Ob Fernsehschränke, Telefonzellen oder Computergehäuse – Umhüllungen und Verkleidungen medialer Technologien waren lange Zeit keine Gegenstände einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten, medientheoretischen Auseinandersetzung, obwohl gerade das insistente Fragen nach Möglichkeitsbedingungen, nach Rahmung, nach Materialität oder nach medialer Verfasstheit ein Erkennungsmerkmal medienkulturwissenschaftlichen Problembewusstseins darstellen will. Der Sammelband Gehäuse: Mediale Einkapselungen bietet eine ambitionierte und komplexe Theoriebildung zur vernachlässigten Handlungsmacht von Gehäusen an, indem das Gehäuse erstmalig großangelegt als medienwissenschaftliches Epistem befragt wird. Darüber hinaus eröffnen die Texte viele Einblicke in die Mediengeschichte der Hüllen, Behausungen und Bauformen von Apparaten und Technologien, aber auch von historischen Vorläufermedien, von Materialitäten wie Holz und Müll oder von Kulturtechniken der Speicherung und Übertragung. Als die Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft 2018 stattfand, fielen vielen Tagungsteilnehmer_innen die zahlreichen, kunstvoll bemalten Verteilerstromkästen des Gastgeberorts Siegen auf. Durch die Gestaltung der Kästen beabsichtigte die Stadt sich als kreativer Industrie- 'und' Kulturstandort zu positionieren – und sorgte auf Fußwegen zwischen den Veranstaltungsräumen der Tagung für Gespräche über Stadt-Ästhetik, Energiewirtschaft, Geschmack etc. Wenn eine ansonsten unsichtbare Materialität erst durch Verfremdungspraktiken überhaupt sichtbar und dann mit Energiewirtschaft oder Ingenieurswesen assoziiert wird, handelt es sich höchstwahrscheinlich um ein Medium, weil Medien Wirklichkeiten organisieren und kanalisieren und dabei einen Hang zur Unsichtbarmachung ihrer Körper und ihrer Agency haben. Es war das Medium 'Gehäuse', also der Kasten (und nicht der Kabelsalat oder der Strom), der im Stadtraum sichtbar wurde und sich selbst thematisierte: als neues Trägermedium für Kunst. Jene zuvor anästhetische, eigene Medialität von Gehäusen ist es, die Hans Blumenberg "Umkleidung des künstlichen Produkts mit Selbstverständlichkeit" (S.9) nannte, und die für die Herausgeber_innen des Sammelbands die Grundthese darstellt, dass Gehäuse "Orte der Vermittlung sind, die vordergründig der Stabilisierung eines Funktionsarrangements dienen, an denen sich aber auch Zeichenprozesse abspielen." (S.10) Dass eine Medientheorie der Gehäuse eine lohnende, komplexe epistemische Herausforderung darstellen könnte, wurde dabei bisher durch hartnäckige Abwertungen vernebelt: Einerseits imaginieren kulturelle Gemeinplätze Gehäusefiguren als äußerliche Nur-Hüllen/Nur-Fassaden/nicht-essenzielle Oberflächen bzw. als Blendwerke/Täuschungen und andererseits formulieren auch wissenschaftliche Kommentare zu medialen Hüllen solche meist lediglich als Verstärkerinnen des 'Eigentlichen', also als sekundäre, repräsentationslogische Thematisierungen des Gehäuseinneren, der Software (oder des guten alten Inhalts) 'in' der äußerlichen Aufbereitung (Form). Dem halten die Herausgeber_innen eine Theoretisierung des Gehäuses entgegen, die es nicht nur als eine 'Schicht' des Mediums denkt, sondern die das Gehäuse selbst als 'medial' begreift – also als performativ, als wirkmächtig und in intermaterieller Wechselwirkung mit Umwelt, Nutzer_in, Innenleben etc. Dazu werden in der Einleitung vier Kontextualisierungen des Begriffs entwickelt. Konzipiert als "materielle Artefakte" (S.11), können Gehäuse erstens mit theoretischen Anleihen aus den Material Culture Studies und der ANT perspektiviert werden, womit auch die Beziehung der Funktionalität von Gehäusen zu Fragen der (Inter‑)Materialität oder zu Praktiken des Alltags adressiert ist, sodass das Gehäuse "als ein Ort (mit eigener Medialität) beschrieben werden kann, an dem ein gestaltetes Artefakt mit Praktiken konfrontiert ist und an dem sich damit auch soziokulturelle Konflikte abspielen"(S.13). In einem zweiten Schritt werden dann Perspektiven aus Theorie und Praxis von 'Design' bemüht, da Produktdesign intrinsisch mit der Geschichte der Industrialisierung (etwa mit der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks) verschränkt ist und so die Ambivalenz von 'Funktionalität und Ästhetik' in den Fokus rückt. Unter den Blickpunkten des Designs betrachtet – geplanter Gebrauch vs. "übergreifende ästhetische Leitvorstellungen"– offenbaren sich Gehäuse als verhandlungsintensive Medien, mittels derer zeitgenössische "Kommunikation über gesellschaftlich geteilte Werte, Normen und Einstellungen" (S.18) stattfindet. Ein Gehäuse weist drittens sowohl die Charakteristika der 'Infrastruktur' als auch des 'Interface' auf. Als Interface erscheint es, weil es ein instrumentelles Bedienelement ist, das sich Nutzer_innen als Schnittstelle zuwendet. Es tritt aber zugleich als Infrastruktur in Erscheinung – bzw. macht sich als solche unsichtbar –, indem es eine Stabilisierung von Komponenten darstellt, welche das Funktionieren eines Systems garantieren und dessen Verhältnis zur Umwelt determinieren soll. Mit dieser Einsicht lassen sich Gehäuse gerade in ihrer "wechselnde[n] Positionierung […] als bedienbares Werkzeug oder als Teil der Architektur" (S. 21) eines ökologischen Dispositivs untersuchen. Die vierte Kontextualisierung bündelt die vorangehenden am Beispiel der Theoriegeschichte der Blackbox und überträgt diese auf die Frage nach einer medienkulturwissenschaftlichen Theorie der Gehäuse. Die "Logik des Blackboxing" besteht in der Einkapselung technischer Komponenten und deren Abschirmung von Anwender_innen, womit sie "materieller Ausdruck von Formalisierungs- und Technisierungsprozessen" (S.11) sind und eine je spezifische Ordnung von 'Intransparenz zugunsten von Transparenz' festlegen, indem ihr Weniger an Einsicht den Pragmatismus ihrer Handhabe optimiert. Auf Basis dieser Annahme lässt sich die Erschließung einer Theorie des Gehäuses an die epistemologischen Erkenntnisse der Kybernetik anknüpfen: Davon kann abgeleitet werden, dass Gehäuse ein allgemeines "Modell von Kognition"markieren, das darin besteht, dass sie praktisches Wissen hervorbringen und organisieren (Beobachten, Erkennen, Sehen, Erfassen, Lernen). So soll argumentiert werden, dass sich Gehäuse nicht in ihrem instrumentellen Charakter erschöpfen. Sie sind dann nicht Repräsentationen von ihnen ausgelagertem Wissen, von Werten oder Normen, sondern Interaktionsparter_innen im prozessualen Auf-Einander-Abstimmen und damit "Verfahren der Wissensproduktion" (S.22). Wie schon die Einleitung, richtet sich das Gros der Beiträge an medienphilosophische Leser_innen-Interessen. Die meisten Texte verhandeln, bezogen auf einen material- oder ideengeschichtlichen Diskurs oder auf historische/aktuelle Phänomene, immer auch die Fragen: Wie definiert sich eigentlich ein/das Gehäuse und welches grundlegende medientheoretische Wissen lässt sich darauf anwenden oder davon ableiten? Und was bedeutet das für unseren Medienbegriff? So offeriert der Sammelband etwa eine Theorie der Gehäuse von Notfalldingen als emergente "suspense-Techniken"(Martin Stiegler, S.302), eine Diskussion von Körperkapseln, die binäre Subjekt-Objekt-Ontologien auflösen (Andreas Broeckmann) oder auch eine medienphilosophische Untersuchung der Beeinflussung des etablierten Umweltbegriffs durch Uexkülls mediale Umweltkonzeption "als gläsernes Gehäuse", "stabil und fest dem Lebewesen zugehörig" sowie "unauffällig und transparent" (Julian Jochmaring, S.262). Auch die Frage danach, wie sich kultureller Wandel in Gehäusen zeitigt, begegnet widerkehrend: in der Analyse sowohl von solchen Imitationen einer kühlen Smart-Phone-Elektrogerätästhetik in zeitgenössischer Architektur (Tom Steinert), als auch (umgekehrt) von jenen Nachahmungen wärmend hölzerner Musikmöbel-Optik durch aktuelle Retro-Smart-Phone-Gehäuse (Leonie Häsler). Herausstechend sind jene Passagen, in denen die Gehäuse-Theoriebildung mit politischen, gesellschaftskritischen oder explizit gender-relevanten Fragen verschränkt wurde, und in welchen die Medialität von Gehäusen so hinsichtlich ihrer Verstrickung in Machtverhältnisse dargestellt wird. Auf Gender-Diskurse von medialen Gehäusen macht etwa Tobias Landers Inklusion einer Besprechung von Valie Exports Tapp- und Tastkinoin der Genealogie künstlerisch reflexiver Gehäuse-Mysterien aufmerksam. Heike Weber wiederum kommt in ihrer Analyse "[z]ur Vermittlung von Konsumtechniken" mitunter auf Ellen van Oosts einschlägige Gender-Skript-Studie zum elektrischen Rasierapparat der 1950er-Jahre zu sprechen und erweitert Oosts Schlüsse zur Vergeschlechtlichung von Medien durch das Beispiel von Radioportables der Zeit.Außerdem beobachtet Weber, dass die Interfaces von Waschvollautomaten um 1990 ein effeminierendes Script vorgaben, das ihren Anwenderinnen mitunter durch 'Bio-Programme' die soziale Rolle einer Koordinationsverantwortlichen für Hygiene-, Material- und Umwelt-Bewusstsein nahelegte. Zusammenhänge von sozialer Differenz mit ihren korrespondierenden Gehäusen betreffen nicht zuletzt klassifizierte Praxen. Anhand von "Behausungen des Mülls"zeigt etwa Laura Moisi auf, wie Müll "Dingen und Personen einen Platz in der symbolischen Ordnung des Sozialen zuweist und die Welt in Zonen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit aufteilt"(S. 214). Die Administration von Normativität durch Gehäuse ist auch Thema von Markus Krajewskis Kritik an der deutschen Architektur der Nachkriegszeit. Mosaik-, Raster- und Kachel-Strukturen im Stil karierter Collegeblocks dienen dazu – so die These – die Gegenwart zu dehistorisieren, "Gewissen reinzuwaschen" (S. 170) und "Bewohner in unbeschriebene Blätter zu wandeln", gleichsam "formatiert" (S. 171) und geschichtsvergessen. Derartige machtkritische Ausrichtungen der Forschungsbeiträge werden teilweise vermisst, wenn der ein oder andere Text sich etwa als genuin medienphilosophisch oder medienhistorisch versteht, und wenn dann das spezifische Selbstverständnis der Analyse- oder Theoretisierungspraxis impliziert, dass die untersuchte Medialität von Design, Infrastruktur oder Architektur ein Forschungsgegenstand ist, der unabhängig von dessen Gender-, Race-, Class- oder Ability-Dimensionen besprochen werden könnte. Eine Theorie von Gehäusen kann es nach meinem Dafürhalten nur unter den Prämissen geben, dass Gehäuse essentielle Agent_innen in Gefügen der Organisation von Accessibilities (Queer/Crip Theory) sind und dass sie eine Vergeschlechtlichung von Innerlichkeit/Äußerlichkeit durchwirkt – eine Perspektive, zu der Lektüren von Bourdieus Theorie des Hauses als gegendert-normalisierende 'verkehrte Welt' oder Sara Ahmeds feministischer Bezugnahme auf das Survival-Kit inspirieren könnten.[1] In viele Gehäuse von elektronischen Medien ist außerdem ein wichtiger Reminder für die Medientheorie buchstäblich 'eingeschrieben': "Made in China", "Made in Bangladesh" etc. verweisen auf materiale Implikationen von race/gender/class, die mit dem Outsourcing unserer Medienproduktion in Länder des Globalen Südens und mit der Ausbeutung von Women of Colour in der Medienindustrie einhergehen – ein entscheidendes und permanent anwesend/abwesendes Charakteristikum von Medialität im 21. Jh., das, wie Lisa Nakamura anregt, das kritische Verständnis von Medientheorie herausfordern sollte.[2] Ansätze einer solchen machtverhältniskritischen Haltung von Medienwissenschaftler_innen finden sich in Heike Webers Fazit zu Fragen des Blackboxings: "Was in einer Gesellschaft von einer jeweiligen Technik als wichtig zu wissen erachtet und was von dieser Technik erwartet wird, wird auch über Gehäuse- und Interfacedesign vermittelt, derweil andere Aspekte des Technischen ausgeschwärzt sind – und damit […] auch weiter im Machtraum der Technikproduzenten verbleiben" (S. 134). Denn bei aller vermeintlich öffnenden Ökologisierung von Medien als deren Emergenz in Smart Homes, Ubiquitous Computing oder Ambient Intelligence, darf nicht die Konjunktur zunehmender Schließung und Abgrenzung von Gehäusen übersehen werden. Auf diesen Prozess wird auch im Sammelband verwiesen: auf Vorgänge der "Isolierung", die beabsichtigen, "nur noch die notwendigen Ströme durchzulassen und unbefugte Zugriffe zu verhindern" (Florian Sprenger, S. 194). Till A. Heilmanns Text bietet dazu ebenso eine problembewusste Beobachtung an: Eine zunehmende Immunisierung des 'Machtraums der Technikpoduzent_innen' gegenüber Subversionen mittels gezielter Verunmöglichung von individuellen Eingriffen in Systeme "zwingt Nutzerinnen und Nutzern das Muster eines rein konsumierenden Umgangs mit und Gebrauchs von Computertechnik auf" (S.50). Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Telefonzelle auf dem Cover des Sammelbands als Überhang aus einer anderen Epoche, wenn wir daran denken, dass in den letzten Jahren immer mehr europäische Stadtadministrationen ihre öffentlichen Telefonzellen so umgebaut haben, dass sie nicht mehr von Obdachlosen als Schlafplatz oder Kälteschutz angeeignet werden können. [1] Siehe Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2009. Sowie Sara Ahmed: Feministisch Leben! Manifest für Spaßverderberinnen. Münster 2017. [2] Siehe Lisa Nakamura: "Indigenous Circuits. Navajo Women and the Racialization of Early Electronic Manufacture". In: American Quarterly, 66/4, Dezember 2014, S. 919–941.
Eine Verschränkung von Kunst und Zeitgeist will dieser aus einem 2015 stattgefundenen Workshop hervorgegangene Sammelband in seiner Untersuchung von "Grenzüberschreitungen und Grenzverschiebungen" (S. 10) im Spannungsfeld der Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität ergründen. Doch die in der Einleitung beschworene "interdisziplinäre Ausrichtung" (ebd.), die auch das Wort "multimedial" im Buchtitel eindeutig nahelegt, bietet bereits konzeptionell Anlass zur Kritik, denn sie entpuppt sich als Luftschloss. Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis offenbart eine eindeutige Schwerpunktsetzung hin zum geschriebenen Wort, welche durch die vollständige Lektüre nur konsolidiert wird: Neun von zwölf Aufsätzen drehen sich um Literatur, zwei um (im weitesten Sinne) Performance-Kunst, nur einer um Film. "Multimedial" ist anders. Medien wie Musik, die ebenfalls ein nachhaltiges Potenzial zu Provokation und Subversion in sich trägt; Gaming, das heute zu Recht immer wieder ins Bewusstsein der wissenschaftlichen/interdisziplinären Öffentlichkeit gerückt wird; oder was im weitesten Sinne unter die Bezeichnung "digitale Medien" fällt – sie alle bleiben vollkommen außen vor. Die Schwerpunktsetzung einer solchen Aufsatzsammlung ist selbstverständlich den Verantwortlichen überlassen, doch legen Titel und auch Einleitung eine inhaltliche bzw. thematische Breite nahe, die der Band nicht einzulösen vermag. Die Auswahl der einzelnen Stoffe und Beispiele mutet unter einem literatur- bzw. medienhistorischen Blickwinkel zudem etwas arbiträr an. Eine innere Kohärenz ist (jenseits des Leitthemas) nur schwer erkennbar. Das "Provokative und Subversive" aus den jeweiligen Untersuchungsgegenständen herauszuarbeiten, gelingt einigen Aufsätzen nur eher oberflächlich, anderen sehr gut, wobei einige von ihnen durchaus spannende neue Blickwinkel auf ihr Sujet eröffnen. Dahingehend sehr gelungen sind etwa die Beiträge von Anja Manneck, Franziska Flossmann und Sascha Tuchardt. So widmet sich Manneck Frank Wedekinds Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenem Dialog Hans und Hanne (1903) sowie dem darauf basierenden Drama Tod und Teufel (Totentanz) (1905) und zeigt auf stringente Weise auf, wie ein "positiv bewerteter Normverstoß […] zu einer Aufwertung der Figur [führt], die als 'emphatisches Leben' […] bezeichnet werden kann." (S. 50) Nicht die Einhaltung, sondern gerade der – in diesem Falle durch Prostitution sowie Sadomasochismus vollzogene – Verstoß gegen die im Text geltenden gesellschaftlichen Normen ermögliche einen zumindest temporären, jedoch letzten Endes tödlich endenden Verstoß gegen die Zwänge der sich durch eine "Unvereinbarkeit [mit] positiver Sexualität" (S. 54) auszeichnenden bürgerlichen Gesellschaft. Flossmann beschäftigt sich derweil mit Hermann Ungars Roman Die Verstümmelten (1922) und liest mit Hilfe einer Foucault'schen Volte die "beklemmenden Bilder körperlicher Ich-Dissoziation" (S. 64) des Romans als historisch-soziale Einschreibungen: "Der Körper der Figuren ist Repräsentant der Repression und zugleich das von der Repression leiblich Betroffene" (S. 76), wobei der jüdische Autor gezielt antisemitische Stereotype aufgreift, ausstellt und letztlich dekonstruiert (vgl. S. 70ff). Tuchardt befasst sich schließlich mit drei Romanen der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek – Die Ausgesperrten (1980), Die Klavierspielerin (1983) und Lust (1989) – und analysiert dicht an den Primärtexten das immer wieder auf satirische Weise porträtierte Beziehungsnetz von Beschreibungen der Natur mit Faktoren wie Sexualität, Macht, Ökonomie, Kommerz und kultureller Identität: "Jelinek [verschweißt] die Abgründe ihrer Figuren und Konflikte mit der Natur." (S. 166) Die Aufsätze von Elisa Meyer über Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930), von Vera Heinen über Edgar Hilsenraths Romane Nacht (1964) und Moskauer Orgasmus (1979) sowie von Christina Grevenbrock über die Installationskunst von Olaf Breuning sind ebenfalls argumentativ plausibel und thematisch stimmig, wenn auch in ihren politischen Schlussfolgerungen nicht ganz so tiefgreifend. Die weiteren Beiträge müssen sich jedoch teils Kritik gefallen lassen: Der Aufsatz von Tamara Fröhler über Ovids antike Schrift Narcissus et Echo ist zwar argumentativ konsistent und in sich schlüssig, jedoch wirkt die grundlegende Hypothese des Narziss als "geschlechtlich polyvalente[r] und nicht klar begrenzte[r] Transvestit-Doppelgänger" (S. 24) etwas forciert bzw. konstruiert, zumal essentialistische Zuschreibungen von Geschlechterrollen bzw. -stereotypen bestehen bleiben und eine politische Positionierung – im Gegensatz zu den drei zuvor herausgehobenen Beiträgen – kaum stattfindet. Eine Perpetuierung essentialistischer Muster besteht ebenfalls im Beitrag von Sanna Schulte, der sich mit Erica Pedrettis Roman Valerie oder Das unerzogene Auge (1986) auseinandersetzt und im Fazit der Analyse der Beziehung von männlichem Maler und weiblichem Modell auf etwas plakative Weise davon ausgeht, dass "der weibliche Körper an den Objektstatus gebunden ist und für schlichtweg alles zur Projektionsfläche werden kann." (S. 188) Solche Verabsolutierungen verunmöglichen jedoch einen Diskurs über potenzielle subversive Strategien, indem sie bestimmte soziale Gegebenheiten grundlos als unhintergehbar entwerfen und damit wiederum selbst an Prozessen kultureller Konstruktion beteiligt sind. Leonie Süwolto vermag in ihrem Aufsatz über Andreas Dresens Film Wolke 9 (DE 2008) zunächst überzeugend zu belegen, dass die in der Öffentlichkeit als Tabubruch wahrgenommene Darstellung von "Alterssexualität" (S. 223) insbesondere durch den Einsatz von Genrekonventionen des Melodrams letztendlich wieder in gängigen Darstellungsmustern "normativer Leitbilder des jungen Alters" (S. 226) mündet, wodurch ihr subversives Potenzial einer grundlegenden Enttabuisierung des Alters jenseits einer Bestimmung ex negativo "als Negation der Jugend" (S. 226) entschärft wird. Gleichwohl vermag der Beitrag – gerade mit Blick auf die immer wieder hervorgehobene quasi-dokumentarische Ästhetik des Films – gegen Ende nicht zwischen abstrakten gesellschaftlichen Strukturen und deren konkreten Auswirkungen zu unterscheiden, wenn die Reaktion des betrogenen Ehemanns auf das Affären-Eingeständnis seiner Frau sowie sein anschließender Suizid sehr verkürzt als "moralische[r] Dolchstoß" gelesen wird, "der die angekratzte Fassade eines gesellschaftlichen Norm- und Wertesystems zu restaurieren vermag." (S. 236) Thorsten Bothe wirkt in seinem Aufsatz über Muriel Sparks The Driver's Seat (deutscher Titel: Töte mich!, 1970) mit Formulierungen wie der Bezeichnung des Primärtextes als "eine anhand von Indizien überbordende Provokationsmaschine" (S. 151) etwas zu sehr bemüht, die eigentlich dezidiert vorhandene provokante Natur der Novelle herauszuarbeiten; auch findet eine Anbindung der Thematisierung von Autoassassinophilie (Lustgewinn durch den möglichen eigenen Tod) an einen politischen bzw. gesellschaftlichen Zeitgeist nicht statt. Heng Barone macht die subversive Natur von Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008) an einem alternativen "Sprachkonzept" (S. 243) fest, das auf einer rhetorischen Ebene "Bedeutungsverschiebungen [generiert], die […] zementierte Körpervorstellungen im Allgemeinen unterlaufen." (S. 247) Gleichwohl werden die Aussagen der Autorin hinsichtlich ihrer im Prozess des Schreibens vollzogenen "Selbstbefreiung" (S. 251) nicht hinterfragt; auch die gesellschaftlichen Konsequenzen eines "enthemmte[n] Sprechen[s] über Körperlichkeit" (ebd.) sehen sich in ihrer Vermischung von Privatheit und Öffentlichkeit keiner Reflexion ausgesetzt. Der Aufsatz von Christian Wimplinger über Christoph Schlingensiefs "Container-Aktion" Bitte liebt Österreich (2000) verliert sich in einer körper- und bildtheoretischen Selbstbezüglichkeit und lässt (trotz einiger Hinweise auf Big Brother) eine nachhaltige politische Fundierung nahezu vollkommen vermissen. Der Beitrag von Till Dahlmanns über Gottfrieds Tristan (Anfang des 13. Jahrhunderts) weist schließlich keinerlei Anknüpfungspunkte an das Leitthema der Provokation und Subversion auf; die Anbindung an den alles überspannenden Gegenstand des Buches, das zentrale Erkenntnisinteresse und damit den Sammelband als Ganzes bleibt unklar. Der Band richtet sich eindeutig an Personen mit einem literatur- bzw. medien- oder kulturwissenschaftlichen Hintergrund und ist als Einstieg in die Thematik kaum geeignet. Die Beiträge sind inhaltlich wie qualitativ heterogen, dabei ist insbesondere das bereits erwähnte Postulat einer vorgeblich multimedialen Ausrichtung, die im Endeffekt jedoch kaum eingehalten wird, etwas ärgerlich. Zudem treten in der Gesamtbetrachtung das Gestern und das Heute ebenso wie das Populäre und das Etablierte kaum in einen nachhaltigen Dialog – sie agieren nur selten miteinander, sondern stehen meist eher nebeneinander.
Ausgangspunkt meiner Analyse sind die mit der Idee eines Cyberspace nach wie vor verknüpften utopisch wie auch dystopisch überfrachteten Projektionen hinsichtlich ihrer kulturellen und ideologischen Beschaffenheit, des Zeitpunktes ihres Auftretens, ihrer anhaltenden Persistenz, ihrer sozio-symbolischen Funktion sowie ihrer Implikationen für gesellschaftliche Denk- und Wahrnehmungszusammenhänge. Technikdeterministische Vorstellungen eines 'Paradigmenwechsels', die Proklamierung einer technologisch bedingten 'Neudefinition' des Subjekts, die Idee einer Auflösung klassischer Dichotomien und einer Grenzüberschreitung von Raum, Zeit, Materie und Identität stehen in deutlichem Widerspruch zur tatsächlich beobachtbaren Reproduktion nicht nur konventioneller und dichotomer Denkmodelle und Repräsentationsformen, sondern der Idee eines autonomen und technologisch perfektionierbaren Subjekts, die angesichts ihrer zentralen Rolle in aktuellen Mediendiskursen und der Vehemenz, mit der sie zu diesem spezifiaschen historischen Zeitpunkt vertreten wird, einer Erklärung bedarf. Meine Analyse fokussiert auf die Funktion derartiger Technologievisionen bzw. der Idee 'alternativer' virtueller 'Räume' für die Etablierung bestimmter Konzeptionen von 'Gesellschaft' und verweist auf eine für diesen Kontext spezifische Relation von Phantasma und Symptom. Auf der Basis einer Revision des Begriffs sexueller Differenz entwickle ich die Definition eines politischen Subjekts, das nicht einfach als souveräner Akteur oder beliebige Vielfalt zu verstehen ist, sondern sich über einen strukturellen Antagonismus konstituiert, sowie einen Begriff von Handlungsfähigkeit, der die Basis für eine Anfechtbarkeit sozio-kultureller Konstruktionen begründen kann. Meinen Ausführungen lege ich in der Folge einen Begriff von Cyberspace zugrunde, der diesen als sozio-symbolisches Konstrukt definiert, das sowohl technologische Implementierungen wie auch die damit verbundenen Diskurse umfaßt und unausgesetzt neu zu verhandeln ist. Meine transdisziplinäre Herangehensweise im Sinn einer kritischen Repräsentationstheorie verbindet Ansätze strukturaler psychoanalytischer Theorie mit Ansätzen neuerer Hegemonie- bzw. Demokratietheorie sowie der Film- und Medientheorie, der Gender- und der Cultural Studies, um Perspektiven auf aktuelle Medienkonstellationen zu eröffnen, die sich jenseits technikdeterministischer oder kulturpessimistischer Einschätzungen bewegen. ; Considering the abundant promises and euphoric expectations (as well as apocalyptic visions of technology) that still dominate discourses on media and technology my analysis focuses on their cultural and social condition, the specific moment of their emergence, their continuous persistence, their socio-symbolic function, and their implications for social contexts of thought and perception and for hegemonic relations. The techno-deterministic notion of a 'paradigm change', the proclamation of a 'radically new' definition of the subject and the idea of a technically conditioned abolition of traditional dichotomies is in fact contrasted by a striking adherence to conventional and dichotome models of thought and of representation, and to the idea of an autonomous and technologically perfectionable subject. My analysis will on the one hand focus on the function of exaggerated visions of technological development (predicating a dissolution of space, time, matter and identity) and the function of ideas of 'alternative', 'virtual' 'spaces' for establishing specific notions of 'society' - indicating a specific relation of phantasm and symptom as I will show. On the other hand I will develop the definition of a political subject - not conceived as a sovereign actor, nor as an arbitrary variety, but rather as constituted on the basis of a structural impossibility inherent in language and which alone can be, due to this very impossibility or antagonism a subject of the political. In the course of this argument the notion of sexual difference will be critically revised. Furthermore I will develop a definition of agency adequate to provide the grounds and the argumentative tools for the contestability of cultural and social constructs. My emphasis will be on the interdependencies of these questions and I will base my arguments on a notion of Cyberspace that defines it as a socio-symbolic construct comprising both technical implementations as well as the respective discourses and which continuously has to be negotiated. My approach combines structural psychoanalytical theory, hegemony studies, art theory, film theory, media studies, gender studies and cultural studies. As a transdisciplinary critical theory of representation and considering its statement of problems, as well as its focus, it differs from predominant approaches to current developments of technology to create perspectives on current technological dispositives and media constellations beyond prevalent techno-euphoric or pessimistic views.
Wissenschaftliche Untersuchungen auf Basis von Forschungsdaten nehmen in vielen Wissenschaftsdisziplinen zu - 'Data Backed Science' könnte in vielen Fachbereichen zu einem neuen Paradigma der Forschung werden. Wenngleich die Wirtschaftswissenschaften sicher nicht mit datenintensiven Fächern wie der Hochenergiephysik oder aus dem Bereich der Erdbeobachtung (vgl. PARSE.Insight, 2010) verglichen werden können, finden sich dennoch zunehmend mehr Publikationen in Fachzeitschriften, in denen Forschende selbst erstellte oder extern verfügbare Datensätze nach eigenen Fragestellungen auswertet haben. Die für diese Forschungsfragestellungen genutzten Daten stammen aus unterschiedlichsten Quellen. Im Unterschied zu stärker empirisch ausgerichteten Wissenschaftsdisziplinen, wie etwa der Psychologie, werden jedoch in der Regel in den Wirtschaftswissenschaften seltener eigene Forschungsdatensätze erstellt. Stattdessen greifen Wirtschaftsforscher/innen oftmals auf Daten der amtlichen Statistik zurück oder auf Studien, die durch spezialisierte Forschungseinheiten erhoben werden (z. B. der ALLBUS der GESIS oder das SOEP am DIW Berlin). Häufig werden auch relevante Datensätze von Firmen, wie etwa Bloomberg oder Thomson Reuters eingekauft. Eine Ausnahme bilden hier Untersuchungen im Bereich der experimentellen Wirtschaftsforschung, bei denen Wirtschaftswissenschaftler/innen die Ergebnisse eigener Versuche in selbst erstellten Datensätzen dokumentieren. Doch obwohl zunehmend mehr Publikationen auf Basis der Auswertung von Daten erscheinen, gibt es in den Wirtschaftswissenschaften bislang kaum effektive Möglichkeiten, die in Fachzeitschriften publizierten Forschungsergebnisse im Kontext der zugehörigen Artikel zu replizieren, zu prüfen oder für eine Nachnutzung und zur Unterstützung des wissenschaftlichen Diskurses ('Data Sharing') bereit zu stellen. Selbst die Forschungsdaten, die auf allgemein zugänglichen Datensätzen (z. B. ALLBUS oder SOEP) beruhen, werden in der Regel nicht in ihrer spezifischen Auswahl und Bereinigung archiviert. Damit sind Replikationen zwar nicht ausgeschlossen (da die Original-Daten ja frei zugänglich sind), aber eine Replikation fällt bei anspruchsvollen Analysen, die auf spezifischer Auswahl und Bereinigungen beruhen, schwer. Dies stellt sowohl die Fachdisziplin als auch wissenschaftliche Infrastrukturdienstleister wie Bibliotheken und Datenzentren vor zahlreiche Herausforderungen, die im Folgenden betrachtet werden.
In diesem Aufsatz schlagen wir eine Perspektive auf Paarinterviews als Formen teilnehmender Beobachtung vor. Ihre Betrachtung als Forschungsgespräche, in denen "InformantInnen" "Auskünfte" geben, wird zu wenig dem Umstand gerecht, dass es sich um je spezifische soziale Situationen handelt, deren Verlauf und praktische Verwendung durch die Teilnehmenden zu verstehen ist. In dem Artikel befassen wir uns mit fünf Aspekten: 1. Schon Monologe über Paarbeziehungen sind "polyphon", nämlich durchsetzt mit den Äußerungen abwesender Dritter, deren Stimmen durch die Sprechenden aufgerufen werden. 2. In Paarinterviews kommt es zur dialogischen Koproduktion von Äußerungen, bei der das Paar nicht nur miteinander spricht, sondern gemeinsam Sprechakte vollzieht. 3. Die Sprechenden sind aber auch Zuhörerende und Beobachtende der Darstellung der eigenen Beziehung durch ihre PartnerInnen und lernen sie auf diese Weise neu kennen. 4. In "Interaktionen über Bande" nutzen sie die Anwesenheit der Interviewenden, um ihren PartnerInnen etwas besonders nachdrücklich mitzuteilen, also ihr Gehör zu erzwingen. 5. In direkten Interaktionen, in denen sie vor dritten Personen Konflikte reinszenieren oder um die Gestaltung einer Geschichte konkurrieren, wird ihre private Beziehung unmittelbar in das Interview hineingezogen. Insgesamt stellt der Aufsatz eine Vielfalt von Gebrauchsweisen des Interviews durch jene Teilnehmende fest, für die es kein Verfahren der Datenerhebung ist. (Autorenreferat)
Begleitend zu der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands im zweiten Halbjahr 2020 hat das Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) mehrere Gutachten und Untersuchungsberichte erarbeitet, die als Diskussionsgrundlage für die Veranstaltungen der EU-Medienkonferenz im zweiten Halbjahr 2020 und darüber hinaus dienen sollten. Ziel der HBI-Untersuchungen war dabei die Identifikation von Möglichkeiten der mittel- und langfristigen Verbesserung der Kohärenz der europäischen Informations- und Kommunikationsordnung. Die derzeitige Informations- und Medienordnung ist - aus deutscher Perspektive - ein rechtliches Mehr-Ebenen-System, das aus Normen der EU, des Bundes und der Länder besteht. Hinzu treten völkerrechtliche Vorgaben, aber auch Normen der Selbstregulierung. Die derzeitige Regulierung in diesem Bereich, die teils jahrzehntealten Pfadabhängigkeiten folgt, ist angesichts struktureller Transformationen öffentlicher und individueller Information und Kommunikation immer wieder Gegenstand grundsätzlicher Debatten über ihre Kohärenz, Kongruenz, Zeitgemäßheit und Zukunftsfähigkeit. Die Analysen der Entwicklungen der letzten Jahre zeigen zwei - miteinander verwobene - Entgrenzungsprozesse, die die Medienordnungen in Europa herausfordern: Die Mitgliedstaaten stoßen bei der Modernisierung ihrer Medienordnungen auf das faktische Problem, dass sich Kommunikation auf der Seite der Angebote, der Vermittlung und der Rezeption grundlegend ändert. Ein Phänomen - unter anderen - ist die zunehmende Bedeutung von Intermediären, die hybride Funktionen erfüllen, etwa Individualkommunikation, neue Formen der überindividuellen Kommunikation und Vermittlung von medialen Inhalten auf einer Plattform verbinden. Vor diesem Hintergrund reicht die Sicherung von Medienvielfalt - auch wenn sie wichtig bleibt - nicht aus, um eine funktionierende Öffentlichkeit zu gewährleisten. Zunehmend rücken damit die Funktionen der Öffentlichkeit - für die Demokratie, aber auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und andere gesellschaftliche Prozesse - in den Mittelpunkt der Betrachtung. Rechtsmaterien außerhalb des Medienrechts beeinflussen zunehmend die Medienordnung. Die Datenschutzgrundverordnung kann als Beispiel dienen. Ihr wird großer Wert beim Schutz der Daten und der Privatheit der Unionsbürger*innen zugeschrieben. Die Folgen für die gesellschaftliche Kommunikation und funktionsfähige Öffentlichkeiten (etwa mit Blick auf die Rechte von Journalist*innen) sind aber enorm und wurden zum Teil nicht vollständig vorhergesehen. Ähnliches gilt für andere Rechtsmaterien. Da eine die Medienregulierung der Mitgliedstaaten - partiell - koordinierende Europäische Ordnung diese Entwicklungen ebenfalls nachvollziehen muss, steigt die Komplexität der Koordinationsaufgabe weiter. Für diese Aufgabe kommt dem Grundrechtsrahmen eine zentrale Rolle der Strukturierung und Begrenzung zu. Vor diesem Hintergrund unternimmt das vorliegende Arbeitspapier einen ersten Schritt, um Leitbilder gelingender gesellschaftlicher Kommunikation bzw. funktionierender Öffentlichkeit im Europäischen Grundrechtssystem zur ermitteln und offenzulegen. Dies ist eine enorme Aufgabe, so dass hier nur erste Gedanken formuliert werden können, die auf der aktuellen Auslegung der Grundrechte basieren und noch nicht über diese hinausgehen.
Pädagogische Fachkräfte nutzen Social Media-Plattformen als professionelle Handlungsräume. Diese Nutzung umfasst die Grundformen pädagogischen Handelns, wie Arrangieren, Animieren und Informieren/Beraten. "Wenn ich als Pädagogikprofessor in einer Straßenbahn Eltern Ratschläge gebe, wie sie mit einem offensichtlich übermüdeten Kind umgehen sollen, dann handele ich vermutlich anmaßend, aber nicht professionell, denn die Tram ist nicht der Ort meiner Profession." (Giesecke 1997: 47) Wie sieht es aus, wenn die Orte pädagogischer Profession nun aber gezielt ausgedehnt werden, indem pädagogische Fachkräfte in Sozialen Onlinenetzwerken (SONW) pädagogisch agieren? SONW werden somit zu neuen pädagogischen Handlungsräumen. Der Beitrag zeigt anhand ausgewählter Fallbeispiele, wie SONW von pädagogischen Fachkräften der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) als pädagogische Handlungsräume genutzt werden. Noch nie zuvor haben so viele junge Menschen und Erwachsene das Internet täglich genutzt (mpfs 2017; Projektgruppe ARD/ZDF–Multimedia 2017). Angesichts dieser hohen Bedeutung stellt sich die Frage, inwiefern auch die Soziale Arbeit die Potenziale des Internets und besonders die Potenziale von SONW für sich nutzen kann. Eine Vorreiterrolle bezüglich der Nutzung von SONW als pädagogische Handlungsräume nehmen die pädagogischen Fachkräfte der OKJA ein (JFF 2011). Zunächst wird in diesem Beitrag anhand einiger Situationen aus der OKJA verdeutlicht, wie SONW als pädagogische Handlungsräume genutzt werden. Die verwendeten Beispiele entstammen qualitativen Interviews mit Fachkräften, die im Rahmen des Dissertationsprojekts der Autorin geführt wurden. Der anschließende Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage nach der Wahrnehmung und Artikulation von SONW als pädagogische Handlungsräume durch die Fachkräfte. In einer Zusammenfassung werden die geschilderten Situationen hinsichtlich der Grundformen pädagogischen Handelns nach Giesecke kategorisiert. Der Artikel schließt mit einer Positionierung zu den Herausforderungen durch SONW und einem Ausblick. Exemplarische Situationen der Nutzung von SONW Im Folgenden werden ausgewählte Situationen der alltäglichen Nutzung von SONW und deren pädagogische Implikationen vorgestellt. Der erste Beispielkomplex zeigt dies am Beispiel der Postings von Jugendlichen. Dadurch, dass die Jugendarbeiterin Clara auf Facebook mit den Jugendlichen befreundet ist, erfährt sie von Beleidigungen und Streits und hat die Möglichkeit Einfluss zu nehmen: "Dann hab ich gemerkt, die fängt dann an mit der zu chatten und auf die Startseite: 'Und du bist so doof' und haste nicht gesehen [zu schreiben]. Und dann konnte ich natürlich im Vorfeld schon eingreifen. Und wenn sie dann kamen, dann hatte ich eine Information, die ich sonst nicht gehabt hätte und hab sie mir dann alle ins Büro geholt und hab das ganz offen angesprochen." Bei Streits zu intervenieren ist für die pädagogischen Fachkräfte in der OKJA alltägliche pädagogische Arbeit. In einem ersten Schritt wird die Situation beruhigt und in einem anschließenden Schritt mit den Beteiligten in einem pädagogischen Rahmen bearbeitet. Clara kann situativ entweder mittels Kommentar direkt in die Interaktion im SONW einsteigen oder zu einem späteren Zeitpunkt ein Gespräch in der Einrichtung forcieren. Sie bewertet es als sehr hilfreich, Dinge indirekt zu erfahren, da sich das o.g. Mädchen vielleicht nicht von sich aus an sie gewandt hätte. Clara erhält durch ihre Facebook-Freundschaft auch Informationen, die nicht explizit an sie adressiert wurden, somit obliegt es ihrer pädagogischen Kompetenz, sensibel mit diesen Informationen umzugehen und zu entscheiden, ob sie sie aktiv nutzt oder die Situation passiv beobachtet. Der Jugendarbeiter Felix hat ein Bild kommentiert, das zwei Mädchen gepostet hatten. Auf diesem Bild inszenieren sich die Mädchen auf Straßenbahnschienen sitzend. Felix schien es erforderlich dies zu hinterfragen: "'Okay, das ist nicht so ganz eindeutig, was wollt ihr mit diesem Foto sagen? Wollt ihr sagen, dass euch das Leben nicht mehr gefällt und ihr wartet darauf, dass die nächste Straßenbahn kommt und euch überfährt?'" Die Mädchen erfahren Selbstwirksamkeit, da der Jugendarbeiter auf das Foto reagiert. Durch das offene Thematisieren der Bildbotschaften werden sie zum Reflektieren ihres Handelns angehalten und somit Bildungsprozesse angeregt. Felix ist zudem sensibilisiert und kann zu einem späteren Zeitpunkt ggf. eine Beratungs- oder Informationssituation initiieren. Informationen, die Clara aus den Postings der Jugendlichen über diese erhält, nutzt sie, um in der Anschlusskommunikation ein Gefühl emotionaler Verbundenheit hervorzurufen: "Und wenn du dann zum Beispiel bei Facebook schon gesagt hast: 'Finde ich toll, du hast ein neues Kleid'. Dann kommen sie an: 'Mensch Clara, wirklich? Ist das ein schönes Kleid? Sag mal ehrlich.'" Die Jugendarbeiterin reagiert hier wertschätzend auf Dinge, die für die Jugendlichen aktuell von Belang sind und zwar im Einzelfall, aber ebenso auch bereits durch die Tatsache, dass sie sich auf die Kommunikationsweise der Jugendlichen einlässt. Sie erzeugt dadurch ein positives Klima und ruft ein Gefühl emotionaler Verbundenheit hervor. Clara selbst beschreibt dies als Intensivierung der Kontakte. Oder anders gesagt: Sie nutzt die SONW unterstützend, um die Beziehung zu den Jugendlichen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Diese Grundlagen für den Aufbau einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung werden von der Jugendarbeiterin arrangiert. Im zweiten Beispielkomplex werden die pädagogischen Implikationen und Intentionen anhand der Postings der pädagogischen Fachkräfte vorgestellt. Felix verfolgt sowohl pädagogische als auch administrative Absichten, wenn er Aktionen der Einrichtung mittels Bildpostings in SONW dokumentiert. Die Postings haben zum einen den Zweck ein Zugehörigkeitsgefühl zur Einrichtung zu fördern, indem gemeinsame Erlebnisse positiv erinnert werden und die Jugendlichen animiert werden, diese Emotionen zu reflektieren und zu verbalisieren. "Also wenn ein schönes Foto natürlich da ist und dann die Reaktion drauf kommen würde: 'Ja, ich war dabei. Das war total geil.' Dann wäre damit schon sehr viel erreicht." Außerdem möchte Felix einen Dialog über diese spezifische Aktion unter den Jugendlichen anregen. Er eröffnet mit der Kommentarfunktion eine niedrigschwellige Möglichkeit und motiviert die Jugendlichen damit, sich zu artikulieren. En passant erhält er durch die Kommentare Feedback und kann weitere entsprechende Angebote arrangieren. Zugleich hat sowohl die Dokumentation als auch der Anschlussdialog der Jugendlichen Signalcharakter nach außen: Außenstehende erhalten einen Eindruck von Angeboten und Zielgruppe sowie einen Eindruck davon, wie die pädagogischen Fachkräfte arbeiten; Lebendigkeit und Offenheit wird signalisiert. Sowohl Clara als auch Felix nutzen die SONW, um alltägliche pädagogische Angebote oder besondere Erlebnisse zu arrangieren und initiieren. Einen Vorteil sehen sie vor allem darin, dass sie mittels Postings in kurzer Zeit eine große Zielgruppe, nämlich alle mit der Einrichtung verbundenen Jugendlichen, erreichen können. Deutlich wird dies in Felix' Einrichtung, in der täglich das aktuelle pädagogische Angebot gepostet wird. Dadurch erreicht er auch eine Zielgruppe, die sonst nicht die Einrichtung besucht, sondern lediglich punktuell zu Außenveranstaltungen kommt. "Wie zum Beispiel jetzt im Sommer, wenn wir irgendwo Baden fahren dann wird das gepostet." Das Werben für den Badeausflug mittels Postings in SONW ermöglicht den o.g. Jugendlichen einen Zugang zur Einrichtung bzw. zu dem pädagogischen Personal und die Teilnahme an den pädagogischen Aktionen. Felix kann dies wiederum nutzen, um mit den Jugendlichen in Kontakt zu treten und Vertrauen aufzubauen. Außerdem kann eine andere Umgebung einen guten Rahmen bieten, um Barrieren zwischen den unterschiedlichen Besucher_innengruppen abzubauen und neue gruppendynamische Prozesse anzustoßen. Clara hatte beispielsweise Karten für die Castings von X Factor und Supertalent und postete: "Ich hab Karten. Wer will […] mitkommen?" bzw. "Ich hab keine Karten mehr." Sie ermöglicht den Jugendlichen damit, etwas Besonderes, nicht Alltägliches, zu erleben und schafft Möglichkeiten für Bildungsprozesse. Das Arrangieren der Teilnahme an besonderen Erlebnissen und pädagogischen Angeboten impliziert dementsprechend auch pädagogisches Handeln und ist über ein massenmediales Werben hinausgehend. Das pädagogische Handeln in SONW und SONW als pädagogische Handlungsräume Die vorherigen Explikationen haben den pädagogischen Gehalt im Umgang mit beiderseitigen Postings aufgezeigt. In einigen Beispielen wurde direkt im SONW interveniert, womit deutlich wurde, wie dieses als zusätzlicher, pädagogischer Handlungsraum der OKJA genutzt wird. Weiterführend stellt sich nun aber die Frage, inwiefern die beiden pädagogischen Fachkräfte die SONW als pädagogische Handlungsräume wahrnehmen und in dieser Deutlichkeit als solche bezeichnen. Nach ihrem Begriffsverständnis befragt, definiert Clara pädagogisches Handeln als "alles Handeln, was du in Bezug auf Jugendliche erzieherisch ausübst". Als Beispiel benennt sie das Eingehen auf Konflikte auf Basis von pädagogischen und entwicklungspsychologischen Fachkenntnissen, also "zu wissen, was damit gemeint sein kann und das dann eben ansprechen". Dabei verwendet sie einen aufrüttelnd-provokanten Sprachstil, sog. Modulationen (vgl. Cloos et al. 2009), um den Jugendlichen ihr Verhalten und dessen Konsequenzen bewusst zu machen. Für Clara findet sich diese Art pädagogischen Handelns fraglos auch in den SONW wieder. Sie verdeutlicht dies am weiteren Beispiel eines männlichen Jugendlichen, der sich in Bodybuilder-Pose fotografiert hat: "Und ich sage, 'Meine Güte, jetzt machste aber einen auf Muskelprotz!' und mach das mit so'nem Smiley hinten dran, so dass der eigentlich weiß, was ich damit meine." Auch hier verwendet sie Modulationen, um den Jugendlichen zur Reflexion seines Verhaltens anzuregen und ihm die Wirkungen des geposteten Bildes vor Augen zu führen. Zusätzlich hätte Clara die Möglichkeit die Interaktion auf Facebook für spätere Anschlusskommunikation innerhalb der Einrichtung zu verwenden. Auffällig an Claras Verständnis von pädagogischem Handeln ist vor allem, dass sie den Fokus im Schwerpunkt auf konflikthafte oder problematische Situationen richtet. Pädagogisches Handeln umfasst für sie somit korrigierendes Handeln. Darin unterscheidet sich ihre Definition von der Gieseckes. Dieser definiert pädagogisches Handeln als positive Beeinflussung des Menschen hin zu einer mündigen Persönlichkeit, indem man Gelegenheiten zu Bildungsprozessen bietet (vgl. 1997: 22ff.). Felix definiert pädagogisches Handeln als das Arrangieren von Workshops, das Animieren oder das Vermitteln von Toleranz in der Gruppe. Damit bezieht er sich allerdings lediglich auf die Face-to-Face-Arbeit innerhalb der Einrichtung, denn Felix bezweifelt, dass pädagogisches Handeln auf SONW übertragen werden kann: "Und bezogen auf Netzwerke lässt sich wirklich die Frage stellen, ist das eine Form von pädagogischem Handeln wenn ich das veröffentliche, die Angebote? Weil das ist ja wirklich eigentlich nur Öffentlichkeitsarbeit, Informationsarbeit". Obwohl er also durchaus in SONW pädagogisch agiert, reflektiert und artikuliert er dies nicht dementsprechend. Für ihn sind SONW weniger zusätzliche pädagogische Handlungsräume als vielmehr Werkzeuge, die administrative Aufgaben erleichtern. Auch Giesecke grenzt den Informationsoutput von Massenmedien von pädagogischem Handeln ab und hält fest, dieses finde immer von Angesicht zu Angesicht statt. Lediglich in den ggf. daran anschließend hergestellten, interaktiven Situationen könne pädagogisch gehandelt werden (1997: 47f.). Wie die Explikationen aber deutlich gemacht haben, ist dies auf Grund der Interaktivität von SONW heute keine grundlegende Bedingung für pädagogisches Handeln mehr. Felix nutz zwar in der Handlungspraxis diese Interaktivität, in der Reflexion und Artikulation spielt die Interaktivität jedoch keine Rolle. Anhand der beiden Fallbeispiele wird deutlich, dass die Reflexion pädagogischer Implikationen in der Nutzung von SONW nicht unbedingt die Praxis abbildet. Laut Giesecke ist der Gegenpol zum Handeln stets die Reflexion (1997: 45). Sein Konzept der Grundformen pädagogischen Handelns sieht er als Instrument, das Handeln zu reflektieren (1997: 17). Diese Grundformen (1997: 76ff.)1 dienen nun als Struktur, um das pädagogische Handeln der Explikationen reflektierend zu verdeutlichen. Arrangieren (1): Indem die pädagogischen Fachkräfte die vielfältigen Kommunikationskanäle von SONW nutzen, arrangieren sie die Voraussetzungen für vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen oder arrangieren Situationen, die Bildungsprozesse ermöglichen. Animieren: Die pädagogischen Fachkräfte animieren die Jugendlichen zur Teilnahme an pädagogischen Arrangements wie Ausflügen und weiteren pädagogischen Situationen. Ebenso animieren sie die Jugendlichen sich in SONW zu artikulieren. Informieren/Beraten: Das Informieren und Beraten kann sich einerseits in den SONW abspielen, andererseits aber auch lediglich inhaltlich auf die SONW bezogen sein und offline/face-to-face stattfinden. Beide pädagogische Fachkräfte merken an, dass aus ihrer Sicht ein Face-to-Face-Gespräch aufgrund der Kanalreduktion nicht durch Nachrichten über SONW zu ersetzen und es daher wichtig sei, stets "zweigleisig" (Clara) zu arbeiten. Im Folgenden werden Herausforderungen und Reflexionsbedarfe, die sich aus den obigen Beispielen ergeben, erörtert. Herausforderungen und Ausblick SONW sind keine Jugendräume. Firmen sind dort ebenso präsent wie Erwachsene, die dort beruflich und privat netzwerken. Dementsprechend ist die Frage, ob sich pädagogische Fachkräfte in SONW aufhalten sollten, hinfällig (vgl. Stix 2014). Wichtiger ist es, einen Umgang miteinander zu entwickeln, der weder den pädagogischen Fachkräften noch den Jugendlichen zum Nachteil wird. Um die Jugendlichen zu erreichen, nutzen die pädagogischen Fachkräfte die bei jungen Menschen angesagten SONW-Angebote. Diese sind in der Regel kommerziell und wenig transparent oder reguliert, was den Umgang mit Nutzer_innendaten betrifft. Dies erfordert aus pädagogischer Sicht das Prüfen und Abwägen von Vor- und Nachteilen. Dementsprechend kann es nicht nur aufgrund der Kanalreduktion wichtig sein, ein Gespräch über ein sensibles Thema face-to-face zu führen und dies den Jugendlichen zu vermitteln. Ein reflektierter und sensibler Umgang mit Daten gilt auch für die Dokumentation von Aktionen, wie Felix ihn schildert. Beim Posten von Bildern muss er das Persönlichkeitsrecht der Jugendlichen beachten und prüfen, ob und ggf. welche Informationen möglicherweise unbeabsichtigt preisgegeben werden. Des Weiteren stellt sich die ethische Frage, inwiefern sich pädagogische Fachkräfte Informationen aktiv aus SONW besorgen und nutzen dürfen (vgl. Kutscher 2015). Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der Frage, ob nicht Jugendliche, die keinen Zugang zu SONW haben, ausgegrenzt oder benachteiligt werden. Dies zu reflektieren ist eine Aufgabe pädagogischer Professionalität. Die Nutzung von SONW birgt pädagogische Chancen. Zugleich ergeben sich daraus auch neue Verantwortungsdimensionen für das professionelle Handeln pädagogischer Fachkräfte. Das Handeln in SONW muss hinsichtlich möglicher negativer Konsequenzen für die Jugendlichen reflektiert werden. Die Entwicklung einer eigenen (medien-) pädagogischen Haltung sowie eine Rahmung durch Träger und kollegialer Austausch können dabei helfen. Pädagogisch professionell zu sein bedeutet auch, die Trends der jungen Menschen zu kennen und pädagogisch darauf zu reagieren. Im Falle von Social Media bewegt sich die Masse seit 2015 zu Angeboten wie WhatsApp und Instagram (mpfs 2016: 32f.). Es bleibt spannend, ob sich auch WhatsApp mit seinen anderen Strukturen mittelfristig als pädagogischer Handlungsraum etablieren und wie das pädagogische Handeln dort konkret aussehen wird – und welche Konflikte dies zu fachlichen Logiken und Standards mit sich bringt (vgl. Deutscher Bundestag 2013, S. 394), die zu reflektieren und in die Gestaltung pädagogischen Handelns einzubeziehen sind. (1) Ausgenommen das Unterrichten, von Giesecke verstanden als das Erklären von relativ komplexen Sachzusammenhängen in einem längeren Argumentationsprozess (1997: 79). ; Pedagogical professionals use social media platforms as professional spaces for action. This use includes the basic forms of pedagogical action, such as arranging, animating and informing/advising. "If I, as a professor of education, give advice to parents in a tram on how to deal with an obviously overtired child, then I am probably acting presumptuously, but not professionally, because the tram is not the place of my profession." (Giesecke 1997: 47) But how does it look when the places of pedagogical profession are now deliberately extended by pedagogical professionals acting pedagogically in online social networks (SONW)? SONW thus become new spaces for pedagogical action. The article uses selected case studies to show how SONW are used as pedagogical spaces of action by pedagogical professionals in open child and youth work (OKJA). Never before have so many young people and adults used the internet on a daily basis (mpfs 2017; Projektgruppe ARD/ZDF-Multimedia 2017). In view of this high importance, the question arises to what extent social work can also use the potentials of the internet and especially the potentials of SONW for itself. A pioneering role with regard to the use of SONW as pedagogical spaces for action is played by the pedagogical professionals of OKJA (JFF 2011). First of all, this article will illustrate how SONW are used as pedagogical spaces of action by means of some situations from OKJA. The examples used are taken from qualitative interviews with professionals conducted as part of the author's dissertation project. The following section deals with the question of how professionals perceive and articulate SONW as pedagogical spaces for action. In a summary, the situations described are categorised with regard to the basic forms of pedagogical action according to Giesecke. The article concludes with a position on the challenges posed by SONW and an outlook. Exemplary situations of SONW useIn the following, selected situations of everyday SONW use and their pedagogical implications are presented. The first set of examples shows this with the example of postings by young people. Because the youth worker Clara is friends with the young people on Facebook, she learns about insults and arguments and has the opportunity to influence them: "Then I noticed that she starts chatting with them and writes on the homepage: 'And you are so stupid' and hasn't seen it [to write]. And then of course I could intervene in advance. And then when they came, then I had information that I wouldn't have had otherwise and then I got them all into the office and addressed it quite openly." Intervening in disputes is everyday pedagogical work for the educational professionals in OKJA. In a first step, the situation is calmed down and then dealt with in a pedagogical framework with the parties involved. Clara can either directly enter into the interaction in the SONW by means of comments or force a conversation in the facility at a later time. She finds it very helpful to learn things indirectly, as the girl mentioned above might not have approached her on her own. Through her Facebook friendship, Clara also receives information that was not explicitly addressed to her, so it is up to her pedagogical competence to deal sensitively with this information and to decide whether she uses it actively or observes the situation passively. The youth worker Felix commented on a picture that two girls had posted. In this picture, the girls are staging themselves sitting on tram tracks. Felix seemed to need to question this: ''Okay, that's not so clear, what are you trying to say with this photo? Are you saying you don't like life anymore and you're waiting for the next tram to come and run you over?'" The girls experience self-efficacy as the youth worker responds to the photo. By openly thematising the picture messages, they are encouraged to reflect on their actions and thus educational processes are stimulated. Felix is also sensitised and can initiate a counselling or information situation at a later stage if necessary. Clara uses information that she receives about the young people from their postings to evoke a feeling of emotional connection in the follow-up communication: "And if, for example, you have already said on Facebook: 'I think it's great, you have a new dress'. Then they arrive: 'Gee Clara, really? Is that a nice dress? Tell me honestly.'" Here, the youth worker responds appreciatively to things that are of current concern to the young people, in individual cases, but also by the very fact that she engages with the young people's way of communicating. She thus creates a positive climate and evokes a feeling of emotional connection. Clara herself describes this as an intensification of contacts. Or in other words, she uses the SONW in a supportive way to continuously develop the relationship with the young people. These foundations for building a trusting working relationship are arranged by the youth worker. In the second set of examples, the pedagogical implications and intentions are presented based on the postings of the pedagogical professionals. Felix pursues both pedagogical and administrative intentions when he documents actions of the institution by means of picture postings in SONW. On the one hand, the postings have the purpose of promoting a sense of belonging to the institution by positively remembering shared experiences and encouraging the young people to reflect on and verbalise these emotions. "So if a nice photo is there, of course, and then the reaction to it would be: 'Yes, I was there. That was totally cool. Then that would already achieve a lot." Felix also wants to stimulate a dialogue about this specific action among the young people. With the comment function, he opens up a low-threshold possibility and thus motivates the young people to articulate themselves. En passant, he receives feedback through the comments and can arrange further corresponding offers. At the same time, both the documentation and the follow-up dialogue of the young people have a signal character to the outside: outsiders get an impression of the offers and the target group as well as an impression of how the educational professionals work; liveliness and openness are signalled. Both Clara and Felix use the SONW to arrange and initiate everyday educational offers or special experiences. They see an advantage above all in the fact that they can reach a large target group, namely all the young people associated with the institution, in a short time by means of postings. This becomes clear in Felix's facility, where the current educational offer is posted daily. In this way, he also reaches a target group that otherwise does not visit the facility, but only comes to outside events selectively. "Like now, for example, in the summer, when we go swimming somewhere then it is posted." Advertising the swimming trip by means of postings in SONW enables the above-mentioned young people to gain access to the facility or to the educational staff and to participate in the educational activities. Felix can in turn use this to get in touch with the young people and build trust. In addition, a different environment can provide a good framework to break down barriers between the different groups of visitors and to initiate new group dynamic processes. For example, Clara had tickets for the X Factor and Supertalent auditions and posted: "I got tickets. Who wants to come [.]?" or "I don't have tickets anymore." It thus enables young people to experience something special, not ordinary, and creates opportunities for educational processes. Arranging participation in special experiences and educational offers accordingly implies pedagogical action and goes beyond mass media advertising. The pedagogical action in SONW and SONW as pedagogical action spacesThe previous explications have shown the pedagogical content in dealing with mutual postings. In some examples, interventions were made directly in the SONW, making it clear how this is used as an additional, pedagogical space for action by the OKJA. However, the question now arises as to what extent the two pedagogical professionals perceive the SONW as a pedagogical space for action and describe it as such. When asked about her understanding of the term, Clara defines pedagogical action as "all actions that you carry out educationally in relation to young people". As an example, she mentions addressing conflicts on the basis of pedagogical and developmental psychological expertise, i.e. "knowing what can be meant by this and then addressing it". In doing so, she uses an evocative-provocative style of language, so-called modulations (cf. Cloos et al. 2009), to make the young people aware of their behaviour and its consequences. For Clara, this kind of pedagogical action is unquestionably also found in the SONW. She illustrates this with another example of a male adolescent who has photographed himself in a bodybuilder's pose: "And I say, 'My goodness, now you're being a muscleman!' and do it with a smiley face on the back, so that he actually knows what I mean." Again, she uses modulations to encourage the young person to reflect on their behaviour and to make them aware of the effects of the posted image. In addition, Clara would have the opportunity to use the interaction on Facebook for later follow-up communication within the institution. What is striking about Clara's understanding of pedagogical action is that she focuses on conflictual or problematic situations. For her, pedagogical action thus includes corrective action. In this, her definition differs from that of Giesecke. The latter defines pedagogical action as positively influencing people towards a mature personality by providing opportunities for educational processes (cf. 1997: 22ff.). Felix defines pedagogical action as arranging workshops, animating or teaching tolerance in the group. However, he only refers to face-to-face work within the institution, because Felix doubts that pedagogical action can be transferred to SONW: "And in relation to networks, the question can really be asked, is this a form of pedagogical action when I publish the offers? Because that is really only public relations work, information work. Although he does act pedagogically in SONW, he does not reflect and articulate this accordingly. For him, SONW are less additional pedagogical spaces for action than tools that facilitate administrative tasks. Giesecke also distinguishes the information output of mass media from pedagogical action and states that this always takes place face to face. Pedagogical action can only take place in the interactive situations that may subsequently be created (1997: 47f.). However, as the explications have made clear, this is no longer a fundamental condition for pedagogical action due to the interactivity of SONW today. Felix does use this interactivity in the practice of action, but interactivity does not play a role in reflection and articulation. Based on the two case studies, it becomes clear that the reflection of pedagogical implications in the use of SONW does not necessarily reflect practice. According to Giesecke, the antithesis of action is always reflection (1997: 45). He sees his concept of basic forms of pedagogical action as an instrument to reflect action (1997: 17). These basic forms (1997: 76ff.)1 now serve as a structure to reflectively clarify the pedagogical action of the explications. Arranging (1): By using SONW's multiple channels of communication, the pedagogical professionals arrange the conditions for trusting working relationships or arrange situations that make educational processes possible. Animate: The educational professionals encourage the young people to participate in educational arrangements such as excursions and other educational situations. They also encourage the young people to articulate themselves in SONW. Informing/advising: On the one hand, information and counselling can take place in the SONW, but on the other hand, it can also be related to the content of the SONW and take place offline/face-to-face. Both pedagogical professionals note that from their point of view, a face-to-face conversation cannot be replaced by messages via SONW due to the reduction of channels and that it is therefore important to always work "on two tracks" (Clara). Challenges and needs for reflection arising from the above examples are discussed below. Challenges and outlookSONW are not youth spaces. Companies are present there as well as adults who network there professionally and privately. Accordingly, the question of whether educational professionals should be in SONW is moot (cf. Stix 2014). It is more important to develop a way of dealing with each other that is not detrimental to either the pedagogical professionals or the young people. In order to reach the young people, the educational professionals use the SONW offers that are popular among young people. These are usually commercial and not very transparent or regulated when it comes to handling user data. From a pedagogical point of view, this requires checking and weighing the advantages and disadvantages. Accordingly, it can be important to have a conversation about a sensitive topic face-to-face and to communicate this to the young people, not only because of the channel reduction. A reflective and sensitive handling of data also applies to the documentation of actions, as Felix describes. When posting pictures, he has to consider the young people's right to privacy and check whether and which information might be revealed unintentionally. Furthermore, the ethical question arises to what extent educational professionals may actively obtain and use information from SONW (cf. Kutscher 2015). Another challenge arises from the question of whether young people who do not have access to SONW are excluded or disadvantaged. Reflecting on this is a task of pedagogical professionalism. The use of SONW offers pedagogical opportunities. At the same time, it also gives rise to new dimensions of responsibility for the professional action of educational specialists. The actions in SONW must be reflected on with regard to possible negative consequences for the young people. The development of one's own (media) pedagogical attitude as well as framing by the responsible body and collegial exchange can help here. Being pedagogically professional also means being aware of young people's trends and reacting to them pedagogically. In the case of social media, the masses have been moving towards offers such as WhatsApp and Instagram since 2015 (mpfs 2016: 32f.). It remains exciting to see whether WhatsApp with its other structures will also establish itself as a pedagogical space of action in the medium term and what pedagogical action there will look like in concrete terms - and what conflicts this will entail with professional logics and standards (cf. Deutscher Bundestag 2013, p. 394), which need to be reflected and included in the design of pedagogical action. (1) Except for teaching, understood by Giesecke as explaining relatively complex factual contexts in a longer process of argumentation (1997: 79).
"Ein Amoklauf wie der am 11.03.2009 in Winnenden überrascht die Gesellschaft, in der er stattfindet. Er fungiert gewissermaßen als Bezugspunkt für die mediale Ausleuchtung beteiligter Organisationen, Milieus, Personen und schließlich des Täters selbst. Fragen werden gestellt, Erklärungen gesucht und Prognosen abgegeben, wie in Zukunft ein solches Ereignis verhindert werden kann. Diese Dynamik ist jedoch nicht nur auf der Ebene des medialen Diskurses, sondern auch in der Organisation Schule beobachtbar, namentlich in einem vorn Amoklauf nicht (direkt) betroffenen oberbayerischen Gymnasium. Der Diskurs - so lässt sich empirisch sehen - setzt sich auf mehr als einer Ebene fort. Um dies diskursanalytisch beobachten zu können, bedarf es einer organisationssoziologisch fundierten Erweiterung diskursanalytischer Werkzeuge. Im Rahmen dieses Beitrages soll dies anhand einer Synthese von Niklas Luhmanns Systemtheorie und Michel Foucaults Diskurstheorie geleistet werden. Zentraler Anknüpfungspunkt ist die operative Ausrichtung beider Theorien. Ziel ist es, erste Überlegungen zu einer operativ erweiterten Diskursanalyse anzustellen, um damit den Amoklauf-Diskurs nach Winnenden als Beispiel einer komplexen neuen Welt beschreiben zu können." (Autorenreferat)
In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, S. 4041-4051
"Die Frage nach der europäischen Identität beschäftigt zurzeit gleichermaßen die Politik wie die Sozialwissenschaften. Um diese Thematik angemessen bearbeiten zu können, muss zunächst ein hinreichend komplexer Identitätsbegriff gefunden werden. Einen solchen Begriff haben Harrison White und Margret Somers entwickelt. Sie begreifen Identität als eine soziale Konstruktion, die sich narrativer Mittel bedient. In den Geschichten, die man über ein Kollektiv erzählt, werden immer auch gemeinsame Eigenschaften benannt, über welche die Mitglieder dieses Kollektivs verfügen sollen. Dies gilt für Nationen und trotz aller Unterschiede auch für ein transnationales Gebilde wie Europa. Für gewöhnlich sind es Intellektuelle, die als Konstrukteure kollektiver Identität auftreten. Es gibt aber auch Institutionen, die vorderhand andere Funktionen erfüllen, latent jedoch ebenfalls zur Identitätsbildung beitragen. Eine solche Institution ist das Parteiwesen. Tatsächlich hat die EU die auf der europäischen Ebene präsenten Parteien sogar mit der Ausbildung eines europäischen Bewusstseins beauftragt. Dieser Beitrag setzt sich kritisch mit diesem Zusammenhang auseinander. Denn auch für die politische Klasse Europas lässt sich zeigen, dass in Form einer narrativen Konstruktion europäische Identität vermittelt werden soll, wobei sich aufgrund des hinlänglich bekannten Demokratiedefizits der europäischen Institutionen die Frage nach deren Legitimität stellt: inwiefern sie im vorparlamentarischen Raum spielt, und welche Konsequenzen daraus folgen. Nicht mehr nur der medialen Öffentlichkeit, sondern auch den gesellschaftlichen Akteuren, wie Vereinen und Gewerkschaften, sowie politischen Akteuren, wie politischen Parteien wird daher seit neuestem die Fähigkeit zur europäischen Identitätskonstruktion zugeschrieben. Welches Potential haben sie wirklich, um europäische Identität narrativ zu konstruieren?" (Autorenreferat)
Der vorliegende Beitrag untersucht die Frage nach der Technik und dem Handeln, die eine lange Tradition hat. Die Fragen nach der Technik und nach dem Handeln werden hier nicht getrennt beantwortet, sondern es wird nach einem verbindenden Konzept gesucht. Die Autoren betrachten Technik als Ergebnis eines Prozesses der Technisierung von Ereignisketten, wobei Formen fixiert werden, die erwünschte Effekte erwartbar und berechenbar machen. Diese Auffassung erlaubt es, Technisierungsformen im menschlichen Handeln wie auch bei sachlichen Verkettungen und Zeichenformationen festzumachen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll und geboten, nicht mehr getrennt nach dem Handeln des Menschen oder dem Funktionieren der Maschine zu fragen, sondern nach dem gemeinsamen Geflecht "vermischter" Aktivitäten. Die Autoren beziehen die Frage nach der Technik und dem Handeln damit auf sozio-technische Konstellationen verteilten Handelns. Zunächst wird die theoretische und praktische Relevanz der Frage nach der Handlungsträgerschaft von Technik genauer dargelegt. Im zweiten Abschnitt wird untersucht, inwieweit die Merkmale neuer Techniken mit Recht zu einem Nachdenken über das Mit-Handeln der Technik veranlassen, inwiefern das Thema die Debatte um die Künstliche Intelligenz fortsetzt und wie es im Rahmen der soziologischen Diskussion um das Verhältnis von Technik und Gesellschaft zu verorten ist. Dann werden die wichtigsten Positionen zu dieser Frage vorgestellt und nach einem klassifikatorischen Schema ordnen. Im vierten Abschnitt wird ein Konzept gradualisierten und verteilten Handelns in seinen Grundzügen vorgestellt. (ICD)
Aus der Einleitung: Einzelne grausame sexuelle Gewalttaten führen zu der immer wiederkehrenden Frage, wie mit Sexualstraftätern umgegangen werden soll. Kaum ein anderes Thema versetzt und beängstigt die Öffentlichkeit in gleichem Umfang wie Sexualstraftaten. Besonders, wenn Kinder Opfer sexueller Gewalttaten werden, ist die Empörung und Abscheu gegenüber der Tat und dem Täter groß. Medien und Politiker versuchen hierbei in gleichem Ausmaß, durch aggressive Berichterstattung und populistische Parolen Profit zu schlagen. So teilte z.B. der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder im Juli 2001 folgendes in der Bild am Sonntag mit: 'Ich komme mehr und mehr zu der Auffassung, dass erwachsene Männer, die sich an kleinen Mädchen vergehen, nicht therapierbar sind (…). Deswegen kann es da nur eine Lösung geben: Wegschließen -– und zwar für immer!' Hierbei sprach Herr Schröder wohl einen Großteil der Bevölkerung aus der Seele. Die Kritik der Fachleute über die Aussagen des damaligen Bundeskanzlers ging hingegen in der breiten Zustimmung der Bevölkerung unter. Die dabei so aufgebauschten Sexualmorde in den Medien, machen dabei nur einen sehr kleinen Anteil der Delikte der sexuellen Selbstbestimmung insgesamt aus. Sexualdelikte machen nicht einmal 1% der insgesamt polizeilich registrierten Straftaten aus. Emotionsheischende und Angst fördernde Schlagzeilen und Artikel suggerieren einen anderen Eindruck. Die Berichterstattung trägt daher meist wenig zur Aufklärung bei, sondern steigert in erster Linie die Auflage. Zwei schreckliche Sexualmorde in den Jahren 1996 und 1997 waren der Anlass, innerhalb von 12 Monaten zwei Gesetze zu verabschieden, die den Umgang mit Sexualstraftätern im StGB und in der StPO verschärften. Der Gesellschaft wird dabei vorgetäuscht, mit restriktiveren Maßnahmen gebe es eine ultimative Sicherheit. Durch zahlreiche Forschungen von Kriminologen, Psychologen und Psychiatern, die den Stereotyp von unheilbar kranken, psychopatischen, nicht behandelbaren und höchst rückfallgefährdeten Sexualtriebtätern widerlegt haben, schüren Politiker weiterhin Angst und beschwören hartes Durchgreifen. Dies hat in der Verschärfung der Sicherheitsverwahrung in Form eines Vorbehaltes der Sicherungsverwahrung und der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit der Verabschiedung der neu eingeführten §§ 66a und 66b StGB sein vorläufiges Ende gefunden. Nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen kann nach Verbüßung der Freiheitsstrafe die Sicherungsverwahrung in nahezu aussichtslosen Fällen angeordnet werden und bleibt im Strafrecht die ultima ratio. Mehr Sicherheit und eine Beruhigung der Öffentlichkeit konnte mit den Verschärfungen im Umgang mit Sexualstraftätern allerdings nicht erreicht werden. Die schwierigen Fragen, inwieweit dem Resozialisierungsanspruch des Sexualstraftäters gegenüber dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit Vorrang einzuräumen ist, welche Erkenntnisse zu Therapieerfahrungen und deren Wirksamkeit vorliegen, soll u.a. im folgenden Verlauf beantwortet werden. Hierfür wird im ersten Kapitel zunächst die Kriminalitätsentwicklung nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) vorgestellt und die gefühlte Kriminalitätsentwicklung der Bevölkerung erläutert. Zudem wird aufgezeigt, inwieweit die Massenmedien den öffentlichen Umgang mit Sexualdelinquenz maßgeblich beeinflussen. Im anschließenden zweiten Kapitel wird auf die deutsche Sexualstraftätergesetzgebung eingegangen, wobei eine Übersicht über Wandlungen des Sexualstrafrechts bis zum derzeitigen gültigen Gesetz aufgestellt wird und der damit verbundenen Auswirkungen analysiert werden. Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über die gesetzlichen Möglichkeiten der Sexualstraftäterbehandlung, deren praktische Umsetzung anschließend im vierten Kapitel vorgestellt wird. Letztlich wird innerhalb der Zusammenfassung ein Ausblick über zukünftige Reformvorhaben aufgeführt, dessen Abschluss Schlussfolgerungen über die immer wiederkehrende Frage nach dem Umgang mit Sexualstraftätern bildet.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: Einleitung1 1.Der öffentliche Umgang mit Sexualdelinquenz in Deutschland4 1.1Sexualdelikte nach der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS)4 1.1.1Dunkelfeld Sexualdelikte7 1.1.2Überblick der gesamten Kriminalitätsentwicklung7 1.1.3Täter-Opfer-Beziehung9 1.2Gefühlte Kriminalitätsentwicklung der Bevölkerung10 1.2.1Kritik zur Fragestellung der Kriminalitätsentwicklung12 1.3Das Medieninteresse an schwerwiegenden Sexualstraftaten13 1.3.1Dramatische Berichterstattung14 1.4Das Politikinteresse an schwerwiegenden Sexualstraftaten15 1.4.1Symbolisches Strafrecht15 1.5Fazit16 2.Die deutsche Sexualstraftätergesetzgebung im Widerspruch zur objektiven Gefahrenlage18 2.1Klassifikation der Sexualstraftaten18 2.2Sanktionsmöglichkeiten auf Sexualstraftaten19 2.3Historischer Rückblick zur Sexualstraftätergesetzgebung20 2.3.1Delikte 'wider die Sittlichkeit'21 2.3.2Das Fanny-Hill-Urteil22 2.3.3Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung23 2.4Gesetz zur Bekämpfung von Sexualstraftaten und anderen gefährlichen Straftaten24 2.5Aktueller Stand zur Sexualstraftätergesetzgebung27 2.6Verschärfungen des Sexualstrafrechts28 2.6.1Sicherungsverwahrung30 2.6.2Vorbehaltene Sicherungsverwahrung31 2.6.3Nachträgliche Sicherungsverwahrung32 2.6.4Nachträgliche Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden34 2.7Opfer im Strafverfahren35 2.8Politikphasen und Wandlungen des Sexualstrafrechts seit 196937 2.8.1Auswirkungen der Reformen desSexualstrafrechts38 2.9Fazit44 3.Gesetzliche Möglichkeiten der Sexualstraftäterbehandlung47 3.1Behandlung bei Strafaussetzung zur Bewährung und Führungsaufsicht47 3.1.2Soll-/Ist – Zustand48 3.2Behandlung bei der Freiheitsstrafe49 3.2.1Soll-/Ist – Zustand51 3.3Behandlung bei freiheitsentziehender Maßregel53 3.3.1Soll-/Ist-Zustand54 3.4Täterklassifikationen im Rahmen der Behandlung55 3.4.1Sexualstraftäter als heterogene Gruppe60 3.4.2Psychopathen61 3.5Fazit62 4.Behandlungsmaßnahmen64 4.1Aufgaben des Sozialarbeiter im Behandlungsvollzug65 4.1.1Motivationsspektrum68 4.2Kognitiv-behaviorale Therapieansätze69 4.2.1Medikamentöse Therapie73 4.2.2Behandlungsziele74 4.3Legalbewährung76 4.4Fazit79 5.Zusammenfassung80 5.1Ausblick81 5.1.1Das Niedersächsische Justizvollzugsgesetz (NJVollzG)81 5.1.2Die Sexualstraftäterdatei82 5.1.3Nachträgliche Sicherungsverwahrung für Jugendliche83 5.1.4Gesetzesentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 16/1110)84 5.2Schlussfolgerungen85 6.Literaturverzeichnis87 Anhang101Textprobe:Textprobe: Kapitel 1.4, Das Politikinteresse an schwerwiegenden Sexualstraftaten: Kriminalitätsbekämpfung ist ein ständiges Thema für Politiker in Wahlperioden. 'Für Politiker geht es darum, Stimmungen unter ihren Wählern zu erspüren.' Wenn in der Öffentlichkeit ein Sexualverbrechen bekannt wird, wird dieses von Politikern skandalisiert und benutzt, um Versagen anzuprangern und härteres Durchgreifen zu versprechen. Böllinger versucht diese opportunistischen Motive und Nahziele der Politiker verständlicher zu machen: 'Machterhaltung und –gewinn durch populistische Parolen sowie eine schlichte Nachfrageorientierung in Verbindung mit Verzicht auf die eigentlich wesentliche Funktion von politischen Parteien zur Information und Aufklärung der Bürger und der Konzeptualisierung von Lösungsoptionen. Mittelbar trägt dazu auch die gefällige Abstimmung mit den Medien bei, die über ihre Nachrichtenkonstruktion und direkte Finanzierung ihrerseits maßgeblich zu Machtgewinn und erhalt von Politikern beitragen.' Seltene sexuell motivierte Tötungsdelikte binden Ängste vor sexuellen Übergriffen im sozialen Nahraum. Die Tatsache, dass die Mehrheit der Sexualstraftäter mit ihren Opfern gut bekannt ist (siehe Kapitel 1.1.3 Täter-Opfer-Beziehung), wird verdrängt. Angst vor Fremdtätern taucht dann im erhöhten Maße wieder auf. Die Bevölkerung fühlt sich vor diesen Gefahren ausgeliefert und ohnmächtig, wodurch das Bedürfnis nach Schutz wächst. Dieses Sicherheitsbedürfnis versuchen Politik und Justiz durch ein symbolisches Strafrecht demonstrativ zu befriedigen. 1.4.1, Symbolisches Strafrecht: Wenn in der Bevölkerung durch Medien der Eindruck entsteht, dass die Kriminalität und vor allem schwere Delikte stark ansteigen, dann hat das auch Folgen auf die Kriminalpolitik. Die Massenmedien werden wegen ihrer Funktion und faktischen Kontroll- und Steuerungs-Macht nicht umsonst als 'Vierte Gewalt im Staate' bezeichnet. Pfeiffer, Windzio und Kleimann führen an, dass die fünf Reformgesetze seit 1992 immer mit Strafverschärfungen verbunden waren. In den vergangenen 12 Jahren hat die Gesetzgebende Gewalt zu 40 Straftatbeständen die Strafandrohung drastisch erhöht. Die Gerichte haben dazu vergleichbar ihre Sanktionspraxis verschärft. Bei der schweren Körperverletzung etwa ist die Quote der Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe von 5,7% auf 6,9% zwischen 1990 bis 2002 angestiegen. Die Dauer der Haftstrafe hat sich gleichzeitig um fast ein Drittel erhöht. Dieses zusammen bewirkte laut Pfeiffer, dass sich die Summe der Haftjahre, die Gerichte pro 100 Angeklagte dieser Tätergruppe verhängt haben, von 6,2 auf 10 Jahre erhöht hat. Dieser Wandel wäre nachvollziehbar gewesen, wenn sich im gleichen Atemzug die Tatschwere in gleichem Maße erhöht hätte. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Die erwähnten zunehmenden verschärften Sanktionen für Sexual- und Gewaltstraftäter beruhigen allenfalls die Gemüter nach einer Massenmedienwirksam aufgebauschten Straftat. Kury verweist auf der Internetplattform '(ITP) Informationen und Beratung zum Thema Pädophilie' darauf, dass die Erreichung einer substantiellen Reduzierung der Kriminalitätsbelastung offen bleibt. 'Die Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten, vor allem was lange Haftstrafen betrifft, stimmen eher skeptisch.'. 1.5, Fazit: Der in der Öffentlichkeit vorherrschende Eindruck einer konstanten Steigerung an Sexualstraftaten und besonders an solchen mit kindlichen Opfern, lässt sich kriminalstatistisch nicht belegen. Allenfalls ein Anstieg der Medienberichterstattung über Kriminalität und vor allem einzelnen spektakulären Sexualstraftaten mit Tötungsfolge, die eine starke Betroffenheit hervorrufen. Diese Überhäufung der medialen Berichterstattung führt zu dem gesellschaftlichen Eindruck, dass die Zahl der Sexualdelikte zunimmt und die Bevölkerung ausschließlich von Kindmördern und brutalen Vergewaltigern umgeben ist. Es geht keinesfalls darum, schwere Straftaten zu bagatellisieren, sondern sie lediglich im korrekten Verhältnis zu sehen. Es muss absolut alles getan werden, was Straftaten, wie z.B. sexuell motivierte Kindestötungen, Sexualstraftaten generell oder Schwerkriminalität überhaupt reduziert. Jedes einzige Opfer ist zu viel. Eine völlige Ausrottung wird allerdings nicht möglich sein. Die Menschheit muss seit Beginn mit Straftaten leben und wird das auch weiterhin tun müssen. Die völlig übertriebene und in dramatisierender Weise medial präsentierte Kriminalität, kann das Kriminalitätsbild der Bevölkerung von der tatsächlichen Situation einander völlig widersprechen, wie am Beispiel der Sexualkriminalität zu sehen ist. Es verwundert nicht, dass tägliche Berichterstattungen aus der ganzen Welt über Mord, Raub, Vergewaltigung und Sexbestien zur beachtlichen Abweichung der Kriminalitätsvorstellungen der Bevölkerung von der Wirklichkeit führt. Es bleibt zwangsläufig kein anderer Weg als einen Sexualstraftäter einzusperren, wenn er für ein gefährliches Monster gehalten wird. Forderungen nach härteren Strafen, der Todesstrafe oder nach lebenslanger Verwahrung werden immer wieder laut, wenn es irgendwo zu einem grausamen Sexualdelikt gekommen ist. Oft entsteht dabei der Eindruck, dass die Täter durch Gutachter viel zu oft als schuldunfähig bzw. vermindert schuldunfähig erklärt werden und eine Einweisung in forensische Psychiatrien erfolgt. Quantitative Untersuchungen belegten einen anderen Wert. Nur ca. 0,1 % der Täter werden als schuldunfähig und ca. 2,5 % als vermindert schuldfähig eingestuft. Es muss an den Entstehungen angesetzt werden, die zu straffälligen Verhalten beitragen und gleichzeitig muss den Opfern von Straftaten geholfen werden. Die Bevölkerung muss realistisch über drohende Gefahren durch Kriminalität aufgeklärt werden, sodass hoch risikobehaftete und mit großer Opferwahrscheinlichkeit verbundene Situationen nicht aufgesucht werden. Übertriebene und völlig überzogene Berichterstattung kann den Einzelnen in seiner Lebensqualität mindern und beschränken ohne die persönliche Sicherheit merkbar zu erhöhen. An den populistischen Bekundungen, die ein 'Wegsperren für immer' fordern, ist erkennbar, wie weit sich einige Politiker von den wichtigen Grundwerten der Verfassung entfernen und nicht bereit sind, sich an den demokratischen Regeln unserer Gesellschaft auszurichten.
Dieser Jahresbericht stellt die Arbeiten des bei GESIS angesiedelten Forschungsdatenzentrums Wahlen aus dem Jahr 2010 dar. Angebunden an bereits bestehende Dienstleistungsangebote und Forschungsaktivitäten von GESIS ist es seit 2009 Bestandteil der Forschungsdateninfrastruktur des RatSWD. Das Forschungsdatenzentrum knüpft an die Schwerpunktsetzung von GESIS im Bereich der Umfrage- und Wahlforschung an. Hierzu zählen Bundes- und Landtagswahlstudien, das Politbarometer, der DeutschlandTrend und der Forsa-Bus. Als neuestes Projekt kam 2009 die German Longitudinal Election Study (GLES) hinzu. Zu den Aufgaben des Forschungsdatenzentrums Wahlen gehören die Erhebung, Aufbereitung und ausführliche Dokumentation von Primärdaten im Sinne ihrer langfristigen Nutzbarkeit in Forschung und Lehre, wissenschaftliche Mehrwertdienste, Wissensvermittlung und Forschung. Im Jahr 2010 wurde eine Vielzahl an GLES Pre-Releases sowie die letzte Jahreskumulation des Politbarometers vorbereitet und veröffentlicht.
New Yorker Bauarbeiter, die auf einem Balken hoch über der Stadt ihr Mittagsbrot verzehren; der österreichische Außenminister Josef Figl, der auf dem Balkon des Belvedere steht und den Staatsvertrag in die Menge hält; Albert Einstein, der an seinem 72. Geburtstag Journalisten die Zunge zeigt. Bilder wie diese oszillieren zwischen Dokumentation und Inszenierung, verkörpern historische Momente oder Erzählversionen dieser Momente, und sie frieren in einer radikalen Gegenwärtigkeit fest, die sie geradezu für ein Archiv von Klischees qualifiziert. Während viele dieser Bilder Teil eines globalen ikonographischen Gemeinwissens westlicher Prägung darstellen, muten die Bilder und Bildformeln Osteuropas oftmals noch wie Geheimwissen an. Das von Susi K. Frank herausgegebene Buch lädt einerseits dazu ein, diese wenig bekannten "Bildformeln" zu entdecken und bietet andererseits aus bildwissenschaftlicher und kultursoziologischer Perspektive eine umfassende und informierte Reflektion darüber – um die Formel von W.J.T. Mitchell aufzugreifen – was Bilder wollen. In ihrem Sammelband Bildformeln. Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa stellt Susi K. Frank als Herausgeberin Bildformeln des Sowjetischen solchen des Holocaust gegenüber, um in einem dritten Teil des Buches eine Konzeptualisierung von Bildformeln als intermediale Instrumente der Konstruktion bzw. der Revision zu unternehmen. Der Fokus auf Bildmaterial aus Osteuropa ist hierbei bewusst gewählt und zielt auf die Frage ab, "ob es spezifisch osteuropäische Bildformeln gibt, d. h. solche, die das kulturelle Gedächtnis speziell des sowjetischen Raums […] mitkonstituieren, und deren Entstehung und Produktivität wesentlich durch den kulturellen und politischen Kontext der Region mitbedingt sind?" (S. 14). Die Vielfalt der Gegenstände zwischen Text und Bild – von historischen Fotografien über Dokumentar- und Propagandafilme bis hin zu Romanen, Comics und Ausstellungsmaterialen –, die im vorliegenden Band diskutiert werden, ist bestechend. Im "Kapitel I. Formeln des Sowjetischen" finden sich vier Beiträge zu einem kanonisch-fotografischen Dokument der Oktoberrevolution, das auf einem theatralen Reenactment beruht (Beitrag Sasse), zu dem kollektiven 'wir' sowjetischer Identität, das bereits Dziga Vertovs Kino-Auge prägte (Beitrag Sandomirskaja), zu (post-)sowjetischen Bildern des Fahnenhissens als säkulare Ikonen (Beitrag Schwarz) und zu Bildformeln des Hasses und der Gewalt im 2. Weltkrieg in sowjetischen Medien (Beitrag Dobrenko). Das "Kapitel II. (Osteuropäische) Bildformeln des Holocaust in der Spannung zwischen Dokument und Monument" versammelt fünf Beiträge zu einem der berühmtesten sowjetischen Kriegsfotos mit dem Titel Leid (Beitrag Shneer), zu dem Shoah-Gedicht, auf das sich die genannte Fotografie bezieht (Beitrag Shrayer), zum Zusammenhang von Bildformeln und Undarstellbarkeit in West- und Osteuropa (Hicks), zum allerersten Spielfilm über den Holocaust aus dem Jahr 1947 von Wanda Jakubowska, dessen Bilder teilweise in Alan Resnais'Nuit et Brouillard(FR 1955) zitiert wurden (Beitrag Saryusz-Wolska) und zu einer fotografischen Installation Zacisze (dt. Abgeschiedenheit) des polnischen Künstlers Tadeusz Rolke. Im letzten "Kapitel III. Bildformeln zwischen Bild und Text – Instrumente der Konstruktion und Revision des kulturellen Gedächtnisses" verhandeln vier weitere Beiträge Bildformeln im Spannungsfeld von Intermedialität und Selbstreflexivität. Hier wird die im Kontext der Kriegsdarstellung bisher wenig beachtete Pathosformel "der toten Mutter mit lebendigem Kind" (S. 269) diskutiert (Beitrag Frank), sowie der slowakische Künstler Július Koller mit seiner an Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas gemahnenden Archivkunst (Beitrag Pospiszyl). Posthum erscheint der Beitrag über die Danziger Werft, die als Ausgangspunkt der Solidarność-Bewegung gilt und die als Erinnerungsort in den Blick kommt, an dem zuweilen antagonistische Strategien von Gedächtnispolitik verfolgt werden (Beitrag Piotrowski). Der letzte Beitrag zeichnet die Bewegung des Motivs der Fliege von Vladimir Tatlins monumentalem Denkmal zur Dritten Internationale von 1920 über Ilya Kabakovs Das Leben der Fliegen (1992), Georgi Gospodinovs Natürliche[n] Roman (1996) bis hin zu Enki Bilals Comic-Epos Tetralogie des Monsters (1998–2007) nach. Die Fliege als dystopische Bildformel schlechthin und als postsozialistisches Symptom der politischen Anomie steht der einstigen Utopie des Kommunismus diametral gegenüber (Beitrag Zimmermann). Unter den an dem Unternehmen beteiligten zwölf Autorinnen und Autoren sind Slawist/innen, Historiker/innen, Kunstwissenschafter/innen und ein Filmkritiker aus Tschechien, Polen, Großbritannien, Deutschland, Schweiz und den USA. In ihrer sehr ausführlichen Einleitung zeichnet Frank eine Debatte aus dem Bereich der Bildwissenschaften, der historischen Kulturforschung und der Bildsoziologie vor dem Hintergrund des Visual Turn nach, die besonders nachhaltig rezipierte Bilder als "Schlagbilder" (Michael Diers, Kunstwissenschaft), "Schlüsselbilder" (Peter Ludes, Mediensoziologie) oder "Bild-Akte" (Horst Bredekamp, Kunstgeschichte) zu konzeptualisieren suchen. Wie Horst Bredekamp denkt auch Frank von Aby Warburg aus, wenn sie in einer Umwandlung der warburgschen Pathosformel den Begriff der "Bildformel" vorschlägt, der die interdisziplinär geführte Debatte neu befeuern soll. Versuchte Warburg mit der Pathosformel die ikonographische Kodierung pathetischer Gesten in der europäischen Kunst seit der Antike zu fassen, geht Frank von der zweiteiligen Überlegung aus, dass Bilder sich erstens wiederholen und dass sie dies zweitens nicht unbedingt im selben inhaltlichen Kontext tun: "Denn die Grundannahme besteht darin, dass Bilder gerade dadurch, dass sie nicht ganz neu sind, sondern in der ein oder anderen Weise aus vorhandenen ikonographischen Kodes generiert, besondere Wirkmächtigkeit gewinnen können, dass gerade eine gewisse – vielleicht im inhaltlichen Zusammenhang ganz unerwartete – Lesbarkeit ihre Wirkmächtigkeit erhöht. Im Prozess der Kodierung und Umkodierung, generieren sie selbst einen neuen Kode und werden damit ihrerseits als 'Formeln' anwendbar" (S. 9). Der Fokus auf die Affektdarstellung und -wirkung, der für Warburgs Pathosformel zentral war, wird hier zugunsten einer breiter gefassten prinzipiellen Formelhaftigkeit der Bilder aufgegeben. Die Umdeutung zur Bildformel ermöglicht zweierlei: erstens die Bilder in ihrer Symbolkraft zu fassen, zweitens komplexe ikonografisch kodierte Motive zu untersuchen, die oftmals im Dialog zwischen Text und Bild funktionieren. Fragen, die sich aus dem Konzept der hier diskutierten Bildformel ergeben, betreffen den Spannungsbereich von Authentizität und Artefakt, bzw. die Verfahren der Authentisierung, die in sog. Evidenzformeln gerinnen. Außerdem steht der Transfer der Bildformel zwischen den Medien im Vordergrund, beispielsweise wenn die intermediale Verbindung zwischen dem Shoah-Gedicht "Ich habe das gesehen" und einer sowjetischen Kriegsfotografie von 1942 erläutert wird (Beiträge Shneer, Shrayer). Die Analyse der Bildformel ist zudem produktiv für die foucaultsche Forderung, das Dokument als Monument zu begreifen und nicht transzendent zu deuten, sondern immanent zu beschreiben, wie dies beispielsweise in der Analyse des berühmten, vermeintlich authentischen Fotos der Erstürmung des Winterpalais geschieht (Sasse, vgl. S. 42). Die durchwegs sehr lesenswerten und teilweise überraschenden Beiträge von Bildformeln. Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa scheinen mir für ihre Analysen Affekte zu mobilisieren, die, wenngleich weit entfernt vom Pathos, doch Emotionen triggern, die mit erlebten Traumata (Holocaust und Totalitarismus) zusammenhängen sowie mit dem Verlust einer revolutionären Utopie. Nicht zufällig, so scheint mir, wird das Buch auch visuell durch die Abbildungen zweier Orientierungspunkte eingefasst. Auf dem Titelbild sehen wir Tor II von Grzegorz Klamann, auf das im Beitrag von Piotr Piotrowski Bezug genommen wird und auf dem Buchrücken sehen wir Tatlins Tower von 1920, das Denkmal der Dritten Internationale von Vladimir Tatlin, auf das sowohl bei Piotrowski als auch bei Tanja Zimmermann eingegangen wird. Während Tatlins 'Turm' aus Kostengründen nie gebaut wurde und dennoch als Architekturikone und als Symbol einer revolutionären Utopie in die Geschichte einging, bedeutet das 'Tor' von Grzegorz Klamann eine Kritik an der offiziellen triumphalistischen Geschichte der Solidarność sowie die Einforderung einer kritischen Revision dieses Mythos. Nimmt man Tor II aber auch als Anspielung auf Tatlins Turm ernst, bezieht Klamann in seine Kritik am offiziellen Diskurs aber auch das Bedauern über die verlorene Utopie mit ein. Meines Erachtens zeigen die Beiträge des vorliegenden Bandes auch, wie präsent diese Utopie in den Bildformeln Ost- und Südosteuropas tatsächlich ist. Tanja Zimmermann bespricht in ihrem faszinierenden Beitrag "Fliegen und andere Insekten. Epiphanien des Scheiterns in der postkommunistischen Kultur Ost- und Südosteuropas" (S. 335–357) anhand des Bild- und Textmotivs der Fliege eine gesellschaftspolitische Entwicklung des Scheiterns und der Zersetzung, die sich symptomatisch im Auftauchen der Fliege in postsozialistischer Kunst und Literatur manifestiert. Sie schreibt: "Wollten die sowjetischen Biokosmisten in der Stalin-Zeit einen Neuen Menschen schaffen und die minderwertigen, parasitären Kreaturen, darunter auch die Insekten, aus der Welt tilgen (Groys/Hagemeister 2005: 52, 60, 352), steigen gerade die Fliegen in der postkommunistischen Zeit zu Trägern perfekten Erbgutes auf. Sie versammeln sich nun um die postsowjetischen Erinnerungsstätten – kommunalen Küchen und Klos. Diente die Verwandlung des sowjetischen Menschen in eine Fliege in den früheren Werken Kabakovs, […] als Allegorie des miserablen Lebens in der Sowjetunion, des Dissidententums und der Emigration, so wandelte sich die Fliege nach der Wende zur ironischen Figur des sich selbst entfremdeten postkommunistischen Kollektivmenschen" (S. 338f.). Scheint also die Fliege die Verkörperung par excellence eines heutigen Lebensgefühls, zeichnet Zimmermann gleichzeitig akribisch einen kulturhistorischen Diskurs nach, der den Topos der Fliege bereits in der Antike (Lob der Fliegen von Lukian von Samosata), in barocken Stillleben und 'memento mori'-Darstellungen sowie bei Kafka als auch Sartre verortet. Dennoch: die Häufung des Auftretens von Fliegen in der ost- und südosteuropäischen Kultur scheint bemerkenswert. Bemerkenswert ist auch die Schlussfolgerung von Zimmermann, die die Verbreitung des Fliegenmotivs letztlich auf die Sprachlosigkeit der heutigen, post-ideologischen Zeit zurückführt: "Folgt man den postkommunistischen Spuren der Fliege in Ost- und Südosteuropa, fungiert sie nicht nur als Index der gescheiterten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen und familiären Projekte, sondern erscheint im Nucleus aller negativen Zersetzungsprozesse. Damit fügt sie sich als Selbstbeschreibung bzw. Selbstprojektion der Identitäts- und Ortlosigkeit in die Tradition der negativen theologischen sowie der heteronormen Osteuropa- und Balkandiskurse ein. Sie offenbart die Unvereinbarkeit der ideellen und materiellen Werte, der ideologischen Projekte und ihrer pragmatischen Realisierungen. Als Bildformel drückt sie eine dunkle claritas aus, die dort in einer Epiphanie aufblitzt, wo die Sprache versagt" (S. 349f.). Mit diesem Satz schließt der Beitrag von Tanja Zimmermann und auch das Buch von Susi K. Frank. Gleichzeitig scheint er den auf dem Weg zur Bildformel verloren gegangenen Pathos in Erinnerung zu rufen. Wenn die Sprache versagt, weisen Bilder den Weg zum Gefühl.
Dieser Jahresbericht stellt die Arbeiten des bei GESIS angesiedelten Forschungsdatenzentrums "Internationale Umfrageprogramme" aus dem Jahr 2011 dar. Angebunden an bereits bei GESIS bestehende Dienstleistungsangebote und Forschungsaktivitäten trägt es seit 2009 zur Forschungsdateninfrastruktur des RatSWD bei. Das FDZ "Internationale Umfrageprogramme" knüpft dabei an die lange bestehende Schwerpunktsetzung von GESIS im Bereich der international vergleichenden Umfrageforschung an. Hierzu zählt u.a. seit über 25 Jahren die Beteiligung am International Social Survey Programme (ISSP) in der Rolle des Primärforschers für Deutschland und als offizielles Datenarchiv für das Gesamtprogramm ebenso wie eine breite Datenbasis aus weiteren komparativen Studien. Zu den Aufgaben des FDZ gehören Erhebung, Aufbereitung und ausführliche Dokumentation von Forschungsdaten im Sinne ihrer langfristigen Nutzbarkeit in Forschung und Lehre, wissenschaftliche Mehrwertdienste, Wissensvermittlung und Forschung. Neben den fortlaufenden Arbeiten zu den betreuten Umfrageprogrammen war das Jahr 2011 geprägt durch die Aufbereitung und Publikation von Längsschnitt-Datensätzen: die Kumulation der vier Wellen der European Values Study (EVS 1981-2008 Longitudinal Data File), die Kumulation der bislang drei ISSP Religions-Module (1991, 1998, 2008) sowie die Kumulation von fünf Eurobarometer-Umfragen zum Thema "Public Understanding of Science" (1989-2005). Neu ins Angebot aufgenommen wurden die ersten Datensätze aus dem PIREDEU Dateninfrastruktur-Projekt zur Europawahl 2009.