"Armin Nassehi beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Funktion des Politischen, die er nicht nur in der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen sieht, sondern auch in der Herstellung und Bereitstellung politischer Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen hierbei der Begriff des Kollektivs und die Konstruktion adressierbarer Kollektive als Zurechnungsbasis für das politische Entscheiden." (Autorenreferat)
Jean Braudillard hat die These vertreten, dass der Anschlag vom 11. September 2001 eher ein "symbolischer" als ein "realer" Akt gewesen ist, weil die Gewalt und deren Folgeschäden nicht die entscheidende Wirkmacht waren, sondern allein ihr symbolischer Gehalt, ihre Repräsentationsmacht, und dies sowohl für die Terroristen als auch für die Legitimation des "Kriegs gegen den Terrorismus". Der Autor kommentiert diesen Gedanken aus einer systemtheoretischen Perspektive: Der Anschlag war und ist ein weltgesellschaftliches Ereignis, weil die Terroristen mit einer "unvorstellbaren Beobachtungsverfremdung" operierten und rechneten; sie machten auf eine Perspektive aufmerksam, die dem Westen völlig unbegreiflich ist: "Das meinte Braudillard mit der Nichtrealität der Ereignisse, mit ihrem symbolischen Gehalt und ihrem fast kulturindustriell hergestellten Schrecken". Der Autor zieht daraus den "banalen" Schluss für den Westen, "sich schlicht die Selbstbeschreibungen anderer Regionen der Weltgesellschaft anzusehen, anstatt über eine kulturelle Verständigung mit 'dem Islam' zu schwadronieren". (ICA)
Der Autor kritisiert aus differenzierungstheoretischer Sicht die Tatsache, dass der soziologische Gesellschaftsbegriff immer noch durch zwei Bezugspunkte perspektivisch verengt wird: zum einen durch die Frage nach der Integration der divergierenden Teile des Gesellschaftsganzen und zum anderen durch die weitgehende Gleichsetzung gesellschaftlicher Grenzen mit Nationalstaatsgrenzen. Beide Bezugspunkte werden meistens zur Beschreibung struktureller Differenzierungen verwendet, obwohl sie ausschließlich der Ebene der gesellschaftlichen Semantik zuzurechnen sind, wo sie eingesetzt werden, um ein "harmonistisches" Bild einer zugleich differenzierten und integrierten Gesellschaft zu erzeugen. Der Autor versucht in seinem Beitrag zu zeigen, dass sich diese begriffliche Engführung unmittelbar aus der Geschichte des Modernisierungsprozesses und seiner Soziologie ableiten lässt, und dass das Paradigma der gesellschaftlichen Differenzierung an dieser Engführung mitgestrickt hat. Das Ziel seiner Überlegungen besteht darin, der Differenzierungstheorie eine perspektivische Bedeutung zu verleihen, die in der Lage ist, auf die grundlegenden Veränderungen des (welt-)gesellschaftlichen Wandels zu reagieren. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen u.a. das "disembedding" und "reembedding" von Funktionssystemen, die Optionssteigerungen in der modernen Gesellschaft sowie die neue Ordnung der Politischen Ökonomie. (ICI2)
Der Autor setzt sich mit der Verwendung des Begriffs "Exklusion" in der soziologischen Ungleichheitsforschung und in der Sozialpolitik kritisch auseinander. Er weist auf das Verdienst von Robert Castel hin, welcher darauf aufmerksam machte, dass der sozialpolitisch anschlussfähige Begriff der Exklusion nicht ohne weiteres den strengeren Kriterien eines sozialwissenschaftlichen Begriffs genügen kann. Für die Beschreibung von Armut, unterprivilegierten Lebenslagen oder von begrenzten Partizipationschancen ist der theoretische Begriff der Exklusion nach Meinung des Autors ungeeignet. Aus soziologischer Perspektive plädiert er dafür, diese Phänomene nicht als Exklusionsfolgen, sondern als Inklusionsfolgen neu zu diskutieren. Dagegen kann der Begriff der Exklusion im Bereich der Sozialpolitik in einem politischen Sinne verwandt werden, wenn man die Funktion des Politischen als Herstellung von Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit sowie als Abgrenzung eines Raumes auffasst, in welchem kollektive Entscheidungen bindende Wirkungen haben. Die Attraktivität des Exklusionsbegriffs für die Sozialpolitik begründet aber letztlich seine Untauglichkeit für die Soziologie. (ICI2)
Ausgehend von der Feststellung, daß es der Diskurs des Multikulturalismus scheinbar mit einem recht eindeutigen Gegenstand zu tun hat, der zwar unterschiedlich bewertet wird und differente politische, soziologische und ökonomische Diagnosen des Phänomens herausfordert, wird in dem Beitrag überprüft, welche womöglich ungeprüften und nicht mitbeobachteten Konzepte mit dem Begriff der "multikulturellen Gesellschaft" mitgeführt werden. Es wird untersucht, ob der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" als soziologischer Grundbegriff und als diagnostischer Begriff taugt, um das zu beschreiben, worauf er sich letztlich bezieht. Es wird gezeigt, daß sich mit der Debatte um die multikulturelle Gesellschaft die Globalität der Weltgesellschaft in lokalen Diskursen spiegelt. (ICA)
Die Verfasser stellen das auf Hegel zurückgehende klassische Modell von Staatsbürgerschaft und Nationalstaat vor und zeigen. dass das Bild eines ethnisch-national homogenen Nationalstaats, dessen Staatsvolk mit den Staatsbürgern bis auf Ausnahmen identisch ist und in dem Staatsbürgerschaft als Vollinklusionsformel fungiert, theoretisch wie empirisch nicht angemessen ist. Mit der Existenz eines einheitlichen nationalen Staatsvolks schwindet zugleich die Legitimationsbasis des klassischen Staatsbürgerschaftsprinzips. Auch am Mechanismus der Staatsbürgerschaft lässt sich die Tendenz zur Entkoppelung von Inklusionsformen im Gefolge funktionaler Differenzierung ablesen: politische und rechtliche Inklusion treten auseinander. Die Verfasser warnen angesichts der aktuellen wissenschaftlichen und politischen Diskussion vor einer Überschätzung ebenso wie vor einer Unterschätzung des Staatsbürgerschaftsmechanismus. Wenn auch noch nicht von einem "Abschied vom Nationalstaat" gesprochen werden kann, so wird doch kein Weg an der "faktischen multikulturellen-multinationalen Mitgliedschaftspolygamie" vorbeiführen. (ICE)
Es gibt einen weitgehenden common sense in der soziologischen Gesellschaftstheorie, den Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung als Differenzierungsprozeß zu beschreiben. Bereits der klassische Theoriebestand der Soziologie sieht in der funktionalen Differenzierung spezialisierter Handlungsbereiche der Gesellschaft den entscheidenden Grundzug des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Keine Einigkeit freilich herrscht darüber, wie man die Einheit der Gesellschaft als differenzierte Einheit sowohl im theoretischen Sinne zu deuten als auch im praktischen Sinne zu vollziehen habe. Die Beiträge dieses Bandes verstehen sich als Teil einer soziologischen Suchbewegung, die gesellschaftlichen Folgen des modernen Differenzierungsprozesses zu verstehen. - Funktionale Differenzierung und gesellschaftliche Einheit - Funktionale Differenzierung und individuelle Lebenslagen - Fremde und andere.
In: Differenz und Integration: die Zukunft moderner Gesellschaften ; Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1996 in Dresden ; Band 2: Sektionen, Arbeitsgruppen, Foren, Fedor-Stepun-Tagung, S. 619-623
"Die Problematik des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft wird derzeit von zwei gegenläufigen Positionen her gedeutet: als Inklusion im Sinne der Luhmannschen Theorie funktionaler Differenzeirung und als Integration im Sinne des Strukturfunktionalismus. Insbesondere das zweite Konzept steht derzeit Pate für die zeitdiagnostische Deutung von Krisenphänomenen der Gegenwartsgesellschaft, die als Desintegrationsprobleme konzipiert werden (Stichworte: Politikverdrossenheit, Lebenstildiffusion, Gewalt, Rechtsextremismus, Zukunftsangst, neue Armut etc.). Die Inklusionstheorie systemtheoretischer Provenienz dagegen vermittelt oft den Eindruck, als bestünden solche Probleme gar nicht, als habe die Moderne mit dem allgemeienn Prinzip der Inklusion aller in alle Funktionssysteme eine geradezu unproblematische Form der Vergesellschaftung erreicht. Ich gehe von der Hypothese aus, daß die Theorie funktionaler Differenzierung Luhmannscher Provenienz und die empirische Diagnose von Desintegrationsphänomenen jeweils komplementäre blinde Flecke aufweisen: Während diese in der Lage ist, die vorschnelle Annahme einer Gesamtintegration der Person in die Gesellschaftsstruktur als strukturell unmöglich und funktional unnötig zu entlarven, vermag jene zu zeigen, daß das bloße Faktum der Inklusion in gesellschaftliche Funktionsbereiche noch nichts über die Qualität des Inklusionsvergangs sagt. Anders formuliert: Während für Luhmann die Exklusion der Gesamtperson letztlich als gesellschaftlicher Normalfall gilt, ist für das Desintegrationstheorem dies der diagnostische Fokus für die Deutung gesellschaftlicher Problemlagen. Wird vom bloßen Faktum der Inklusion auf die - insbesondere durch Organisation vermittelte - Form der Inklusion umgestellt, können die theoretischen Potentiale der Theorie funktionaler Differenzierung mit der empirischen Sensibilität der Desintegrationsthese verbunden werden, ohne daß vorschnell Integration als Möglichkeitsbedingung von Gesellschaft präjudiziert werden muß." (Autorenreferat)