt zulässig sind, welche Grundlagen sich dafür finden und welche Einschränkungen bestehen. Außerdem wird kurz darauf eingegangen, ob nicht die betroffenen Staaten zu alternativen Maßnahmen verpflichtet wären, anstatt gleich zu einem Freiheitsentzug zu schreiten.Im zweiten Abschnitt werden in umfassender Weise die konkret auf internierte Kinder anwendbaren Normen hinsichtlich der Gefangenschaftsbedingungen und der prozessualen Rechte dargestellt und ihr Zusammenspiel erläutert. Darüber hinaus wird ein Blick auf die Freilassung der betreffenden Kinder und die Wiedervereinigung mit ihren Familien geworfen. Sämtliche in Betracht zu ziehenden Abkommen werden auf ihren Umgang mit kinderspezifischen Bedürfnissen hin geprüft.Schließlich folgt im dritten Kapitel die Darstellung der unterschiedlichen Einrichtungen, welche der Überwachung der Einhaltung der relevanten Schutzstandards gewährleisten sollen. Es wird die Funktionsweise der einzelnen Kontrollorgane erklärt und ihr Eingehen auf die Problematik internierter Kinder in bewaffneten Konflikten überprüft. Dies ermöglicht schlussendlich eine Aussage darüber, welche Einrichtungen den Schutz von betroffenen Kindern am ehesten ermöglichen. ; The topic of this thesis is an analysis of the existing international norms and mechanisms which should ensure the protection of children who get interned during armed conflict. The main emphasis is put on the question if there are already sufficient regulations in place regarding this topic and if so, how the obeying of these rules can be guaranteed efficiently.The first chapter clarifies if the internment of children during armed conflicts is permissible in the first place, which legal foundations can be found allowing this praxis and what kind of restrictions exist with regard to this deprivation of liberty. Besides some attention is paid to the use of alternative measures to which states could be obliged to instead of immediately detaining affected children.In the second part of the thesis the rules applicable to interned children regarding the conditions of their detention and their procedural rights are described and the interaction of the different norms and legal fields is explained. In addition the terms of release of interned children and the reunification with their families are described. All the conventions considered in this chapter are examined for their handling of child specific needs.Finally in the last part the portrayal of the different institutions dedicated to the monitoring of the obeying of relevant protection standards follows. The functioning of each controlling organ is explained and its praxis is analyzed regarding the problem of interned children in armed conflict. All this leads to the final conclusion about which body serves best to guarantee the protection of affected children. ; von Pia Olivia Niederdorfer ; Abweichender Titel laut Übersetzung der Verfasserin/des Verfassers ; Graz, Univ., Dipl.-Arb., 2012 ; (VLID)225066
Am 16. Juni 1948 kaufte die Stadt Stuttgart von dem Kunsthändler Dr. Erwin Sieger zwei alte niederländische Gemälde für die exorbitante Summe von 400.000 RM. Es handelt sich um eine Landschaft von Meindert Hobbema und eine vermeintliche Darstellung von Jakob und Rebekka am Brunnen, die Philip van Dijk zugeschrieben wurde. Es wurden keine Echtheitsgutachten eingeholt und dem Kunsthändler Sieger blind vertraut, obwohl er von der amerikanischen Militärregierung 1945 interniert worden war und Gemälde seiner Kunstsammlung restituiert wurden. Die aktuelle Untersuchung der beiden Kunstwerke im Rahmen des Provenienzforschungsprojektes im Kunstmuseum Stuttgart ergab, dass der van Dijk eine Nachbildung ist und die Autorschaft hinterfragt werden muss. Außerdem ist die Provenienz sehr bedenklich. Vor diesem Hintergrund stellen sich Fragen: War der extrem hohe Preis damals gerechtfertigt? Wie sind Wert und Bedeutung der Gemälde heute zu bewerten? Warum kam es zu der Erwerbung? Der Beitrag versucht 1. die Rekonstruktion des mysteriösen Ankaufs, 2. die Lüftung des Rätsels von der Herkunft und Authentizität bisher unbekannten Bilder, und 3. die Erforschung der Biografie von Dr. Erwin Sieger.
Im Sommer 2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. Durch diesen Krieg kamen 17 Millionen Menschen ums Leben und er führte zu einem unfassbaren Ausmaß an Elend und Verwüstung in weiten Teilen Europas. Obwohl Villingen von den direkten Kriegsereignissen des Ersten Weltkrieges weitgehend verschont blieb, hatte dieser dennoch Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Stadt. So kam es schon 1915 zu Versorgungsengpässen und die ersten Rohstoffsammlungen wurden durchgeführt. Die Brotkarte wurde eingeführt, Öl, Fett, Zucker, Eier, Heiz- und Brennstoffe wurden knapp und mussten rationiert, gestreckt oder ersetzt werden. Schon bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden in Villingen französische und russische Kriegsgefangene interniert, später kamen dann auch britische und amerikanische Inhaftierte dazu. Das Kriegsgefangenenlager befand sich auf dem Gebiet des heutigen Welvert. Den Gefangenen ging es, was die Versorgung mit Lebensmitteln anging, wesentlich besser als der Villinger Bevölkerung. Auch durften gefangene Offiziere zusammen mit dem Wachpersonal Ausflüge in der Umgebung des Lagers machen und obwohl die Kontaktaufnahme zur Villinger Bevölkerung strengstens untersagt war, suchten die Offiziere das Gespräch mit Schülern.
Die Magisterarbeit liefert eine mikrohistorische Untersuchung eines von insgesamt 16 Assembly Centers, welche die U.S.-Armee nach dem Angriff auf Pearl Harbor entlang der Westküste der Vereinigten Staaten errichtete. Die Arbeit knüpft an das kulturalistische Widerstandsparadigma der Postcolonial-Studies an, welches die Rückbesinnung auf japanische Werte und Traditionen als Ausdruck von Widerstand wertet. Diese These wird durch mikrohistorische Analyse geprüft, wobei nach dem Grad der Mobilisierung der in Tanforan internierten Japano-Amerikaner, nach den Ursachen des Widerstands, nach dessen Zielen und nach den Mitteln, welche die Insassen einsetzten, gefragt wird. Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass das Lagerleben von einem dynamischen Prozess sich wechselseitig bedingter Machtausübung der Inhaftieren und deren Bewacher gekennzeichnet war, ohne dass es zu einer Radikalisierung einer kulturell bestimmten Ethnizität kam. Mechanismen wie Verdrängung, Humor, Protest sowie Sympathie mit den Wärtern dienten zur Bewältigung des Lagerlebens und verhinderten offenen Konflikte. Neben der Beantwortung der o.g. zentralen Fragestellung geht es der Arbeit darum, den doppeldeutigen Charakter Tanforans herauszuarbeiten; einerseits war es ein Konzentrationslager, gekennzeichnet durch permanente Überwachung, tägliche Anwesenheitsappelle, primitive Lebensbedingungen, Zensur, Versammlungsverbot, willkürlich Inspektionen; andererseits wird gezeigt, dass die Lagerverwaltung bestrebt war demokratische und humanitäre Prinzipien umzusetzen.
Während des Ersten Weltkrieges diente die in der Garnisonstadt Metz aufgewachsene Adrienne Thomas, geb. Hertha Strauch, als Rot-Kreuz- Schwester. Diese Erfahrungen, die sie in einem später veröffentlichten Tagebuch festhielt, verarbeitete sie auch in dem sehr erfolgreichen Antikriegs- und Liebesroman "Die Katrin wird Soldat" (1930). Ein Jahr später erschien im "Völkischen Beobachter" ein Hetzartikel gegen dieses Buch, worauf sie ins Ausland floh. 1940 wurde sie im Frauenlager Gurs interniert. Mit gefälschten Entlassungspapieren konnte sie jedoch entkommen. 1941 gelang ihr die Flucht in die USA. Sie lebte dort als freie Autorin und publizierte ihre Werke in Exilverlagen. Während der NS-Zeit waren ihre Werke verboten, sie zählte zu den "verbrannten" Autoren. Im Exil schrieb sie Beiträge für die "Basler Nachrichten", für die "Neue Jüdische Zeitung" und für das "Free World Magazine". Adrienne Thomas hatte sich in Amerika gut eingelebt, trotzdem kehrte sie 1947 auf Drängen ihres Mannes, des Politikers Julius Deutsch (1884- 1968), nach Osterreich zurück und führte in ihrem Haus in Grinzing einen Salon. Ab 1948 schrieb sie für die Wiener Tageszeitung "Neues Österreich" eine Artikelserie über die Zeit der Vertreibung und das Leben im Exil. Außerdem veröffentlichte sie Romane, Novellen und Hörspiele. Später war sie ihrem Mann bei der Niederschrift seiner Memoiren behilflich und beschäftigte sich schließlich nur noch mit Uberarbeitungen und Korrekturen ihrer eigenen Werke. Die Tagung steht im Zusammenhang des derzeit am lWK unter der Leitung von Ernst Seibert laufenden Projektmoduls "Jüdische Schriftstellerinnen in Österreich - ihr Leben, ihr Schicksal und ihr Schaffen" des Großprojektes "biografiA Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen" (www.biografia.at).
Am 26. Januar 2003 verstarb in Bonn die Orientalistin Annemarie Schimmel. International galt sie als eine der namhaftesten Gelehrten, die Deutschland auf dem Gebiet der Islamwissenschaft in der jüngsten Vergangenheit hervorgebracht hatte. Annemarie Schimmel wurde am 07.04.1922 in Erfurt geboren und verbrachte hier ihre Jugend. Die ersten Kenntnisse des Arabischen vermittelte ihr der Erfurter Lehrer und Lektor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Dr. Hans Ellenberg. Annemarie Schimmel durfte zwei Schuljahre überspringen und legte bereits mit 16 Jahren das Abitur ab. Sie studierte ab 1939 an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) in Berlin. Zunächst immatriku-lierte sie sich in den Fächern Chemie und Physik. Sie hörte jedoch auf den Rat ihres akademischen Lehrers, des Professors für islamische Kunst-geschichte, Ernst Kühnel und konzentrierte sich sehr bald auf ihre eigent-lichen Interessensgebiete Arabistik und Islamwissenschaften. Am 20. November 1941 wurde die 19-Jährige mit der Doktorarbeit "Die Stellung des Kalifen und der Qadis im spätmittelalterlichen Ägypten" mit magna cum laude an der Universität Berlin promoviert. Bis Kriegsende war sie im Auswärtigen Amt als Übersetzerin tätig. Von Mai bis September 1945 wurde sie als Angehörige des Amtes durch die US-amerikanischen Behörden in Marburg interniert. An der dortigen Universität konnte sie 1946 mit nur 23 Jahren ihre bereits in Berlin begonnene Habilitation mit der ungedruckten Schrift "Die Struktur der Militärschicht unter den späten Mamluken" abschließen. 1951 promovierte Schimmel mit der Arbeit "Studien zum Begriff der mystischen Liebe in der frühislamischen Mystik" ein zweites Mal, diesmal in Religionswissenschaft bei dem von ihr sehr verehrten Marburger Religionshistoriker Friedrich Heiler. Im Jahr 1953 ernannte sie die Universität Marburg zur außerplanmäßigen Professorin. Einen ordentlichen Lehrstuhl gab es aber für sie in Deutschland nicht. In der Türkei jedoch erhielt sie an der neu gegründeten Islamisch-Theologischen Fakultät in Ankara eine Professur für Religionsgeschichte, die sie von 1954 – 1959 wahrnahm. Ab 1961 war Annemarie Schimmel außerplanmäßige Lektorin und später Honorarprofessorin am Seminar für Orientalische Sprachen der Universität Bonn. Von 1967 an folgte sie einem Ruf nach Harvard, wo sie zunächst als "Lecturer on Indo-Muslim Culture" begann und von 1970 bis zu ihrer Emeritierung 1992 die gleichnamige Professur bekleidete. Sie unterrichtete immer nur ein Semester pro Jahr, allerdings das doppelte Pensum und widmete die übrige Zeit der Forschung und ihren Reisen, die sie ab 1958 auch regelmäßig nach Pakistan und das muslimische Indien führten. Von 1980 bis 1990 war Annemarie Schimmel als erste Frau Präsidentin der International Association for the History of Religion. 1997 wurde sie schließlich in das Kuratorium der neu gegründeten Universität Erfurt berufen. Aus Verbun-denheit mit ihrer Heimatstadt vermachte sie der Erfurter Universität einen Teil ihres Nachlasses. Einige Tausend Bücher des Bestandes der Universi-tätsbibliothek tragen nun das "Exlibris Annemarie Schimmel." Eine Besonderheit stellt die beeindruckende Sammlung von Orden, Ehren-doktoraten und anderen Auszeichnungen dar, die der Orientalistin verliehen wurden und ebenfalls Bestandteil des Nachlasses sind. Zeit ihres Lebens setzte sich Annemarie Schimmel für ein besseres Verständnis des Islams im Westen und für ein friedliches Miteinander von Muslimen und Nicht-Muslimen ein.
Carl Clauberg wächst in einer Atmosphäre dominanter Männlichkeit auf. Familie, Schule, Krieg, Verbindungsleben und Studium vermitteln die Überlegenheitsansprüche männlichen Daseins und die Option auf Führungspositionen. Gleichzeitig wird von seinen Sozialisationsagenturen und durch seine Profession eine ungebändigte Fortschrittsgläubigkeit durch Experimente gefördert. Während Claubergs Schulzeit als eine positive Abweichung von der Normalität gewertet werden kann, verdichten sich nach seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg die negativen Vorzeichen bei seinem Verhalten, die Clauberg letztlich bis nach Auschwitz und Ravensbrück führen, um dort an internierten Jüdinnen und so genannten 'Zigeunerinnen' eine neue unblutige Sterilisationsmethode zur Massenanwendung zu testen. Carl Clauberg kann sich in der Hormonforschung einen anerkannten Namen mit einem Hormontest für Gestagene erarbeiten, wobei er allerdings den Urheber unterschlägt. Nachdem seine Universitätskarriere scheitert, überlässt er sich einem Forschungsfanatismus, durch den ihm die Frauen aus den Konzentrationslagern zwangsweise zugeführt werden. Als Gegengewicht zu seinen Sterilisationsexperimenten schafft Carl Clauberg die 'Stadt der Mütter'. Claubergs Idealtypus – ein Forschungsinstitut mit landwirtschaftlichem Versuchsgut - in dem nach rassenhygienischer Lesart 'wertvolle' Mütter ihre Kinder bekommen können und die durch Rassenfanatismus selektierten und von ihm sterilisierten Frauen weiterhin als Versuchsobjekte sowie als willfährige Hilfsarbeiterinnen zur Verfügung stehen sollen, realisiert sich nur zum Teil. In seinem Privatleben richtet Carl Clauberg für sich und seinen Wunsch nach leiblichen Kindern eine 'Dreiecksehe' ein, da seine Ehefrau steril ist. Diese unter Zwang zusammengehaltene Dreierbeziehung bricht bei seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft auseinander. Carl Clauberg verfolgt 'seine' beiden Frauen dermaßen mit krankhafter Eifersucht, dass diese Hilfe beim Gesundheitsamt suchen und an seinem Geisteszustand zweifeln. Noch aus der Psychiatrie und der anschließenden Untersuchungshaft heraus überzieht Carl Clauberg seine Ehefrau und seine 'Zweitfrau' mit Drohbriefen und extremen Forderungen für seine Lebensplanung, doch die Frauen ziehen sich von ihm zurück. Sowohl beruflich wie privat steht er vor einem selbstverursachten Scherbenhaufen. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn komplettiert den Zusammenbruch seiner Pläne von Anerkennung und Ruhm. Claubergs Sterilisationsopfer aus den Konzentrationslagern berichten von dessen Eingriffen und den daraus resultierenden gesundheitlichen Problemen. Doch Clauberg will in den Lagern lediglich ein 'Lebensrettungsinstitut' betrieben haben, um den Preis der Fruchtbarkeit. Der Tod ereilt Carl Clauberg vor der Eröffnung des Gerichtsverfahrens. Seine Opfer müssen ihren Wunsch nach öffentlicher Gerechtigkeit begraben. ; Carl Clauberg grows up in an environment of dominating masculinity. Family, school, militarism, academic education and fraternity life created a setting, which supports an entitlement to male superiority and a claim to leading positions. This claim of superiority combined with his socialisation agencies and profession fuel an untamed conviction that experiments advance progress, are the conditions, that ultimately lead Clauberg to Auschwitz. Women surround Carl Clauberg not only in his private life – where he establishes an unusual family unit, which he dominated and held together by all means necessary – but also in his experiments on the female bodies, which he learned to do through his specialist medical training and which furthered his career and fuelled his ambitions. After he has to abandon a university career, he commits to a research fanatism with the result, that women from the concentrations camps Auschwitz und Ravensbrück are forcibly supplied to him. Clauberg's "ideal type" – a research institute with farm style research methods – in which women considered 'valuable' according to Nazi eugenics can give birth to their children and the women he has already sterilised based upon their race can continue to serve as test subjects and submissive assistants, only materialised in part. After the war and his time in a soviet P.O.W.-camp, he showed no demonstrable signs of self-criticism or understanding. However, he was confronted with the self-induced shattered remains of both his professional and private lives, in which 'his' women expressed their regained self-determination
Das Ergebnis meines umfangreichen Forschungsprojekts ist die erste Monographie über den bedeutenden multidisziplinären Wissenschaftler und lange unterschätzten Schriftsteller H. G. Adler, einem wichtigen Mitglied des Kreises um Elias und Veza Canetti, Erich Fried u. a. Adler, ein deutsch-jüdischer Schriftsteller, geboren 1910 in Prag, war während des Zweiten Weltkriegs in mehreren nationalsozialistischen Konzentrationslagern (Theresienstadt, Auschwitz) interniert und lebte von 1947 bis zu seinem Tod im Jahr 1988 im Exil in London. Dieser Autor ist eine der interessantesten und vielseitigsten literarischen und wissenschaftlichen Persönlichkeiten der Nachkriegsgeschichte. Neben zu Lebzeiten veröffentlichten monumentalen Pionierarbeiten über den Holocaust hinterließ er ein wichtiges und zu einem großen Teil unveröffentlichtes Werk, das sowohl aus Erzählprosa, Gedichten und dramatischen Arbeiten besteht als auch aus wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern über Geschichte, Soziologie, Politik, Psychologie, Sprache und Literatur, Musik, bildende Kunst, Philosophie, Theologie und jüdische Themen. Adlers Werk ist für viele Bereiche von Bedeutung, für die europäische Kultur- und Geistesgeschichte, für die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts, für die Exilforschung, für die Holocaustforschung u. a. und wird - so hoffe ich - in Zukunft erheblich mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Diese Arbeit trachtet oft eingeklagte Defizite im Bereich der österreichischen Exilforschung zu beheben. Ihre wichtigsten Themenbereiche sind: H. G. Adlers Biographie, Theresienstadt, Exil in England, die Entstehungsgeschichte der Werke, die gegenseitige Abhängigkeit von wissenschaftlichem und literarischem Werk, H. G. Adler's Position unter Schriftstellern wie Karl Kraus, Franz Kafka, George Orwell, Elias Canetti und W. G. Sebald, H. G. Adler als Nachlassverwalter von Franz Baermann Steiner, H. G. Adlers Stellung im Londoner Emigrantenkreis sowie H. G. Adlers Verhältnis zu Österreich (trotz seines englischen Exils fühlte er sich dem österreichischen Kulturkreis angehörig und unterhielt weiterhin intensive Beziehungen zu Österreich). Außer Adlers bedeutendsten und bekanntesten wissenschaftlichen Werken wie "Theresienstadt 1941-1945" und "Die verheimlichte Wahrheit" wurden für die Monographie besonders bisher von der Forschung wenig bzw. überhaupt nicht wahrgenommene Werke wie "Die Dichtung der Prager Schule" und "Der Kampf gegen die 'Endlösung der Judenfrage'", die umfangreichen und stark autobiographisch strukturierten bzw. beeinflussten Romane "Panorama", "Eine Reise" und "Die unsichtbare Wand" sowie zahlreiche unveröffentlichte Texte, Dokumente und Photos aus dem Nachlass herangezogen. Eine vollständige Bibliographie der Veröffentlichungen H. G. Adlers von 1947 bis 1988 rundet diese Arbeit ab. Der Zeitpunkt für eine Monographie über H. G. Adler ist ideal: 2008 - H. G. Adlers 20. Todestag; 2010 - H. G. Adlers 100. Geburtstag. ; The result of my extensive research project is the first comprehensive study on the life and work of H. G. Adler, an important member of the circle around Elias and Veza Canetti, Erich Fried etc., whose ground-breaking scholarly work long overshadowed his reputation as a creative writer. Adler, a German-Jewish writer, born in Prague in 1910, was the inmate of various National Socialist concentration camps (Theresienstadt, Auschwitz) during the Second World War and lived in exile in London from 1947 until his death in 1988. Both as a scholar and as a creative writer, this prolific author is one of the most interesting and most versatile personalities in postwar history. In addition to publishing seminal works on the Holocaust, he left behind an important and to a large extent unpublished body of work, consisting of narrative prose, poetry and drama as well as scholarly articles and books on history, sociology, politics, psychology, language and literature, music, arts, philosophy, theology and Jewish studies. The works of H. G. Adler address central contemporary concerns, cover a large number of areas of interest (European cultural and intellectual history, 20th century German literature, exile studies, Holocaust research etc.) and shall thus - so I hope - attract considerably more attention in the future. This monograph attempts to close a major gap in exile studies that has often been complained about in the past. Its most important topical areas are: H. G. Adler's biography, Theresienstadt (Terezín), exile in England, the development and interdependence of scholarly work and literature, H. G. Adler's position amongst writers such as Karl Kraus, Franz Kafka, George Orwell, Elias Canetti and W. G. Sebald, H. G. Adler as Franz Baermann Steiner's literary executor, H. G. Adler's position amongst London émigrés, H. G. Adler and Austria (despite his exile in England, Adler throughout his life remained closely associated with Austrian culture). This study focuses on Adler's most important and best known works "Theresienstadt 1941-1945" and "Die verheimlichte Wahrheit", books and articles like "Die Dichtung der Prager Schule" and "Der Kampf gegen die 'Endlösung der Judenfrage'", which have hitherto been neglected by academic research, the voluminous autobiographically structured or autobiographically influenced novels "Panorama", "Eine Reise" and "Die unsichtbare Wand" as well as numerous unpublished texts, documents and photographs from Adler's literary estate. It is rounded off by a complete bibliography of H. G. Adler's publication from 1947 to 1988. The time for a monograph about H. G. Adler is ideal: 2008 - 20th anniversary of H. G. Adler's death; 2010 - H. G. Adler's 100th birthday.
Als 2017 L'État de siège von Albert Camus, ganze 59 Jahre nach der Uraufführung, erstmals wieder in einem großen Haus inszeniert wurde – im Pariser Théâtre de la Ville, in der Regie von Emmanuel Demarcy-Mota – interpretierte das französische und US-amerikanische (Gastspiel-)Publikum im Kontext bevorstehender Wahlen und erfolgter Regierungswechsel das Stück als Prophezeiung: Der auf die Bühne gebrachte Belagerungszustand durch finstere Mächte, repräsentiert durch eine personifizierte Pest, spreche vom Aufstieg des Front National, von den neuen politischen Zuständen unter Trump. Ebenfalls 59 Jahre nach der Stückpremiere erschien mit Albert Camus et 'L'État de siège'. Genèse d'un spectacle eine theaterhistoriographische Monographie, die die beinahe vergessene Uraufführung von 1948 thematisiert. Zugleich entwickelt sie, von diesem mikrohistorischen Kreuzungspunkt ausgehend, ein Bild der theaterpraktischen, literarischen, künstlerischen, politischen Verflechtungen in Frankreich von den 1930er-Jahren bis in die Nachkriegszeit. "L'acteur règne dans le périssable. […] La convention du théâtre, c'est que le cœur ne s'exprime et ne se fait comprendre que par les gestes et dans le corps […]. Le corps est roi" (S. 121f). Camus verwendet in Le Mythe de Sisyphe (1942) die Figur des Schauspielers, um die absurde Kondition des Menschen darzulegen. Im Gegensatz zu manch anderen LiteratInnen und PhilosophInnen, die der Welt der – mitunter imaginierten – Theaterpraxis Elemente entlehnen und sie zu Metaphern umwandeln, fußt Camus' Bild vom Herrscher im Reich der vergänglichen Körper auf persönlicher Implikation und Erfahrung. Dass Camus nicht nur Literat, Journalist und Dramatiker war, entsprechend der im deutschsprachigen und frankophonen Raum dominierenden Wahrnehmung, sondern auch seit seiner Zeit in Algier Regie geführt hat, als Schauspieler auf der Bühne stand, und Direktor eines großen Theaters, L'Athénée, werden sollte (was durch seinen Unfalltod verhindert wurde), wird aus der vorliegenden Publikation deutlich, die mit der Entstehung von L'État de siège den Fokus auf die Reflexions-, Schreib- und Inszenierungsarbeit an einem Stück legt, das realistische, idealistische und allegorische Figuren, Chor- und Pantomimeszenen, Belagerung und Beulenpest, NS-Regime und spanischen Bürgerkrieg umfasst. Erschienen ist der Band im Traditionsverlag Classiques Garnier, der heute als Literatur- und Wissenschaftsverlag diverse geschichts-, kunst-, sprach-, sozial-, wirtschaftswissenschaftliche Reihen und Zeitschriften im Programm hat. Die Reihe Études sur le théâtre et les arts de la scène umfasst bislang zehn theater- und literaturwissenschaftliche Bände zu historischem und gegenwärtigem Theater, die einzelne Persönlichkeiten, z.B. Maurice Maeterlinck, ins Zentrum rücken, oder thematische Schwerpunkte setzen, wie etwa postkoloniale Dramatik oder Narration und Postdramatik. Der in Frankreich sowohl in der Inszenierungspraxis als auch in der Theaterwissenschaft nach wie vor merklich hohe Rang literarischer AutorInnen und ihrer Textproduktion lässt sich auch am neunten Band dieser Reihe unschwer erkennen: Im Gegensatz zu neuen Erkenntnissen zur Autorschaft an L'État de siège, die das Buch präsentiert, und die dem Regisseur Jean-Louis Barrault mindestens die Position eines Ko-Autors einräumen, wird im Buchtitel lediglich Camus' Name genannt. Auf 459 Seiten bietet der Band eine Chronologie, vier Anhänge mit transkribierten bzw. beschriebenen Archivdokumenten und -konvoluten, eine personen- und stückbezogen sortierte, ausführliche Bibliographie, einen Namensindex, sowie die historiographische Abhandlung, welche in vier große Kapitel untergliedert ist: Mit "L'État de siège avant Camus. Les prolégomènes" (S. 31) beginnt die Spurensuche ausgerechnet mit dem Zusammentreffen von Barrault mit Jean-Paul Sartre während der NS-Besetzung von Paris. Der zweite Teil, "Les protagonistes et la préparation de L'État de siège" (S. 109) resümiert die zeitlich vorangehenden und nachfolgenden Theaterambitionen und -erfahrungen von Camus und Barrault, sowie die Begegnung und Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner und Maler Balthus. Im dritten Großkapitel wird nach den expliziten und impliziten Quellen bzw. Vorbildern im Entstehungsprozess des Stücks gefragt, dazu zählen drei miteinander in Beziehung tretende, für Literatur- und Theatergeschichte bedeutende Texte – Daniel Defoes A journal of the plague year (1722), Antonin Artauds 1934 veröffentlichter Text Le théâtre et la peste, und Camus' Roman La Peste (1947) –, die unterschiedlichen Stückmanuskripte von Barrault und Camus, sowie die direkte und indirekte Prägung der beiden durch die Theaterreformversuche von Jacques Copeau. Der vierte Teil, "L'exégèse d'un moment éphémère. Le spectacle" (S. 259), analysiert die Rezeption des am 27.Oktober 1948 im Théâtre Marigny in Paris uraufgeführten Stücks durch die Presse sowie durch Zeitgenossen aus der Literatur- und Theaterszene. Die offensichtlichste Originalität der Monographie besteht in der Wahl des Forschungsobjekts: Ein am Verriss durch die Presse gescheitertes Stück über das Leiden und Rebellieren einer Stadtbevölkerung im Belagerungszustand, das lediglich um die Jahreswende 1948/49 in Paris aufgeführt wurde, steht im Zentrum. Kein Publikumsmagnet, kein Theaterskandal – also Scheitern als Chance für die Theaterwissenschaft? Tatsächlich steht nicht die Aufführung im Zentrum, sondern, so wie es der Untertitel suggeriert, die "genèse", die Entstehungsgeschichte des Stücks. Diese Prämisse bringt eine Reihe interessanter Erkenntnisse und unerwarteter Zusammenhänge ans Licht: Nicht nur die dramatische Autorschaft des Nobelpreisträgers Camus muss ausgeweitet werden auf das Zweiergespann Camus-Barrault, auch die Beiträge und vorangehenden Kontakte mit Antonin Artaud, Charles Dullin, Jacques Copeau, Jean-Paul Sartre, Étienne Decroux entspinnen sich beim Lesen zu einem komplexen Netz gehegter Theaterprojekte und -revolutionen, Schauspielpädagogik, literarischer Konkurrenzsituationen, Theaterarbeit unter NS-Herrschaft und politischer Ideologielandschaft im Nachkriegsfrankreich. Die Monographie macht deutlich, dass die Genesis von L'État de siège nicht mit "am Anfang war das Wort" beginnen kann. Die Basis legen Mitte der 1930er-Jahre Barrault und Artaud mit gemeinsamen Überlegungen zu den Zusammenhängen von Theater und Pest: Infektion, epidemische Verbreitung und Transformation, Leiden und Reinigen stecken den Assoziationsraum ab. Eine theatrale Verhandlung der Materie wird geplant, ausgehend von Defoe. Doch erst 1942, unter der Occupation – Artaud ist zu diesem Zeitpunkt interniert – verfolgt Barrault das Thema der Pest weiter, als "cataclysme […]. Je voulais montrer comment une société et tout individu parviennent à la purification par les forces noires" (S. 38). Sartre, der wie auch Barrault zu diesem Zeitpunkt in Dullins Schauspielschule unterrichtet, erfährt vom Projekt und vermittelt den Kontakt zu Camus, denn dieser arbeite an einem Roman zur Thematik. Camus will sich auf Barraults Stückprojekt einlassen, doch erst nach der Veröffentlichung von La Peste im März 1947 beginnt die Zusammenarbeit. Ausgehend von aufgearbeitetem Archivmaterial, darunter von Barrault verfasste Szenarien und von Camus ausformulierte Szenendialoge in sukzessiven Varianten, schlüsselt Vincenzo Mazza auf, welche Anteile – Stückhandlung und Bühnenaktion, Figuren, Strukturen – jeweils Camus oder Barrault zugerechnet werden können. Ausschlaggebend für bestimmte Figurenzeichnungen und Regieentscheidungen durch Barrault – insbesondere die personifizierte Pest, Funktionär eines mysteriösen, übermenschlichen Regimes im NS-Offizierskostüm, im Gefolge des Todes in Gestalt einer Sekretärin – ist die unmittelbare Vergangenheit. Camus hingegen bringt Elemente ins Spiel, die andere Interpretationen ermöglichen: Cadix als Ort der Handlung, und eine nihilistische und immerzu betrunkene Figur mit Narrenqualitäten namens Nada bringen Spanien-Bezüge ein, die für Camus biographisch mitbedingt sind. Assoziationen zum Spanischen Bürgerkrieg und Totalitarismus im Allgemeinen, die seit Beginn seiner Theaterarbeit und vor allem für den politisch engagierten Journalisten Camus zentral sind, wurden jedoch von der Pariser Presse vernachlässigt. Vielmehr wird kommentiert, drei Jahre nach dem Fall des NS-Regimes habe man genug von der Thematik. Das Ganze "rappelle un peu trop le style allemand" (S. 275). Paul Claudel beurteilt die Inszenierung von L'État de siège, in welcher Deklamationspathos, Pantomime, Chorszenen aufeinandertreffen, als "salade vivante, grouillante" (S. 327), und resümiert mit diesem Sprachbild die mehrheitlich negative Kritik in der Presse, die, über die inhaltliche Frage hinausgehend, wenig Geschmack an der szenischen Formgebung findet, deren nonverbale, stilisierte Szenen in den Augen einiger Theaterkritiker eher für (unseriöse) Varietébühnen gemacht seien. Die Schuld wird bei Barrault gesucht, denn allein ein Regisseur – "monstre omnipotent et tentaculaire" (S. 277) – könne ein literarisches Werk derart deformieren. Zwischen den Zeilen können LeserInnen hier auch einiges über die Macht, die politische und religiöse Motivation der Theaterkritik im Frankreich der 1940er-Jahre erfahren, sowie über den schleichenden Übergang vom alles überstrahlenden Autoren-Subjekt zur Etablierung der Theaterregie als eigenständigem künstlerischem Akt. Ausschlaggebend dafür, dass L'État de siège lange Zeit nicht erforscht wurde, ist nicht zuletzt die Quellenlage: Das umfassende, in Paris und Aix-en-Provence aufbewahrte Archivmaterial ist erst seit dem 1996 erfolgten Ankauf des Theaternachlasses von Barrault und Madeleine Renaud durch die Französische Nationalbibliothek öffentlich zugänglich geworden. Der vorliegende Band wertet nur einen Bruchteil der Archivdokumente aus; die Vorgehensweise ist allerdings überzeugend, denn konsequent werden personelle und textuelle Knoten geknüpft, in einem breiteren Zeithorizont, der dem "genèse"-Gedanken gerecht wird. Drei inhaltliche Aspekte der Publikation machen sie zudem für LeserInnen jenseits des Zirkels der Camus-Connaisseure relevant: Einerseits wird anhand einer Fallstudie Theaterschaffen als kollektiver Prozess mit komplexen Rollenverteilungen erforscht. Zum anderen wird deutlich, auf welche Weise versucht wird, Experimente der Theaterreform der 1910er- und 1920er-Jahre, mit Körpertheater und Chören, mythologischen Themen und nicht-psychologischen Figuren, in der Nachkriegszeit zu reaktivieren. Letztendlich kommt durch die Ausführungen zum personifizierten, gänzlich destruktiven oder womöglich doch heilsamen, Übel in L'État de siège der Wunsch nach einem neuen Buch auf – einer Geschichte von Pest und Theater.