Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Da mache er sich überhaupt keine Sorgen, kommentiert der Bildungsforscher Olaf Köller Forderungen, aus dem internationalen Schulvergleich auszusteigen: "Nicht wissen zu wollen, was ist, passt nicht in die heutige Zeit." Zur Kritik von Lehrerverbänden an Andreas Schleicher sagt Köller, in der Substanz liege der OECD-Bildungsdirektor "oft gar nicht falsch".
Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel und Ko-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz. Foto: IPN/Davids/Sven Darmer.
Herr Köller, der Lehrerverband wirft OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher nach dessen Interviews in der Stuttgarter Zeitung und anderswo Unwissenschaftlichkeit vor, der Philologenverband fordert die Aussetzung von PISA, solange Schleicher internationaler PISA-Koordinator ist. Die FAZ will sogar unabhängig von Schleicher den Ausstieg Deutschlands aus der weltweit größten Bildungsstudie. Was ist da los?
Es gab in Deutschland schon häufiger Empörung von Lehrerverbänden und Politikern über Aussagen von Andreas Schleicher. Doch auch wenn diese im Ton manchmal überzogen und im aktuellen Fall sicher mit Absicht provokant formuliert waren, in der Substanz liegt er oft gar nicht so falsch.
Zum Beispiel?
Dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hohe Lehrergehälter haben. Nehmen Sie eine 50 Jahre alte Studienrätin, verheiratet, zwei Kinder, privat krankenversichert, mit einem Nettogehalt von über 5000 Euro im Monat. Wenn sie krank ist, bekommt sie schnell einen Arzttermin, und wenn sie in Ruhestand geht, kann sie mit 3500 Euro und mehr Pension rechnen. Damit steht sie im Vergleich zu fast allen ihren internationalen Kolleginnen und Kollegen extrem gut da. Und wenn Andreas Schleicher sagt, wir hätten in Deutschland ein Problem mit der Unterrichtsqualität, muss man das nicht so drastisch ausdrücken wie er, aber für die Feststellung an sich gibt es empirische Evidenz, auch in der aktuellen Pisastudie.
"Wenn wir sehen, dass die mathematikbezogene Motivation erneut heruntergegangen ist, kann man schon mit einiger Plausibilität die Hypothese ableiten, dass das mit der Qualität das Unterrichts zu tun hat."
Evidenz welcher Art?
Rund 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland, die ein Gymnasium besuchen, berichten davon, dass ihr Mathematikunterricht wenig unterstützend und kaum kognitiv aktivierend sei. Und bei Pisa 2022 haben wir eine Ergänzungsstudie durchgeführt, die Aufschluss über die Qualität der Klassenarbeiten gibt: meist relativ triviale mathematische Routine und kaum Aufgaben, die zur Problemlösung herausfordern.
Die Philologenverband-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing wirft Schleicher vor, mit seinem fortgesetzten Lob der Schulsysteme undemokratischer Staaten wie China "könnte man zudem annehmen, dass der PISA-Koordinator dem Missbrauch schulischer Bildung durch totalitäre Systeme nachgerade das Wort rede".
Ich würde wirklich allen Seiten raten, die Polemik herauszunehmen. Wir wissen seit der ersten Timms-Studie Mitte der 90er Jahre, dass viele asiatische Länder sehr, sehr guten und aktivierenden Unterricht anbieten. Und das nicht nur in Mathematik. Auch in den Naturwissenschaften oder in Englisch folgt der Unterricht einer anderen Choreographie als bei uns. Das betrifft die Volksrepublik China, das betrifft aber auch demokratische Staaten wie Japan oder Taiwan. Überall gibt es einen klaren Blick dafür, welche Aufgaben ich als Lehrkraft wählen muss, um in 45 oder 60 Minuten das Unterrichtsziel zu erreichen, das ich mir selbst gesteckt habe. Klar bekommen wir bei Besuchen zum Teil einstudierte Vorführstunden gezeigt, aber auch wenn wir das einpreisen, bleibt die Feststellung: Viele asiatische Schulsysteme wissen, was guten Unterricht ausmacht, und wir können einiges von ihnen lernen.
Auch die FAZ kommentierte, Schleicher nutze jede Gelegenheit, Kausalitäten aus PISA-Daten abzuleiten, die es überhaupt nicht gebe.
Den Vorwurf halte ich für überzogen. Natürlich wissen wir, dass Pisa-Daten in der Regel keine kausalen Schlüsse zulassen. Aber Hinweise geben sie schon. Wenn wir etwa sehen, dass die mathematikbezogene Motivation zwischen 2018 und 2022 in Deutschland erneut deutlich heruntergegangen ist, kann man daraus schon mit einiger Plausibilität die Hypothese ableiten, dass das etwas mit der Qualität das Unterrichts zu tun hat. Natürlich ist das dann nur eine Hypothese, die man weiter untersuchen muss. Und das tun wir. Das Quamath-Programm, das über zehn Jahre hinweg die Qualität mathematischen Unterrichts in Deutschland verbessern soll, hat die Kultusministerkonferenz übrigens auch nicht gestartet, weil wir hierzulande so einen Bombenunterricht haben.
"Herr Schleicher trägt zur Bildungsforschung in Deutschland nichts bei. Er schadet ihr aber auch nicht."
Der Philologenverband befindet: "Ob sich die seriöse empirische Bildungsforschung von dem Schaden und Vertrauensverlust erholt, den Andreas Schleicher ihr in Deutschland zufügt, bezweifeln wir."
Wenn Sie in Deutschland herumfragen, wer die Protagonisten der empirischen Bildungsforschung sind, würde der Name Andreas Schleicher gar nicht fallen. Er ist als Leiter des OECD-Direktorats für Bildung primär dafür verantwortlich, dass PISA weltweit administrativ klappt. Sogar er selbst hat, glaube ich, nicht den Anspruch, Bildungsforscher im engeren Sinne zu sein. Wenn Sie nach Deutschland schauen, Tina Seidel von der TU München, die ist eine Bildungsforscherin, oder Nele McElvany von der TU Dortmund. Soll heißen: Die deutsche Bildungsforschung ist viel breiter aufgestellt als nur mit PISA, wobei ich ich persönlich auch die deutschen PISA-Koordinatorinnen dazu zählen würde. Herr Schleicher aber trägt zur Bildungsforschung in Deutschland nichts bei. Er schadet ihr aber auch nicht.
Der Lehrerverband fragt trotzdem: "Wenn man den PISA-Macher nicht mehr ernstnehmen kann, kann man dann noch PISA ernstnehmen?"
Andreas Schleicher ist nicht verantwortlich für die Feldarbeit in den Ländern, nicht für die Erhebung der Daten. Er schreibt auch nicht den PISA-Bericht. Er zieht Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen wie viele andere auch. Der frühere Hamburger Bildungssenator Ties Rabe zum Beispiel. Oder Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. PISA spielt in der Gesamtstrategie der Kultusministerkonferenz (KMK) eine zentrale Rolle, weil diese Studie über die Jahre hinweg immer wieder verlässliche Information über die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems liefert.
Aber wie verlässlich sind die? Es gebe gute Gründe, an der Aussagefähigkeit der Daten zu zweifeln, schreibt die FAZ. Deutschland sei das einzige Teilnehmerland, das eine Zielpopulation von über 99 Prozent im Jahr 2018 und über 90 Prozent im Jahr 2022 hatte. "Das bedeutet, dass auch Förderschüler dabei sind. Andere Länder haben deutlich niedrigere Zielpopulationen und deshalb bessere Ergebnisse."
Diesem FAZ-Kommentar liegt ein Missverständnis zugrunde, eine Verwechslung zwischen Zielpopulation und Teilnahmequoten. Die meisten PISA-Staaten haben eine Zielpopulation von über 90 Prozent, das ist der Anteil der 15jährigen Schülerinnen und Schüler, der potenziell getestet wird. Bei den tatsächlich getesteten liegt Deutschland wie viele andere Staaten zwischen 85 und 90 Prozent. Man kann sich also nicht einfach damit herausreden, dass in Deutschland andere Schülerpopulationsanteile getestet würden. Und selbst wenn wir sagen würden, wir lassen einfach alle internationalen Vergleiche weg, müssten wir immer noch konstatieren: Das deutsche Gymnasium hat in Mathematik zwischen 2012 und 2022 im Vergleich mit sich selbst rund 50 Punkte verloren, das entspricht dem Lernzuwachs von mehr als anderthalb Schuljahren.
Genau das fordert die FAZ ja: Deutschland soll aus PISA und weiteren internationalen Studien wie IGLU und Timss aussteigen und dafür den nationalen Vergleich des IQB-Bildungstrends ausweiten.
Dann hätten wir aber nicht mehr den Benchmark mit Ländern, die ganz ähnliche Bildungssysteme haben wie wir: Österreich, die Schweiz, Luxemburg. Und wenn wir den Blick etwas weiten, sehen wir viele EU-Länder, die bei PISA ähnlich hohe Teilnahmequoten erreichen wie wir und wo trotzdem immer wieder interessante Reformen stattfinden. Polen oder Estland, um nur zwei zu nennen. Insofern würden uns ohne PISA-Teilnahme viele Erkenntnisse entgehen: etwa auch, dass es in den vergangenen Jahren in vielen Ländern abwärts ging, aber in Deutschland eben stärker als im internationalen Durchschnitt. Das sind Informationen, die man hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht unterschätzen sollte, auch zur Einordnung bildungspolitischer Weichenstellungen in Deutschland.
"Es verlangt auch keiner von den Wirtschaftsweisen, keine Prognosen mehr zum Wirtschaftswachstum abzugeben, weil wir uns in einer Konjunkturkrise befinden."
Die heftige Kritik an PISA erinnert an Grundsatzdebatten in den ersten Jahren nach Einführung der Studie in den Nullerjahren. Kommen die jetzt wieder?
Wir haben schon nach dem IQB-Bildungstrends 2021 und 2022 erlebt, dass die Rolle der Lehrkräfte und die Qualität des Unterrichts in den Fokus rückte. Was nicht wundert bei einem solchen Leistungsrückgang auch an den Gymnasien. Was mich wundert ist, dass die Lehrerverbände sich in Reaktion darauf gleich in solch eine defensive Haltung begeben haben. Man kann ja über einzelne Punkte und Methodiken diskutieren, aber jetzt einfach den Ausstieg aus PISA zu fordern, und das dann noch mit Äußerungen von Andreas Schleicher zu begründen, erscheint mir nicht zielführend. Es verlangt auch keiner von den Wirtschaftsweisen, keine Prognosen mehr zum Wirtschaftswachstum abzugeben, weil wir uns in einer Konjunkturkrise befinden. Nicht wissen zu wollen, was ist, passt nicht in die heutige Zeit. In keinen Politikbereich. Ohne Informationen über Problemlagen, etwa dass in Mathematik in Deutschland 30 Prozent zur Risikogruppe zählen, ziehen wir den Karren nicht aus dem Dreck. Das muss auch den Lehrerverbänden klar sein.
Der Deutsche Lehrerverband nutzt die Informationen aus den Studien selbst durchaus für seine Argumentation. So stellt er fest, dass der steigernde Leistungsabfall in den PISA-Studien parallel zur Implementierung zu "Änderungen in Pädagogik, Methodik und Didaktik" gelaufen sei, wobei als Beispiele "Kompetenzorientierung, selbstgesteuertes Lernen, Absage an Leistungsprinzip, Gründung neuer Gesamt- und Gemeinschaftsschulen" genannt werden. Diese Änderungen müsse die deutsche Bildungspolitik daher überprüfen, fordert der Lehrerverband.
Die Kompetenzorientierung war vielen schon immer ein Dorn im Auge. Da liegt es natürlich nahe zu sagen: Die Ergebnisse sind deshalb schlecht, weil wir die Dinge nicht mehr so machen, wie wir sie früher gemacht haben. Aber wie ich schon erwähnte: Wenn wir uns den tatsächlichen Unterricht anschauen, wie er vielerorts an deutschen Schulen läuft, lautet die Diagnose eher, dass dort noch ziemlich viel so gemacht wird wie immer. Wir Bildungsforscher wären richtig glücklich, wenn wir im Matheunterricht beobachten könnten, dass dort eine stärkere Ausrichtung am Leben außerhalb der Schule erfolgen würde. In Englisch ist das der Fall, der Englischunterricht hat Antworten gegeben auf die sich verändernde Welt, und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler im IQB-Bildungstrend sind zwischen 2016 und 2022 gestiegen.
Ist PISA in Deutschland ein Auslaufmodell, Herr Köller?
Nein, da mache ich mir gar keine Sorgen. Die nächste Erhebungsrunde für PISA 2025 ist in Vorbereitung, die KMK bekennt sich zur Qualitätssicherung im Bildungssystem, bei dem PISA, Timss und CO eine ebenso wichtige Rolle spielen wie der IQB-Bildungstrend. Im Übrigen steht PISA nicht nur in Deutschland auf festem Boden, sondern ist international eine Riesen-Erfolgsgeschichte. 2000 sind wir mit 32 Staaten gestartet, inzwischen sind wir bei fast 90 Ländern und Regionen weltweit angelangt. Überall herrscht der Eindruck, dass PISA keinen Blödsinn produziert, sondern ein wichtiger Indikator ist zur Feststellung der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Welche guten Nachrichten ich in Sachen Blogfinanzierung habe, warum ich weiter dringend Ihre Unterstützung brauche – und welche Artikel im Dezember am meisten gelesen wurden.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Die Konstanzer Universitätsleitung ist stolz auf ihr neues Karrieremodell. Aber hält es auch, was es verspricht? Ein Interview mit Prorektor Malte Drescher über Abhängigkeitsverhältnisse, Drittmittelvorgriff, Stellenpools – und eine neue Währung im internationalen Wettbewerb um Talente.
Malte Drescher ist als Prorektor an der Universität Konstanz unter anderem für Forschung, Karriereentwicklung und Transfer zuständig. Im Dezember 2023 wurde er zum Präsidenten der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) gewählt und tritt sein Amt im Oktober an. Foto: Inka Reiter / Universität Konstanz.
Herr Drescher, die Universität Konstanz hat ein Personalkonzept mit der wenig bescheidenen Überschrift "Attraktive und verlässliche Karrierewege für exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler". Was ist denn so mutig und anders an Ihrem Modell?
Wir kokettieren in Konstanz gern damit, als kleinste und damit agilste deutsche Exzellenzuniversität immer auch ein Reallabor zu sein. Wir probieren Dinge aus, und genau das wollten wir auch bei diesem wahrscheinlich zurzeit wichtigsten hochschulpolitischen Thema. Zwei Jahre lang haben wir uns damit auseinandergesetzt, immer wieder, über alle Ebenen, Gremien, Statusgruppen und Fachbereiche der Universität hinweg. Im Vordergrund stand für uns immer, dass wir die besten Köpfe für Konstanz rekrutieren wollen, und die Währung, mit der wir sie im internationalen Wettbewerb heutzutage bekommen, ist die richtige Kombination von attraktiven Aufgaben und die nötige Perspektive bei der Karriereplanung. Entscheidend ist, dass unser Modell mehr ist als eine Absichtserklärung. Daher haben wir unser Konzept bis in einzelne Maßnahmen, bis ins kleinste – um nicht zu sagen: manchmal nervigste – Detail ausbuchstabiert.
Verabschiedet haben Sie Ihr Konzept im vergangenen Sommer. Schon da steckte die Ampel-Koalition mit ihrer versprochenen Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) fest. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Wir wollten nicht warten, vor allem wollten wir zeigen, was alles unter den gegebenen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen möglich ist. Und das ist viel. Uns war es besonders wichtig, den notwendigen Kulturwandel an der Universität durch Maßnahmen zu unterstützen, die sowohl den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den frühen Karrierephasen nutzen als auch den etablierten PIs.
Dann bitte mal konkret.
In der Promotionsphase setzen wir in Konstanz bei Haushaltstellen auf Mindestvertragslaufzeiten von anfangs drei Jahren. Das ist nichts Besonderes mehr, das halten viele Universitäten inzwischen genauso. Wir haben aber, und das nicht so selbstverständlich, die drei Jahre jetzt zusätzlich für die vielen Promovierenden eingeführt, die über Drittmittel finanziert werden. Dahinter verbirgt sich ein Pfandsystem, das ich für innovativ halte. Eigentlich passt die Bezeichnung Drittmittelvorgriff-Modell besser, denn darum geht es: Unabhängig davon, wie lang ein Drittmittelprojekt noch läuft, gehen wir als Universitätsleitung in Vorleistung und gewähren für Promotionen einen Dreijahresvertrag. Weil wir darauf vertrauen, dass unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Lage sind, neue Mittel einzuwerben, zum Beispiel die Verlängerung eines Sonderforschungsbereichs.
Und wenn die Drittmittel doch ausbleiben?
Dann holen wir uns das Geld zurück über Mittel der PIs wie Berufungszusagen oder über die Nichtnachbesetzung der ihnen gewährten Haushaltsstellen, wenn die irgendwann freiwerden. Es soll ja nur ein Pfand sein, ein Kredit. Die Wissenschaftler müssen den Anreiz zur erfolgreichen Drittmittelakquise behalten.
"Als Hochschulleitung sind wir eine freundliche Bank."
Und das machen die mit?
Wie gesagt: Wir haben unser Konzept universitätsweit im Konsens beschlossen. Dazu gehört, dass die meisten Beteiligten verinnerlicht haben, dass sich etwas Grundsätzliches ändern muss. Im Gegenzug haben die PIs deutlich attraktivere Arbeitsbedingungen für die Doktoranden zu bieten, die gerade vor der Tür stehen.
Eine Bank würde für so eine Risikoabsicherung Zinsen berechnen.
Als Hochschulleitung sind wir eine freundliche Bank und wollen natürlich keine Zinsen. Außerdem kostet uns die Regelung im Idealfall gar nichts, weil das Geld ja zurückkommt – solange die Ausgaben für die Stellen nicht die Berufungszusagen übersteigen. Um die Vertragslaufzeiten drittmittelfinanzierter Doktoranden drückt sich übrigens auch der WissZeitVG-Referentenentwurf der Ampel herum. Und obgleich wir unabhängig davon handeln: Es ist schon ärgerlich, wie lange das Gesetz auf sich warten lässt.
Und bei der Postdoc-Entfristung konnten die Fraktionen sich gar nicht erst mit dem BMBF auf eine Lösung einigen. Was ist da der Konstanzer Weg?
Wir sind davon überzeugt, dass die Postdoc-Phase kurz zu sein hat, weil sie als Orientierung und Weichenstellung dienen sollte – hin zu einer anschließenden Qualifizierung auf dem Weg zu einer Professur. Oder auf eine andere wissenschaftliche Stelle mit verlässlicher Perspektive. Oder eben für eine Entscheidung für eine Karriere außerhalb der Wissenschaft.
Gut und schön. Aber was heißt kurz?
Das ist die Frage, die alle umtreibt. Unser Rektorat ist in die Diskussion eingestiegen mit dem Ziel, auf eine Höchstbefristungsdauer von zwei Jahren zu kommen. Wir haben uns dann aber überzeugen lassen, dass das zu kurz ist und vier Jahre deutlich besser passen. Dies entspricht dem Fenster beispielsweise für den Zugang zum Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), außerdem müssten Sie sich bei zwei Jahren praktisch am ersten Postdoc-Tag auf eine Tenure-Track-Professur bewerben, weil die Berufungsverfahren so lange dauern. Das würde die Idee einer Orientierungsphase obsolet machen.
Da hat Sie der Mut ganz schön verlassen, oder?
Unser höchster Anspruch ist nicht, mutig zu handeln, sondern klug. Jeder Postdoc hat im Gegenzug das Recht auf eine Karriereberatung unabhängig vom Professor, und zwar durch unser Academic Staff Development. Im Übrigen bezweifle ich, dass dieser bundesweite Streit um zwei, drei oder vier Jahre tatsächlich zielführend ist. Dreh- und Angelpunkt für attraktive Karrierebedingungen ist, dass alle Universitäten begreifen, wie wichtig dieses Thema für sie selbst, ihre Zukunft und Exzellenz ist. Das ist der entscheidende Kulturwandel.
Was heißt für Sie Exzellenz in dem Zusammenhang?
Exzellenz bedeutet Bestenauslese abhängig vom Potenzial junger Forschender in Forschung, Lehre und Transfer. Und der Kulturwandel besteht in der Art, wie wir die Besten für unsere Dauerstellen auswählen. In einem ersten Schritt identifizieren wir als Institution strategisch, wo genau welcher Personalbedarf besteht. Dann besetzen wir die Stellen über vorher festgelegte, transparente Verfahren und Kommissionen. Nur so kommen wir weg von bilateralen Abhängigkeitsverhältnissen, dass zum Beispiel Stellen freihändig geschaffen werden, um bestimmte Leute draufzusetzen, die sich dann von Kettenvertrag zu Kettenvertrag hangeln. Übrigens sind wir überzeugt, dass nur solch ein Modell mit klaren Prozessen in der Lage sein wird, die Diversität zu erhöhen – und parallel die Exzellenz der Stelleninhaber.
"Ich habe eingesehen, dass es viele Fachdisziplinen gibt, in denen an der Habilitation kein Weg vorbeiführt."
Was Sie da beschreiben, erfordert ein völlig neues Verständnis von Stellenplanung. Und eine Entmachtung der einzelnen Professoren.
Das ist ein dickes Brett, ja. Die Fachbereiche haben anderthalb Jahre Zeit für die Entwicklung von Personalkonzepten, die wie gesagt unabhängig sein müssen von bestimmten Personen und potenziellen Stelleninhabern. Welche Aufgaben sind Daueraufgaben? Welche Professuren sollten nachbesetzt, welche umgewidmet werden? Am Ende werden die Konzepte mit dem Rektorat abgestimmt und ergeben eine Grundlage, die über die sonst in Baden-Württemberg übliche, alle fünf Jahre neu beschlossene Struktur- und Entwicklungsplanung für Universitäten weit hinausreicht. Mit einer Entmachtung der Professor*innen hat das im Übrigen nichts zu tun. Es handelt sich um eine Optimierung der Stellenstruktur, an der die Professor*innen selbstverständlich ganz zentral beteiligt sind.
Was wird in Ihrem System eigentlich aus der Habilitation?
Das ist noch ein Punkt, wo ich persönlich etwas gelernt habe. Zu Beginn unserer Diskussion habe ich den Standpunkt vertreten, dass wir in Konstanz dieses Modell aufgeben sollten. Ich habe aber eingesehen, dass es viele Fachdisziplinen gibt, in denen an der Habilitation kein Weg vorbeiführt. Sie werden sie nicht aufgeben. Darum muss unser Ziel sein, die Habilitation ebenfalls mit einer stärkeren Verlässlichkeit auszustatten. Bei uns in Konstanz erhält jeder Habilitand und jede Habilitandin daher jetzt eine verlässliche Vertragslaufzeit von sechs Jahren, und zwar in Form einer Verbeamtung auf Zeit.
Lassen Sie mich nachrechnen. Das heißt: Wer in Konstanz habilitiert, kann künftig bis zu 16 Jahre befristet werden: sechs Jahre bis zur Promotion, vier Jahre in der Postdoc-Orientierungsphase, und dann sechs Jahre als habilitierender Beamter auf Zeit.
Es kann in Promotion und Postdoc-Orientierungsphase auch schneller gehen, aber im Kern ist das richtig. Und es ist unsere Antwort darauf, dass wir die Habilitation als je nach Disziplin wichtigen Qualifizierungspfad nicht zumachen wollten.
Und wo ist da die Verlässlichkeit, wenn die sechs Jahre Habil-Befristung ohne Anschlusszusage daherkommt?
Die Verlässlichkeit liegt in der gesicherten Zeit für die Habilitation selbst, sie ist ein Fortschritt gegenüber der Vergangenheit, die bei der Vertragsgestaltung von Abhängigkeitsverhältnissen gekennzeichnet war.
"Manchmal finden wir auch kreative Lösungen, wenn gesetzliche Vorgaben Hürden aufbauen."
Haben Sie nicht das Gefühl, auch hier in ihrem persönlichen Reformeifer eingebremst worden zu sein? Unkonventionell gestartet, konventionell gelandet?
Das mag mancher so sehen. Aber was nützt es uns, wenn wir uns am Reißbrett ein bestechendes Konzept überlegt haben, das dann vielleicht in der Physik gut funktioniert, in der Literaturwissenschaft aber überhaupt nicht – oder umgekehrt? Ich glaube, das ist etwas, worauf auch die Wissenschaftspolitik achten sollte: die große Fächerbreite und die unterschiedlichen Bedarfe nicht zu vergessen.
Sie haben am Anfang gesagt, Sie wollten mit Ihrem Konzept zeigen, was alles innerhalb der geltenden gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen möglich ist. Was hätten Sie trotzdem gern anders gemacht, wenn die Gesetzeslage es zuließe?
Wichtig ist vor allem, dass die gesetzlichen Möglichkeiten sich nicht so ändern, dass sie unsere Wettbewerbslage verschlechtern. Das wäre etwa der Fall, wenn wir nach der WissZeitVG-Novelle im Postdoc-Bereich nur noch zwei Jahre befristen dürften, während Hochschulen im Ausland attraktive Stellen mit einer Laufzeit von vier oder sechs Jahren anbieten, auf die junge Wissenschaftler*innen dann wechseln. Und meine zweite Antwort: Manchmal finden wir auch kreative Lösungen, wenn gesetzliche Vorgaben Hürden aufbauen.
Bitte ein Beispiel.
Wir sind gesetzlich gezwungen, für jede Tenure-Track-Stelle nach sechs Jahren eine dauerhafte Professorenstelle vorzuhalten. Das beschränkt die Zahl der Tenure-Track-Ausschreibungen von vornherein, obwohl am Ende gar nicht alle die Evaluation bestehen. Wir haben das Problem gelöst, indem wir einen W3-Stellenpool geschaffen haben, so dass unabhängig vom Freiwerden einzelner Professuren ein Anschluss immer möglich ist – und wir mutiger Tenure-Track-Stellen ausschreiben können.
Noch ein Wort zu den finanziellen Rahmenbedingungen?
Wir können nicht auf die Politik warten. Aber wenn wir über neue Personalstrukturen und mehr Dauerstellen reden, braucht es dafür am Ende natürlich doch auch mehr Geld. Nicht in unendlichen Mengen, aber so viel, dass Entfristungen nicht auf Kosten der Qualifizierungsstellen gehen. Hier würden wir uns neben der verbalen über jede tatkräftige Unterstützung freuen. Das klingt fast banal, ist aber – wie immer – essenziell.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Welche guten Nachrichten ich in Sachen Blogfinanzierung habe, warum ich weiter dringend Ihre Unterstützung brauche – und welche Artikel im Dezember am meisten gelesen wurden.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Ministerium versendet Referentenentwurf zur Novelle, unter anderem geplant: eine Studienstarthilfe von 1000 Euro und ein "Flexibilitätssemester", aber offenbar keine Erhöhung der Bedarfssätze. Studierendenwerk spricht von "herber Enttäuschung".
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Berlin-Mitte. Foto: Wikimedia Creative Commons, CC-BY-SA-4.0.
DAS GING SCHNELL: AM Mittwoch versendete das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Referentenentwurf für die vom Haushaltsausschuss geforderte BAföG-Reform zur Stellungnahme in die Community. 150 Millionen Euro zusätzlich hatten die Haushaltspolitiker dafür im Haushalt 2024 in Aussicht gestellt – unter der Bedingung, dass die Novelle zum Wintersemester 2024/25 startet.
Die Geschwindigkeit spricht dafür, dass man im BMBF bereits vor der Maßgabe der Haushaltspolitiker an der Novelle arbeitete. Als wesentliche Maßnahmen der Reform nennt das Ministerium dem Ampel-Koalitionsvertrag folgend unter anderem die Einführung eines Flexibilitätssemesters über die Förderungshöchstdauer hinaus und eine Studienstarthilfe für besonders arme Studierende in Form eines einmaligen Zuschusses von 1000 Euro. Außerdem soll die Frist für einen förderungsunschädlichen Wechsel des Studienfachs um ein Semester verlängert werden, die Freibeträge sollen um weitere fünf Prozent steigen und eine Anpassung an die aktuellen Sozialversicherungssätze erfolgen.
"Ohne die vorgeschlagenen Änderungen und Anpassungen würden die Förderungsleistungen nach dem BAföG den Bedürfnissen der Studierenden mit Blick auf tatsächliche Studienverläufe wie auch die Startbedingungen von Studierenden aus Familien mit Sozialleistungsbezug nicht mehr gerecht", erläutert das Ministerium. Der Referentenentwurf wurde unter anderem an die Hochschulrektorenkonferenz, an die Studierendenverbände, die Länder und die Kommunalverbände verschickt.
Aufmerken lässt, dass das Ministerium anstatt der 150 Millionen Euro dieses Jahr nur 62 Millionen Euro zusätzlich für den BAföG-Titel veranschlagt, außerdem vier Millionen für daraus resultierende Mehrkosten im Rahmen des Aufstiegsfortbildungsfördergesetzes (AFBG). Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass von einer Erhöhung des Bedarfssatzes wie auch der Wohnkostenpauschale im Referentenentwurf nicht die Rede ist. Auf Anfrage erklärte das BMBF, für einen großen Teil der Studierenden seien die aktuellen Bedarfssätze ausreichend (siehe unten).
2025 rechnet das Ministerium mit 229 Millionen Euro Mehrkosten, 2026 mit 201 Millionen, 2027 mit 176 Millionen Euro für die Ausbildungshilfe. Der Haushaltsausschuss hatte in seiner Bereinigungssitzung am 17. November die BAföG-Novelle gefordert, "damit die Förderung den stark gewachsenen Lebenshaltungskosten der Studierenden sowie ihrer veränderten Lebens- und Studienrealität gerecht wird." Gleichzeitig solle mit dem Geld die Anpassung des BAföG-Bedarfssatzes an das Existenzminimum und "der Sätze für Unterhaltszahlung infolge der zu erwartenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" finanziert werden. Der Haushaltsausschuss verlangte also auch die Erhöhung des Bedarfssatzes explizit.
Zugleich sorgten die Haushaltspolitiker mit einem Sperrvermerk dafür, dass die zusätzlichen 150 Millionen erst bei Vorliegen der Novelle fließen sollten – was auch verhindern würde, dass sie vorher im Rahmen einer sogenannten Globalen Minderausgabe verschwinden. Trotzdem warnte zuletzt der Studierendenverband fzs genau vor diesem Szenario: Das "BAföG darf der Schuldenbremse nicht zum Opfer fallen."
Nicht ganz ohne Grund: Das BMBF soll wie berichtet 200 Millionen Euro zusätzlich an Globalen Minderausgaben stemmen, und formal sind die November-Beschlüsse des Haushaltsausschusses noch gar nicht in Kraft. Die Sitzung wurde damals wegen der Haushaltskrise nicht abgeschlossen, sondern offiziell lediglich unterbrochen. Am 18. Januar soll sie fortgesetzt und dann auch abgeschlossen werden.
Studierendenwerk, Studierendenverband und grüner Koalitionspartner üben scharfe Kritik
"Eine blutleere Klein-Novelle", nennt der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Studierendenwerks (DSW), Matthias Anbuhl, die BMBF-Pläne auf Anfrage. "Dieser Entwurf des Bildungsministeriums ist eine herbe Enttäuschung." Das BMBF lasse deutlich mehr als die Hälfte der vom Haushaltsausschuss bereitgestellten 150 Millionen Euro "einfach liegen". Wenn das Gesetz so komme, würde den BAföG-geförderten Studierenden trotz des rasanten Anstiegs der Lebensmittel- und Energiepreise und explodierender Mieten mindestens sechs Semester Stillstand beim BAföG-Grundbedarf und bei der Wohnkostenpauschale zugemutet. "Jetzt muss – erneut – das Parlament eingreifen und eine kraftvolle BAföG-Novelle festschreiben", fordert Anbuhl.
Der Studierendenverband fzs kommentierte in seiner ersten Reaktion, seine Befürchtungen seien nun "bittere Realität" geworden. "Das Ministerium will einen großen Teil der auferlegten Sparmaßnahmen von den Studierenden nehmen", sagte Vorstandsmitglied Niklas Röpke. 88 Millionen Euro weniger flössen in eine BAföG-Reform, mit den übrigen 62 Millionen Euro bleibe ein Reform-Paket, das hinter der Realität der Studierenden weit zurück bleibe. "So fällt nicht nur das Flexibilitätssemester hinter der durchschnittlichen Studiendauer zurück, sondern es wird auch keine Erhöhung der BAföG-Bedarfssätze geben. Hier vernachlässigt die Bundesregierung ihre sozialen Verantwortung zugunsten des Sparhaushaltes." Es sei ein fatales Signal, dass das Ministerium nicht die vom Haushaltsausschuss gegebenen Möglichkeiten wahrnehme, sondern das BAföG zu seiner Sparbüchse mache und auf eine möglichst spätes Urteil des Bundesverfassungsgerichts hoffe.
2021 war das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis gekommen, dass die Berechnung der BAföG-Sätze zumindest im Zeitraum Oktober 2014 bis Februar 2015 nicht vereinbar mit dem Grundgesetz gewesen sei. Geklagt hatte eine Osnabrücker Studentin und war durch mehrere Instanzen gegangen. Weil das Bundesverwaltungsgericht aber nicht berechtigt ist, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes festzustellen, legte es die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor. "Viele Expert*innen sind sich sicher, dass dieses in unserem Sinne urteilen und die BAföG-Sätze für verfassungswidrig niedrig erklären wird", kommentierte fas-vorstandsmitglied Röpke weiter und wandte sich direkt an Bettina Stark-Watzinger: "Tun Sie also schon jetzt etwas dagegen, Frau Ministerin!"
Die fürs BAföG zuständige Berichterstatterin der grünen Bundestagsfraktion, Laura Kraft, warf dem BMBF vor, der vorgelegte Referentenentwurf bleibe hinter der Ampel-Vereinbarung einer grundlegenden Reform des BAföG zurück. Studierende bräuchten dringend mehr Unterstützung. "Der Grundbedarfsatz liegt mittlerweile mehr als 100 Euro unter dem Bürgergeld, und von der Wohnpauschale kann sich kaum noch jemand eine warme Wohnung leisten." Das BAföG müsse endlich an die Studienrealitäten angepasst werden. "Deshalb erwarten wir weitreichende strukturelle Verbesserungen. Wir Grüne werden uns im Parlamentarischen Verfahren dafür einsetzen, das BAföG endlich in das aktuelle Jahrzehnt zu holen."
BMBF: Für einen großen Teil der Studierenden reichen die BAföG-Bedarfssätze
Das BMBF bestritt am Nachmittag auf Anfrage, dass die BAföG-Bedarfssätze durch die Bank zu niedrig liegen. Ein großer Teil der Studierenden befinde sich im Erststudium, in Vollzeit und Präsenz, sei ledig und wohnt auswärts, erklärte eine Sprecherin. Für diese Gruppe habe die Inflations-Wirkungsanalyse im Rahmen der 22. Sozialerhebung monatliche Ausgaben von 986 Euro für das Jahr 2024 prognostiziert – im Vergleich zu einem aktuellen BAföG-Höchstsatz von 934 Euro. "Insgesamt können voll geförderte Studierende mit Kindergeldanspruch also monatlich bis zu 1.184 Euro an staatlicher Unterstützung beziehen, während die Vergleichsgruppe im Schnitt lediglich 986 Euro monatlich ausgibt." Dabei seien Stipendien und Bildungskredit noch gar nicht berücksichtigt und auch nicht Nebentätigkeiten, die bis zur Minijobgrenze ebenfalls nicht auf das BAföG angerechnet würden.
Weiter sagt die Sprecherin, die die Bundesregierung habe bereits im vergangenen Jahr für erhebliche Leistungsverbesserungen im BAföG gesorgt, indem sie die Bedarfssätze um fast sechs Prozent, den Wohnkostenzuschlag um fast elf Prozent und die Elternfreibeträge um knapp 21 Prozent angehoben habe. Zudem seien weitere Entlastungsmaßnahmen umgesetzt geworden, die auch die BAföG-Empfänger entlastet hätten, "etwa die beiden Heizkostenzuschüsse von 230 und 345 Euro. Darüber hinaus konnten Studierende sowie Fachschülerinnen und Fachschüler eine Einmalzahlung von 200 Euro erhalten".
Der CDU-Bildungspolitiker Thomas Jarzombek kommentierte, die Bundesbildungsministerin löse mit ihrer BAföG-Novelle die Notlage vieler Studierender nicht. Während Sozialhilfe und Bürgergeld um über zwölf Prozent gestiegen sind, gingen BAföG-Empfänger trotz weiter steigender Inflation erneut leer aus. "Studierende haben genauso mit Preissteigerungen und hohen Mietkosten zu kämpfen. Und dennoch liegt der monatliche BAföG-Grundbedarfssatz mehr als 100 Euro unter dem Bürgergeld." Angesichts dieser Ungleichheit fehle ihm jedes Verständnis dafür, dass mehr als die Hälfte der für eine BAföG-Reform bereitgestellten 150 Millionen Euro ungenutzt blieben, sagte Jarzombek.
Hinweis: Dieser Artikel wurde am 11. Januar mehrfach aktualisiert und ergänzt.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Welche guten Nachrichten ich in Sachen Blogfinanzierung habe, warum ich weiter dringend Ihre Unterstützung brauche – und welche Artikel im Dezember am meisten gelesen wurden.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Wird die DATI-Gründung doch noch zur Erfolgsgeschichte? Was das Ministerium von Bettina Stark-Watzinger endlich richtig macht, welche Unsicherheiten bleiben – und was vorher alles falsch lief: eine aktuelle Bestandsaufnahme.
Bild: Krill_makes_pics / Pixabay.
ALS KURZ VOR WEIHNACHTEN die Entscheidung für Erfurt fiel, war kaum einer überrascht. Dass die geplante Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI) in der thüringischen Landeshauptstadt angesiedelt werden könnte, machte schon monatelang die Runde, bevor das BMBF im Oktober 2023 die Besetzung der DATI-Gründungskommission bekanntgab. Zu deren Aufgaben die Entwicklung von Vorschlägen unter anderem für den Standort gehören sollte.
Ein Zeichen dafür, dass die Kommission, bestehend aus 16 Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, tatsächlich mehr Feigenblatt als Impulsgeber ist, der Scheinlegitimation bereits feststehender DATI-Pläne im BMBF dient? Zu einer solchen Vermutung konnte auch kommen, wer eine interne, inhaltlich durchaus gelungene Arbeitsversion des Agenturkonzepts las, die – datiert auf den 27. September 2023 – schon für den November die Befassung des Bundeskabinetts mit dem finalen Konzept vorsah. Auch an der Zusammensetzung des Gremiums gab es Kritik vor allem von den HAWs, die sich als Urheber der DATI-Idee seit langem zunehmend an den Rand gedrängt fühlten.
Viel Optimismus und gute Stimmung
Inzwischen hat die Gründungskommission sich viermal getroffen, sie hat Arbeitsgruppen unter anderem zu Governance und Förderformaten gebildet, und wer jetzt in die Gruppe der 16 hineinhorcht, erlebt erstaunlich viel Optimismus und gute Stimmung. Man ist ins Arbeiten gekommen, der Konflikt zwischen HAWs und Universitäten ist nicht weg, aber leiser (siehe auch Kasten), man fühlt sich vom BMBF ernstgenommen, und falls es im Ministerium einst den Plan gegeben haben sollte, die Empfehlungen der Kommission als netten Beischmuck abzutun, ist es damit definitiv vorbei.
Was auch daran zu erkennen ist, dass das BMBF das Bundeskabinett bis heute eben nicht mit einem fertigen Konzept befasst hat. Währenddessen hat die Gründungskommission den Text der Ausschreibung für den wissenschaftlichen Chefposten der DATI fertiggestellt und in ihrer vierten Sitzung am Dienstag beschlossen. Sobald der Bundeshaushalt steht, dürfte sie veröffentlicht werden. Und was die Standortwahl angeht: Zwar hat diese am Ende wie vorgesehen die Politik getroffen. Aber zuvor hatte die Kommission Erfurt selbst auf ihre in einem mehrstufigen Verfahren entstandene, in geheimer Abstimmung verabschiedete finale Vierer-Vorschlagsliste gesetzt, weil die Stadt – neben anderen – etwa in Sachen Erreichbarkeit und wirtschaftlichem Umfeld einfach gut passte. Die Konkurrenten waren Bochum, Dortmund und Potsdam.
"Das BMBF befindet sich in der Finalisierung des Konzepts und wird dies nach der Koordinierung mit den Ressorts dem Kabinett vorlegen", teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit. Die Verzögerung begründet sie mit der laufenden Pilot-Förderrichtlinie DATIpilot. Das Konzept solle deren Erkenntnisse, "insbesondere im Rahmen des Bewerbungs- und Auswahlverfahrens, substanziell mit miteinbeziehen und wurde entsprechend erweitert".
Was unterwegs alles schiefging
Nach mittlerweile fast zwei Jahren Irrungen und Wirrungen um die DATI, angefangen mit den ersten, "Grobkonzept" genannten Eckpunkten des damaligen BMBF-Staatssekretärs Thomas Sattelberger (FDP) im März 2022, könnte es also doch noch ein Happy End geben. Mit der Gründung nicht irgendeiner Agentur, sondern einer Einrichtung, die wirklich Neues ermöglicht, vor allem andere Entscheidungsverfahren in der Transfer- und Innovationsförderung. Wie bitter nötig ein solcher unabhängig vom Ministerium agierender Player wäre, zeigt ausgerechnet die vom Ministerium über weite Strecken verpeilte DATI-Konzeptions- und Gründungsphase. Denn dass es jetzt besser läuft, kann nicht über die vielen Prozessfehler zuvor hinwegtäuschen.
o Nach dem Vorpreschen Sattelbergers und seinem Abschied als Staatssekretär Mitte 2022 versuchte sein Nachfolger Mario Brandenburg (ebenfalls FDP) zunächst, Struktur ins Verfahren zu bringen und die Community über verschiedene Konferenzen und Formate zu beteiligen. An sich gut, doch blieben die Erwartungen etwa zwischen HAWs und Universitäten konträr, und der Handlungsdruck aus der Wissenschaftsszene stieg weiter an, je länger konkrete Ansagen auf sich warten ließen.
o Um Dampf aus dem Kessel zu nehmen, kündigte Brandenburg im November 2022 eine aus zwei Modulen bestehende Pilotförderlinie an, um bereits Förderformate zu testen und Fördergelder zu vergeben, bevor die DATI überhaupt existierte. Ähnlich war das BMBF in der vergangenen Legislaturperiode vor Gründung der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) vorgegangen.
o Statt spätestens mit Ankündigung von "DATIpilot" die Gründungskommission einzuberufen, dokterte man fast ein weiteres Jahr am Gründungskonzept herum, was angesichts der jetzt erkannten Bedeutung der Kommission als weiterer Zeitverlust einzustufen ist. Als die Gründungskommission schließlich berufen wurde, blieb das Verhältnis zwischen ihrem Wirken und den konzeptionellen Arbeiten im BMBF zunächst unklar.
o Die Förderlinie, die dann erst Anfang Juli 2023 ausgeschrieben wurde, nahm wiederum mehr Zeit als geplant in Anspruch, verschärft durch eine Fehleinschätzung im BMBF zu ihrer Resonanz. Die erfreulich große Themenoffenheit bei der Ausschreibung und die hohe Projektdotierung (150.000 Euro, bei zwei Partnern 300.000 Euro) resultierten beim Modul "Innovationssprints" in knapp 3000 Antragsskizzen, die im Rahmen einer Vorauswahl erst mühsam auf 600 Bewerbungen heruntergebracht werden mussten. Fast alle davon präsentieren sich noch bis Februar in Form innovativer Roadshows. Dabei soll es insgesamt 150 Publikumssieger geben, erste Förderzusagen davon sind schon raus, weitere 150 Projekte werden Anfang März per Losverfahren bestimmt.
o Das BMBF brauchte so viel Zeit für Konzept und "DATIpilot", dass es 35 DATI-Millionen aus dem Haushalt 2023 verfallen ließ, denn der Bundestagshaushaltsausschuss hatte für deren Entsperrung das Vorliegen eines "schlüssigen Konzepts" verlangt. Angesichts der enormen Resonanz auf die "Innovationssprints"-Ausschreibung hätte die Community das Geld gut nutzen können. Eine BMBF-Sprecherin teilt mit, die benötigten Mittel stünden vorbehaltlich der Beschlussfassung über den Bundeshaushalt 2024 zur Verfügung. Die 2023-Millionen sind also passé. Und die geplanten 78,8 Millionen für 2024 könnten knapp werden.
o Positiv: Wie der Wissenschaftsjournalist Manfred Ronzheimer im Tagesspiegel Background berichtete, wurde nach der überraschend hohen Bewerberzahl der Fördertopf auf 90 Millionen Euro verdreifacht. Negativ: Die Roadshows fanden unter Ausschluss der Medien statt, laut Ronzheimer verweigerte das BMBF "aus Datenschutzgründen" sogar die Auskunft, welche Projekte bereits eine Förderzusage erhalten haben.
o So erfreulich anders die Endauswahl bei den "Innovationssprints" lief, so wenig transparent war die Vorauswahl. Die Ausschreibung nannte als Kriterien die "Originalität", die "gesellschaftliche Relevanz" und die "Umsetzbarkeit in der gegebenen Zeit", doch zu ihrer konkreten Operationalisierung macht das BMBF auch auf Nachfrage keine Aussage. Die aufgeführten Kriterien seien "so angelegt, dass sie eine themenoffene und gleichzeitig qualitativ überzeugende Auswahl von Projekten gewährleisten", heißt es. Sie seien mit gleicher Gewichtung in die Bewertung der Kurzskizzen eingeflossen. Als "grundsätzlich förderwürdig" seien Projektideen eingestuft worden, die alle drei Kriterien sehr gut erfüllten. Aber was genau bedeutet das? Wie erkennt man Originalität? Die, so BMBF, "strukturierte Vorauswahl sei durch den Projektträger Jülich umgesetzt worden, "in enger Abstimmung" mit dem Ministerium, "wie es bei der Umsetzung vieler BMBF-Förderrichtlinien üblich und bewährt ist". Tatsächlich sind aber auch bei BMBF-Ausschreibungen sehr häufig Peer-Review-Verfahren einbezogen.
Warten auf den Bundeshaushalt
Vielleicht führt der Plan des BMBF, Erkenntnisse aus "DATIpilot" noch ins erweiterte Konzept einfließen zu lassen, ja auch genau dazu, die Unzulänglichkeiten der bisherigen Prozesse zu erkennen – die Empfehlungen der Gründungskommission möglichst vollständig umzusetzen und anschließend der Agentur möglichst freie Hand zu lassen. Der diesbezügliche Optimismus unter etlichen der 16 Experten spricht für das Ministerium von Stark-Watzinger und dessen eigene Lerneffekte.
Eigentlich bis März, voraussichtlich aber eher bis April will die Kommission ihre Arbeit abschließen. Dann könnte auch bereits feststehen, wer die DATI führen wird. Eine große Unsicherheit bleibt jedoch: Erst Anfang Februar steht der BMBF-Haushalt für 2024 endgültig. Und was ist, wenn die DATI im Laufe des Jahres doch noch vom zusätzlichen 200-Millionen-Spardruck durch die Globale Minderausgaben betroffen wird? Die Ministerin und ihr Staatssekretär Mario Brandenburg werden den zuletzt so erfolgreichen Vertrauensaufbau energisch fortsetzen müssen.
Wie es bei "DATIpilot" weitergeht
Auch beim Modul "Innovationscommunities" hat es mit über 480 derart viele eingereichte Skizzen gegeben, dass sich das Auswahlverfahren zieht und wieder eine rekordverdächtig niedrige Bewilligungsquote entstehen dürfte. Denn eigentlich sollen nur zehn zum Zuge kommen, für die es jeweils bis zu fünf Millionen Euro für die Dauer von vier Jahren geben soll.
Im Frühjahr soll die Vorauswahl laufen, analog zu den Sprints. Doch es geht anders weiter. Die 70 verbliebenen Antragsteller mit den am vielversprechendsten eingestuften Skizzen sollen im April zu einer Präsentation vor dem BMBF und einer extern
besetzten Jury eingeladen werden. "Auf Basis der Vorbewertung und der Bewertung der Präsentation erfolgt die finale Auswahl" erläutert das BMBF, mit Entscheidung und Förderzusage werde Ende April gerechnet. Die ausgewählten Communities können dann von Mai an formale Förderanträge für konkrete Projekte stellen.
Der Ärger vieler HAWs, sie seien als Ideengeber der DATI von den Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen an den Rand worden, schien zuletzt anhand einer Quote von über 40 Prozent bei Bewerbungen und erfolgreicher Vorauswahl ein Stückweit abzukühlen.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Welche guten Nachrichten ich in Sachen Blogfinanzierung habe, warum ich weiter dringend Ihre Unterstützung brauche – und welche Artikel im Dezember am meisten gelesen wurden.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Deutsche Forscher gehen dieses Jahr leer aus bei den Nobelpreisen. Doch Deutschlands Wissenschaft ist wettbewerbsfähig wie lange nicht, zieht mehr Forschende und Studierende aus dem Ausland an als je zuvor. Welche Baustellen bleiben.
Innenansicht der TU München in Garching. Foto: TobiasK, CC BY-SA 4.0.
DIESES JAHR gab es keinen Nobelpreis für eine Deutsche oder einen Deutschen, und trotzdem konnte Deutschlands Wissenschaft feiern. Weil Ferenc Krausz, Preisträger im Fach Physik, in der Bundesrepublik forscht, genauer am Max-Planck-Institut für Quantenoptik bei München. Weil Katalin Karikó, wie Krausz gebürtige Ungarin und ausgezeichnet mit dem Medizin-Nobelpreis, bis Ende 2022 neun Jahre lang als Senior Vice President bei Biontech in Mainz fungierte.
Hier setzt sich ein Muster der vergangenen Jahre fort. 2022: Der Schwede Svantje Pääbo, den seine wissenschaftliche Karriere 1990 nach Deutschland führte, wird mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet. 2020: Die Französin Emmanuelle Charpentier, seit 2013 in Deutschland, erhält den Chemie-Nobelpreis. Hinzu kamen in den vergangenen drei Jahren drei neue deutsche Preisträger, die ebenfalls in Deutschland arbeiten oder bis zu ihrer Emeritierung hier gearbeitet haben: Benjamin List (Chemie), Reinhard Genzel und Klaus Hasselmann (beide Physik).
Sieben Belege für eine Schlussfolgerung: Deutschlands Wissenschaft kann mit der internationalen Spitze mithalten, ein beachtlicher Anteil der internationalen Spitzenforscher hat sich zudem – zumindest für einen wichtigen Teil ihrer Karriere – Deutschland als Wirkungsstätte ausgesucht. Besondere Anziehungskraft übt dabei traditionell die Max-Planck-Gesellschaft aus: Bis auf Karikó haben oder hatten alle oben genannten Preisträger in der MPG ihr wissenschaftliches Zuhause.
Nur in die USA und nach Großbritannien wollen mehr internationale Studierende
Doch die Anziehungskraft der deutschen Wissenschaft geht weit über Max Planck hinaus, sie besteht vor allem in dem dichten Geflecht aus Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstituten. Eine besonders erfolgreiche Vermittlerrolle spielt dabei die Alexander-von-Humboldt-Stiftung (AvH). Diese Woche feierte sie per Pressemitteilung, dass bereits 61 Forscherinnen und Forscher aus ihrem weltweiten Geförderten-Netzwerk einen Nobelpreis erhalten hätten – was bedeutet, dass sie einen kürzeren oder längeren Teil ihrer Forschung an deutschen Wissenschaftseinrichtungen und Universitäten geleistet haben. Aktueller Anlass für den AvH-Freudenausbruch war die Verleihung des Physik-Nobelpreises an Pierre Agostini und des Chemie-Nobelpreises an Alexei Ekimov. Beide waren Empfänger des Humboldt-Forschungspreises.
Passend zu all dem meldeten BMBF und Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) bereits Ende September, dass Deutschland im vergangenen Wintersemester erstmals auch auf Platz drei der beliebtesten Studienländer weltweit aufgestiegen ist, hinter den USA und Großbritannien. Rund 368.000 internationale Studierende waren an Deutschlands Hochschulen immatrikuliert – mehr als je zu vor, die Corona-Delle ist passé. Damit verdrängte die Bundesrepublik Australien vom Treppchen.
Nachzulesen ist die Zahl in der neuen Publikation von "Wissenschaft weltoffen", die der DAAD gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) erarbeitet und, gefördert vom BMBF, herausgibt.
29 Prozent mehr internationale Wissenschaftler an den Unis, 50 Prozent mehr bei Max Planck
Diese jährliche Inventur des internationalen Wissenschaftsaustauschs enthält weitere gute Nachrichten. Etwa die, dass beim Vergleich ausgewählter OECD-Länder Deutschland vor Kanada die beste Bleibequote unter den internationalen Studienanfängern hat, die 2010 gekommen sind: 45 Prozent waren zehn Jahre später noch da. In Kanada waren es 44 Prozent, in Schweden 22 Prozent, in Großbritannien 16 und in Dänemark zwei Prozent.
Das spricht für die – zumindest 2020 herrschende – deutsche Willkommenskultur und die großzügige Rechtslage bei der Arbeitsaufnahme nach dem Studium: Anderthalb Jahre Zeit haben Studierende aus Nicht-EU-Ländern, um nach ihrem Abschluss in Deutschland einen Job zu finden. Wie sich die schärfer werdende Debatte über Zuwanderung, die längst den politischen Mainstream erreicht hat, auswirkt, bleibt indes abzuwarten.
Spannend an den "Wissenschaft weltoffen"- Statistiken ist auch, dass die Herkunft der internationalen Studierenden in Deutschland sehr divers ist. Zwar stellten auch hierzulande Indien (erstmals vorn) und China zusammen gut ein Fünftel, doch ist das wenig im Vergleich zu den USA und Australien, wo allein Studierende aus diesen beiden Länder knapp die Hälfte ausmachen.
Nicht weniger bemerkenswert ist, dass die Zahl der an Deutschlands Hochschulen tätigen internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler allein zwischen 2016 und 2021 um 29 Prozent zugenommen hat – auf über 59.000, was mittlerweile fast einem Siebtel des gesamten Wissenschaftspersonals entspricht. Wiederum nur in den USA und Großbritannien arbeiten mehr Forschende mit ausländischem Pass.
Noch stärker wuchs, wenig überraschend, das internationale Personal an den vier großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen von Max Planck bis Helmholtz: um satte 50 Prozent auf knapp 16.000. Bei der MPG liegt der internationale Anteil mit 52 Prozent wiederum am höchsten, Helmholtz (29 Prozent) folgt mit deutlichem Abstand. Fraunhofer hat mit elf Prozent die niedrigste Quote.
Wobei schon letztere Zahl zeigt: Bei genauerem Hinschauen glänzt dann doch nicht alles am internationalen Wissenschaftsstandort Deutschland, und er glänzt auch nicht überall gleichermaßen. Die internationalen Ströme sind nämlich ungleich verteilt.
Unterschiede zwischen Fächern und Regionen – und ein nachdenklich stimmendes Karrieregefälle
Erstens zwischen den Fächergruppen: Die Rechts-, Wirtschafts und Sozialwissenschaften etwa kommen an den Unis nur auf neun Prozent internationale Wissenschaftler:innen, an den HAW sogar nur auf vier Prozent. An der Spitze liegen die Mathematik und die Naturwissenschaften an den Unis (22 Prozent) und an den HAW die Geisteswissenschaften (19 Prozent).
Zweitens zwischen den Regionen und Bundesländern: In Mecklenburg-Vorpommern stammt elf Prozent des Wissenschaftspersonals aus dem Ausland, in Berlin 18,4 Prozent. Noch extremer ist die Bandbreite bei den internationalen Studierenden. Berlin: 19,4 Prozent. Schleswig-Holstein: 6,4 Prozent, woraufhin Muriel Helbig, Präsidentin der TH Lübeck und DAAD-Vizepräsident, in den Lübecker Nachrichten einen Aktionsplan von der Landesregierung forderte.
Nachdenklich stimmt auch das Karrieregefälle bei der Internationalisierung. Internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind häufiger in Vollzeit und hauptberuflich beschäftigt, aber seltener unbefristet als die Deutschen. Sind Wissenschaftskarrieren schon für Einheimische vielfach prekär, gilt das für viele aus dem Ausland Gekommenen offenbar nochmal stärker. Krass zeigt das auch der Blick auf einen anderen Prozentwert: Nur 7,4 Prozent der Professorinnen und Professoren stammen aus dem Ausland. Womit ihr Anteil nur gut halb so hoch ist wie beim internationalen Wissenschaftspersonals insgesamt.
Hinzu kommt, dass von den rund 3.721 internationalen Professorinnen und Professoren in Deutschland jede/r fünfte (722) aus Österreich stammt, weitere 326 kommen aus der Schweiz. Was bedeutet, dass die Quote der nicht deutschsprachigen Inhaber einer Professur in jedem Fall deutlich unter sechs Prozent liegt. Schließlich wuchs die internationale Professorenschaft mit 17 Prozent seit 2016 auch noch viel langsamer als das internationale Wissenschaftspersonal (29 Prozent).
Wenn die Deutschen im Ausland studieren, dann oft in Österreich und in den Niederlanden
Relativiert das die Anfangsaussage dieses Artikels, dass ein beachtlicher Anteil der internationalen Spitzenforscher sich Deutschland als ihre Wirkungsstätte ausgesucht hat? Nicht unbedingt. Die Zahlen zeigen jedoch, dass jenseits der zahlreichen Hot Spots der deutschen Internationalisierung die Dynamik in der Fläche weitaus weniger spektakulär verläuft. Mehr noch: Weite Teile des wissenschaftlichen Karrieresystems in Deutschland bleiben für Menschen ohne deutschen Pass äußerst schwer erreichbar.
Für diese prekäre Seite des Wissenschaftsbetriebs, wenn auch in diesem Fall nicht in Deutschland, ist übrigens die Karriere von Katalin Karikó ein eindrückliches Beispiel: Sie absolvierte in den USA einen befristeten Uni-Job nach der anderen, wurde zwischenzeitlich sogar nach Auslaufen ihrer Stelle als Assistent Professor auf den Rang einer Postdoc zurückgestuft.
Zurück zur deutschen Internationalisierungsstatistik. Ziemlich viel Wasser in den Wein mischt "Wissenschaft weltoffen" noch an zwei weiteren Stellen: So war der Anstieg bei der Zahl internationaler Studierender in Deutschland zwar beachtlich, besonders stark im Zehnjahres-Vergleich übrigens an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (+140 Prozent versus +64 Prozent an den Unis). Doch der Sprung auf Platz drei gelang nur wegen der Schwäche der Konkurrenz. In Australien brachen die internationalen Immatrikulationen zwischen 2020 und 2022 um fast 100.000 ein: von 458.000 auf 361.000. Hat Downunders Image bei den ausländischen Studierenden durch die rigide Corona-Abschottung dauerhaft Schaden genommen, oder spiegelt sich darin das stark abgekühlte Verhältnis zum bisherigen Herkunftsland Nummer 1, China? Klar ist: Falls Australien auch nur ansatzweise der Sprung zurück zu alten Größenordnungen gelänge, wäre Deutschland seinen dritten Platz wieder los.
Zuletzt der – nun wirklich ernüchternde – Blick auf die umgekehrte Studierendenmobilität: die der Deutschen ins Ausland. Hier stagnieren die Zahlen nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt. Zuletzt waren 133.400 Deutsche an einer Hochschule im Ausland eingeschrieben, die allermeisten, um dort einen Abschluss zu machen. Wo bei internationales Studium nicht gleich internationales Studium ist: Knapp 50 Prozent der Deutschen, die im Ausland studierten, taten dies in Österreich (30.500), der Schweiz (11.200) und in den Niederlanden (21.300). Weil Deutschlands Hochschulen vielerorts immer noch so überbelegt sind, dass junge Menschen in Scharen zum Studieren bei den Nachbarn abwandern? Gleichzeitig sank der Anteil der Deutschen, die als Teil ihres (deutschen) Studiums ein Auslandssemester einlegen, massiv: von 32 Prozent 2003 auf zuletzt nur noch 19 Prozent.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Bitte unterstützen Sie meine Arbeit
Nutzerzahlen und Finanzierung: Wie steht es um den "Wiarda-Blog"?
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Der Bildungsforscher Olaf Köller sagt, warum er positiv überrascht ist vom Startchancen-Verhandlungsergebnis, wie die Wissenschaft zum Erfolg des Programms konkret beitragen und welche Rolle dabei die Ständige Wissenschaftliche Kommission spielen könnte.
Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel und Ko-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK). Foto: IPN/Davids/Sven Darmer.
Herr Köller, die Verhandlungsführer von Bund und Ländern haben sich auf Eckpunkte zum Startchancen-Programm geeinigt. Hat der Bildungsföderalismus herausgeholt, was er aus sich herausholen kann?
Eine Milliarde Euro Bundesgeld pro Jahr ist nicht viel, da muss man sich nichts vormachen, das sind 250.000 Euro pro Schule. Trotzdem finde ich: Bund und Länder haben eine Menge herausgeholt. Ich war positiv überrascht, als ich das Papier gelesen habe. Alle Länder haben sich verpflichtet, Sozialkriterien für die Auswahl ihrer Schulen zu bestimmen. Auch diejenigen, die bislang keinen eigenen Sozialindex haben. Einigkeit herrscht über das wichtigste Ziel: Die Zahl derjenigen, die die Mindeststandards in den Kernfächern nicht erreichen, soll in zehn Jahren halbiert werden. Für schlau halte ich es, dass man nicht mit allen 4000 Schulen auf einmal beginnt, sondern mit 1000. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass der Einstieg überhaupt noch zum Schuljahr 2024/25 gelingt. Besonders erfreulich ist schließlich, dass Bund und Länder den Erfolg des Programms nicht nur behaupten, sondern messen lassen wollen.
"Es war absehbar, dass, wenn man den Königsteiner Schlüssel aufgibt, ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt."
Stört Sie, dass das Bundesgeld zu großen Teilen weiter per Gießkanne auf die Länder verteilt wird? Und widerspricht das nicht dem immer wieder behaupteten Paradigmenwechsel?
Es war absehbar, dass alle Länder ordentlich etwas abhaben wollen und dass, wenn man schon den Königsteiner Schlüssel aufgibt, jetzt ein anderer Mechanismus sicherstellt, dass kein Land zu kurz kommt. Darum ist der eigentliche Paradigmenwechsel für mich ein anderer: dass Bund und Länder sich zu einer wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Programms verpflichtet haben, und zwar mit explizitem Bezug auf ein Impulspapier, das wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) vergangenes Jahr vorgelegt haben. Wir haben viele große bildungspolitische Reformen erlebt in den Jahrzehnten nach Pisa 2000, von der Einführung der Ganztagsschulen über G8 bis zurück nach G9, doch hat es fast immer und in fast allen Ländern an der Bereitschaft gefehlt, mit harten Indikatoren die Wirkung dessen zu überprüfen, was man da beschlossen hat. Genau das passiert jetzt mit dem Startchancen-Programm, ausgestattet mit einem eigenen Evaluationsbudget. Das ist der Paradigmenwechsel. Wenn es denn so kommt und die Länder nicht vor ihrem eigenen Mut zur Empirie zurückschrecken.
Aber was genau kommt denn? Die Eckpunkte sprechen von einem "verbindlichen Berichtswesen", von "wissenschaftlicher Begleitung" und "Evaluation", die getrennt voneinander laufen sollen.
Ich habe mich auch gefragt, wie es genau gemeint ist. Persönlich würde ich wissenschaftliche Begleitung als formative Evaluation begreifen, bei der man schaut, für welche der ergriffenen pädagogischen Maßnahmen es Evidenz gibt und wie sie in den Schulen implementiert werden. Man kann dann auch die Schulen bei der Auswahl und Implementation wirksamer Programme unterstützen. Während das, was im Papier als Evaluation bezeichnet wird, vermutlich summativ verstanden wird: Man misst nach einer bestimmten Zeit, welche Kompetenzstände Schülerinnen und Schülern erreicht haben.
An der Stelle bleibt das Papier ziemlich vage. Was empfehlen Sie der Bildungspolitik?
So vage ist das gar nicht. Durch die Fokussierung auf die Basiskompetenzen, den Bezug zu den Bildungsstandards und die Halbierung der Risikogruppe in zehn Jahren haben Bund und Länder sich selbst den entscheidenden Benchmark gesetzt. Und zugleich das Instrument zu dessen Messung impliziert: den IQB-Bildungstrend, den das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen für die Klassenstufen vier und neun entwickelt hat. Wir müssen also das Rad an der Stelle nicht neu erfinden. Es eignet sich aber auch keine andere vorhandene Methodik, die vielleicht von einzelnen Bundesländern angewandt wird – weil nur der Testaufgabenpool des Bildungstrends so eng und valide auf die Erfüllung der Bildungsstandards abzielt. Ein Vorgehen könnte daher sein, dass das IQB im Frühjahr 2025 eine sogenannte Null-Messung an den dann ausgewählten ersten 1000 Startchancen-Schulen durchführt, in Deutsch, Mathe und vielleicht noch Englisch. Und zwar sowohl in Klasse vier als auch in den Klassenstufen neun und zehn, je nachdem, wann die Sekundarstufe I im jeweiligen Land und in der jeweiligen Schulart endet. Nach fünf Jahren wird die Messung in den gleichen Klassenstufen zum ersten Mal wiederholt, nach zehn Jahren zum zweiten Mal.
Diese Art der Messung würde bedeuten, dass sich keine Aussagen über einzelne Schülerkarrieren treffen ließen.
Ein Ansatz bei der Evaluation des Startchancen-Programms wäre tatsächlich eine Trenderfassung der Schulen mit Feststellung der Leistungsniveaus der Schülerinnen und Schüler als Ganzes. Für alles andere bräuchte man eine Längsschnittstudie, bei der dieselben Kinder bzw. Jugendlichen immer wieder getestet würden. Das halte ich in der Größenordnung, über die wir bei den Startchancen sprechen, nicht für realistisch. Sehr wohl wäre es aber ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn, kleinere Stichproben von Schülerinnen und Schüler so, wie Sie das sagen, über einen längeren Zeitraum zu begleiten.
"Es wird auf jeden Fall
recht uneinheitlich zugehen."
Apropos Größenordnung der Evaluation: Was passiert mit den 3000 Schulen, die später dazu kommen?
Ich würde davon abraten, alle 4000 Schulen gleichermaßen evaluieren zu wollen, das wäre zu aufwändig und wohl ebenfalls zu teuer. 1000 Schulen bieten einen großen Ausschnitt, sind für das IQB eine zusätzliche Herkulesaufgabe, aber vermutlich handelbar, und eine Vorbereitungszeit von anderthalb Jahren erscheint realistisch. Ein weiterer Vorteil der Nullmessung wäre, dass so geprüft würde, ob die Länder mit ihren eigenen Sozialkriterien jeweils die richtigen Schulen erwischt haben: nämlich diejenigen mit den besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern – oder ob hier einzelne Länder noch einmal nachsteuern müssen. Es ist ja kein Naturgesetz, dass sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler grundsätzlich geringe Kompetenzniveaus aufweisen.
Erwarten Sie eine stark unterschiedliche Treffsicherheit – je nachdem, ob die Länder schon etablierte Sozialindizes haben?
Es wird auf jeden Fall recht uneinheitlich zugehen. Diejenigen Länder, die bereits Programme für benachteiligte Schüler und Schulen betreiben, werden versuchen, die Schulen aus ihren Programmen auch in die Startchancen zu bringen. Und Länder, die noch keinen Sozialindex haben, müssen erst einen Algorithmus entwickeln, von dem sie nicht wissen, wie er sich auswirkt. Schließlich wird es Unterschiede geben zwischen Ländern mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler und anderen, die eine geringere Armutsdichte aufweisen. All das könnte durch die Nullmessung ermittelt werden – unter der Voraussetzung, dass sie mit Fragebögen zum sozialen und familiären Hintergrund der Schülerinnen und Schüler begleitet werden, wie das IQB das beim Bildungstrend bereits tut.
Was aber bedeuten die Ergebnisse, die bei der wiederholten Messung nach fünf oder zehn Jahren herauskommen? Wer sagt, dass die festgestellte Verbesserung oder Verschlechterungen der Kompetenzen an einer Startchancen-Schule etwas mit dem Programm zu tun hat?
Eine berechtigte Frage – weshalb die wissenschaftliche Begleitung im Sinne formativen Assessments so wichtig ist. Wir brauchen regelmäßig erhobene Daten, wie an jeder untersuchten Schule die drei Säulen des Programms konkret umgesetzt werden, wobei mir die Baumaßnahmen noch am wenigsten ausschlaggebend erscheinen. Aber wie genau wird die Interaktion zwischen Lehrkräften, Förderkräften, Sozialarbeitern und Schülerinnen/Schülern gestaltet? Werden nur Maßnahmen etabliert, für deren Qualität es empirische Evidenz gibt? Werden zwar Förderkräfte eingestellt, müssen diese aber Vertretungs- statt Förderstunden geben? Dann, das wissen wir, würde ihre Wirkung verpuffen.
Gehen wir also davon aus, dass sich bei der richtigen Kombination von wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation nach fünf oder zehn Jahren ein Zusammenhang herstellen lässt zwischen den ergriffenen Maßnahmen und der Entwicklung der Schülerkompetenzen, was folgt daraus?
Das ist doch klar: Nach fünf Jahren muss die Politik bei einigen Schulen nachsteuern, und das konsequent. Vermutlich werden viele Schulen nach fünf Jahren noch weit von dem Ziel der Halbierung entfernt sein. Hoffentlich wird es auch Standorte geben, an denen man positive Effekte sieht – die sich dank der Kopplung von formativer und summativer Evaluation auf die Maßnahmen des Programms zurückführen lassen. Die Politik wird sich Gedanken machen müssen, wie sie mit denjenigen Schulen verfahren will, die über Jahre Geld bekommen haben, ohne dass es vorangeht. Sicherlich wird man dann verstärkt über neue Zielvereinbarungen sprechen müssen, mit einer verstärkten Kooperation zwischen Schulen und Schulaufsicht, damit auch diese Schulen die Früchte des Programms ernten. Das wäre zumindest meine Empfehlung.
"Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte."
Die sie als wer aussprechen? Als Chef des IPN Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik – oder als einer der Vorsitzenden der SWK?
Ich vermute, vieles von dem, was ich hier im Interview gesagt habe, wird von den meisten Bildungsforscherinnen und Bildungsforschern in Deutschland geteilt werden. Aber nichts davon ist abgestimmt mit den übrigen 15 Mitgliedern der SWK. Letzteres auch deshalb nicht, weil wir als Ständige Wissenschaftliche Kommission bislang gar nicht explizit nach unseren konkreten Ideen zur Evaluation des Startchancen-Programms gefragt oder beauftragt worden sind.
Würden Sie gern beauftragt werden?
Natürlich würde ich mir wünschen, dass die Bildungsforschung eingebunden und um Rat gefragt wird. Nicht, weil wir auf irgendwelche zusätzlichen Forschungsgelder aus sind, sondern weil wir ein genuines Interesse daran haben, den Bund und die Länder in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Der Bund will insgesamt zehn Milliarden Euro einsetzen, die Länder, in welcher Form auch immer, zehn weitere Milliarden dazu geben. Es wäre furchtbar, wenn das Geld nicht bei den Richtigen ankäme und nicht die gewünschten Effekte hätte. Die SWK ist allerdings eine Kommission der Kultusministerkonferenz, sie stimmt dementsprechend auch ihr Programm mit der KMK ab. Gleichwohl könnten KMK und BMBF sich zusammentun und uns in die Diskussion um eine wissenschaftliche Begleitung beziehungsweise Evaluation einbinden. Ich kann mir vorstellen, dass die SWK dann eine Stellungnahme erarbeiten und darin ausbuchstabieren würde, wie eine wissenschaftliche Begleitung, eine Evaluation und ein Monitoring des Startchancen-Programms aussehen könnte. Um das mit Leben zu erfüllen, was das Eckpunktepapier als ambitioniertes Ziel ausgegeben hat.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Bitte unterstützen Sie meine Arbeit
Nutzerzahlen und Finanzierung: Wie steht es um den "Wiarda-Blog"?
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Konstanzer Hochschulforscher haben erstmals eine Studierendenstichprobe nach ihren politischen Einstellungen und Wahrnehmungen befragt – und würden ihre repräsentative Studie gern regelmäßig wiederholen. Eine überfällige Ergänzung zur langfristigen Sozialerhebung?
Bild: Menno de Jong / Pixabay.
DIE ERGEBNISSE DER 22. SOZIALERHEBUNG waren spannend, umfassend und in Teilen bedrückend. Etwa, dass es den Studierenden gesundheitlich schlechter ging als fünf Jahre zuvor. Dass sie mehr Zeit zum Studieren aufwendeten und trotzdem ein Großteil von ihnen jobbte. Und dass der Anteil der studentischen Geringverdiener, die weniger als 800 Euro im Monat hatten, auf 37 Prozent geklettert war – gleichzeitig aber mehr als ein Viertel der Studierenden 1.300 Euro und mehr ausgeben konnte. Die im Mai 2023 von BMBF, Deutschem Studierendenwerk (DSW) und dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZWH) veröffentlichten Daten hatten nur einen Nachteil: Sie stammten aus dem Jahr 2021.
Bis zu welchem Grad aber kann die Politik heute auf der Grundlage fast zwei Jahre alter Daten Entscheidungen treffen, wenn doch wie in diesem Fall dazwischen ein Großteil der Corona-Pandemie, Hochschulen im Distanz-Modus, der Einbruch studentischer Arbeitsmärkte, der Beginn des russischen Angriffskriegs, die Energiekrise und explodierende Preise lagen – deren Auswirkungen die Sozialerhebung nicht berücksichtigen konnte? Das DZHW ergänzte sie deshalb um eine zusätzliche aktuelle Analyse, um die Inflationsfolgen für die Studierenden abzuschätzen.
Und sonst? Muss sich die Bildungspolitik in der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Studierenden zwangsläufig irgendwann entscheiden zwischen Schnelligkeit und Tiefe der Ergebnisse?
Ja und nein, sagt Monika Jungbauer-Gans, die wissenschaftliche Geschäftsführerin des DZHW. "Wenn Sie repräsentative Daten wollen über die wirtschaftliche Situation der Studierenden, heruntergebrochen auf Regionen und Teilgruppen, und das Ganze in einer Breite und Detailvielfalt wie bei der Sozialerhebung mit 200.000 Befragten, dann dauert die Aufbereitung und Auswertung." Umgekehrt, fügt Jungbauer-Gans, brauche es durchaus auch "Schnellboote", um rasch Stimmungsbilder unter den Studierenden einzuholen.
Machbarkeitsstudie eines
alten Bekannten
Von Zeit zu Zeit veröffentlichen Unternehmen oder Verbände Umfragen unter Studierenden zu ihrer Finanz- oder Wohnsituation, meist verbunden mit der Absicht des Selbstmarketings. Das DZHW wiederum hatte zwischen 2002 und 2018 ein "HISBUS" genanntes Online-Panel für aktuelle Fragestellungen. Seitdem fehlt der Bildungsforschung wie der Bildungspolitik ein Umfrageinstrument, das regelmäßig, wissenschaftlich fundiert und doch schnell zumindest ein Stimmungsbild unter den Studierenden zur Verfügung stellt.
Genau das ist der Grund, warum jetzt die AG Hochschulforschung an der Universität Konstanz eine Machbarkeitsstudie zur "Durchführbarkeit und Qualität von rapid response research" vorgelegt hat, Gegenstand: Umfragen bei Studierenden in Deutschland. Die Daten stammen aus dem Mai 2023.
Die AG Hochschulforschung ist in der Studierendenbefragung eine alte Bekannte. Über Jahrzehnte hat sie den sogenannten Studierendensurvey verantwortet, der seit 1982 alle paar Jahre Studierende von 25 Hochschulen bundesweit nach ihren Studienbedingungen, Meinungen und politischen Einstellungen befragt hatte. Der Studierendensurvey ging 2021 zusammen mit der Sozialerhebung und weiteren Studien in einer einzigen großen Studierendenbefragung auf – unter Federführung des DZHW.
Wodurch die AG Hochschulforschung sich jetzt auf zu neuen Ufern macht. Natürlich hofft sie auf eine Beauftragung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die jetzt veröffentlichte Machbarkeitsstudie kann man also getrost auch als Bewerbung verstehen.
Und die ist mehr als eine Trockenübung, die beweisen soll, dass eine repräsentative Befragung von 2.000 Studierenden aus ganz Deutschland, innerhalb weniger Wochen ausgewertet und aufbereitet, funktioniert. Tatsächlich liefert die Studie, die mir exklusiv vorab vorlag, nebenher wichtige und vor allem aktuelle Einblicke in das studentische Leben, Meinen, und Empfinden. Und zwar aus dem Sommersemester 2023. Ein paar Beispiele:
Kein Niederschreien, kein Blockieren, keine Gewalt
Wie stehen Studierende zum sogenannten "De-Platforming", also zu Vorfällen, bei denen Personen mit umstrittenen Meinungen bei Auftritten an Hochschulen durch Protestierer gestört oder gänzlich abgehalten wurden? Die Antworten zeigen, dass eine große Mehrheit solche Aktionen ablehnt, und zwar unabhängig vom Thema.
Geht es in einer Rede oder Veranstaltung um "Migration als Problem", könnten sich etwa 30 Prozent der Befragten allenfalls das Entfernen von Einladungsplakaten und Flyern vorstellen. Alle anderen abgefragten Aktionsformen – das Blockieren anderer Personen beim Betreten einer Veranstaltung, das Niederschreien eines Redners oder gar das Anwenden physischer Gewalt, um eine Rede oder Veranstaltung zu stoppen – finden nur zwischen drei und ein Prozent der Befragten "absolut akzeptabel", weitere acht bis drei Prozent "eher akzeptabel". "Eher und absolut nicht akzeptabel" antworten bei Gewalt 85 Prozent, beim Blockieren 74 und beim Niederschreien 77 Prozent.
Akzeptable Handlungen gegen Redner an der Universität – Gruppe 1 Migration als Problem
Quelle (alle Grafiken): AG Hochschulforschung Universität Konstanz.
Kaum anders fallen die Antworten aus, wenn in der Rede oder Veranstaltung die Ansicht transportiert werden soll, dass das biologische Geschlecht nur die Ausprägungen männlich und weiblich kenne. Hier lehnen sogar 88 Prozent physische Gewalt ab. Ebenfalls praktisch die gleichen Antworten gaben die Studierenden für den Fall, dass in einer Rede die positiven Effekte von Einkommensunterschiede auf die Arbeitsmoral betont werden sollen.
Die meisten Studierenden lehnen darüber hinaus Aktivismus in der Wissenschaft klar ab. 78 Prozent der befragten antworten, dass Wissenschaft politisch neutral sein solle – das Gegenteil sagen nur neun Prozent. 63 Prozent der Studierenden finden zugleich, dass Wissenschaft kritisch reflektieren sollte, welche politischen Auswirkungen sie hat. Gespalten sind die Befragten bei der Genderforschung: 37 Prozent sagen, sie sei "oft mehr Ideologie als Wissenschaft", 37 Prozent lehnen eine solche Aussage ab. Allerdings: 25 Prozent sind unentschieden. Da Sozialforscher die Antwort "unentschieden" jedoch oft als bedingte Zustimmung deuten, muss die Einstellung der Studierenden gegenüber der Genderforschung wohl als überwiegend kritisch eingeschätzt werden. Bemerkenswert ist, dass die heutigen Studierenden trotzdem die Bedeutung von Diversität betonen. Nur 18 Prozent stimmen ganz oder teilweise der Aussage zu, dass diversitätsfördernde Maßnahmen schlecht für die Qualität seien. 58 Prozent beharren auf dem Gegenteil.
Während 62 Prozent der Studierenden die Anliegen und Aktionen von "Fridays for Future" eher oder vollends unterstützen, sagen 17 Prozent, sie täten dies "überhaupt nicht", was die AG Hochschulforschung als "gewisse Polarisierung" deutet. Nicht polarisiert, sondern sehr eindeutig fällt die Ablehnung der "Letzten Generation" aus. 42 Prozent sagen, sie unterstützten deren Proteste überhaupt nicht, insgesamt äußerten sich 81 Prozent eher ablehnend, und nur 19 Prozent teilweise bis stark zustimmend.
Das Schweigen der
Nicht-Akademikerkinder
Besorgniserregend ist, dass 41 Prozent angeben, sie würden sich gelegentlich in Seminaren oder Vorlesungen nicht zu Wort melden, obwohl sie es eigentlich möchten. Weitere 18 Prozent sagen sogar, dies komme häufig vor. Wobei das in den meisten Fällen nicht mit der inhaltlichen oder politischen Richtung der eigenen Meinung zu tun hat. So äußern 35 Prozent die Befürchtung, ihr Beitrag klinge nicht klug genug. 23 Prozent stimmen der Begründung zu, dass sie sich nicht so gut ausdrücken können wie andere. Beide Aussagen, analysiert die AG-Hochschulforschung, würden häufiger von Befragten geäußert, die aus Nicht-Akademikerhaushalten stammen. Ein Ergebnis, das den Hochschulen zu denken geben sollte. Außerdem sagen 19 Prozent, sie würden sich nicht zu Wort melden, weil sie sich nicht ausreichend vorbereitet hätten. Und 14 Prozent ("immerhin", wie die Forscher betonen) fürchten, für ihre Aussage kritisiert zu werden.
74 Prozent der Studierenden erwarten, dass die Künstliche Intelligenz den Unterricht an den Hochschulen in den kommenden Jahren wesentlich verändern wird. "Auf keinen Fall", antworten nur drei Prozent. Gleichzeitig nehmen 64 Prozent den Einsatz von KI an Hochschulen als Chance wahr, 25 Prozent eher und weitere sechs Prozent eindeutig als Gefahr. Ebenfalls 64 Prozent sagen, sie hätten ChatGPT bereits selbst ausprobiert. Und 61 Prozent meinen, die traditionelle Hausarbeit habe sich durch ChatGPT nicht erledigt.
Und schließlich zur Krisenwahrnehmung von Corona und Inflation. Zwölf Prozent der Studierenden geben an, dass sich ihre finanzielle Situation durch die Pandemie verbessert habe. Aber 45 Prozent sagen, dass sie etwas oder deutlich schlechter dastünden. Wobei bei Studierenden aus Nicht-Akademikerhaushalten nochmal schlechter dran sind. Sagen nur zehn Prozent aller Befragten, dass sich ihre finanzielle Lage deutlich verschlechtert haben, sind es bei den Nichtakademiker-Kindern 15 Prozent.
Dramatischer noch ist der Einfluss der Inflation seit 2022: 75 Prozent geben eine leichte oder deutliche Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage an. Nur drei Prozent berichten eine Verbesserung. Unterdessen sagen neun von zehn Befragten sie hätten die 200-Euro-Energiepauschale bereits erhalten, beantragt oder wollten dies tun. Erstaunlich ist, dass jeweils nur ein Prozent der Studierenden entweder auf die Nothilfefonds von Hochschulen oder der Studierendenwerke zurückgreifen. Der mit über neun Prozent Zinsen dotierte KfW-Studienkredit erweist sich in der Umfrage als ungeeignet: Mit zwölf Prozent der Befragten, die ihn haben oder beantragen wollen, liegt er gleichauf mit privaten Krediten.
Finanzierungsquellen
Eines der vieldiskutierten Themen
in der Sozialforschung
Die Frage nach nach Schnelligkeit versus Tiefe, sagt DZHW-Chefin Monika Jungbauer-Gans, gehöre zu den vieldiskutierten Themen momentan in der Sozialforschung. Der RatSWD, der die Bundesregierung zur Forschungsdateninfrastruktur berät und dem Jungbauer-Gans vorsitzt, habe sich bei einem Workshop gerade intensiv damit auseinandergesetzt. Wenn die Politik ein solches schnelles Umfrage-Tool zu den Studierenden wolle, könne das DZHW dies natürlich auch jederzeit liefern, auf der Grundlage von 50.000 befragungsbereiten Studierenden aus der Studierendenbefragung in Deutschland.
Die Konstanzer Hochschulforscher haben ihre Machbarkeitsstudie derweil gerade im BMBF vorgestellt. Sie würde ihre Umfrage gern häufiger durchführen, idealerweise ein, bis zweimal pro Jahr. Es sei "mit verhältnismäßig geringem Aufwand möglich ist, eine hinreichend große Anzahl an Studierenden über laufende Online-Access-Panel zu rekrutieren, sie in kurzer Zeit zu befragen und die entsprechenden Datenaufbereitungen zu leisten", versichert Thomas Hinz von der AG Hochschulforschung. Als Bewerbungsschreiben jedenfalls beeindrucken die Ergebnisse ihrer Machbarkeitsstudie.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Bitte unterstützen Sie diesen Blog
Die Zahl der Blog-Besucher steigt weiter, doch seine Finanzierung bleibt prekär. Was folgt daraus?
Wie kann man in digitale Kulturen intervenieren? Wie eingreifen in soziale, politische und ökonomische Kontexte und wie technologische Bedingungen und Infrastrukturen verändern? Diese Fragen kreisen über den sich in Herangehensweise und inhaltlicher Schwerpunktsetzung stark unterscheidenden Beiträgen des 2017 erschienenen SammelbandesInterventions in Digital Cultures, herausgegeben von Howard Caygill, Martina Leeker und Tobias Schulze. Der Titel verrät, welche zwei zentralen Begriffe hier abgetastet und befragt werden: Intervention und digitale Kultur. Beide dienen den Leser*innen als Orientierungshilfe, sich in der Perspektivenvielfalt der Beiträge nicht zu verlieren. Die Einleitung gibt eine vage Vorstellung davon, wie die Herausgeber*innen Intervention und digitale Kultur zusammendenken. Es wird davon ausgegangen, dass Interventionen auf der einen Seite den Infrastrukturen digitaler Kulturen unterliegen, diese aber auf der anderen Seite zugleich mitkonstituieren. Bei der Herausarbeitung dieses wechselwirkenden Moments der gegenseitigen Beeinflussung setzt das Buch an. Beide – digitale Infrastruktur und Intervention – werden mit der hier als Schlüsselbegriff verstandenen 'resilience' gedacht, die zum einen die technologischen Angebote selbst zu Agent*innen macht und damit die Performativität beider, der Infrastrukturen sowie der Interventionen, nochmals betont. Zum anderen wird die selbstreferenzielle Komponente hervorgehoben, da weder die infrastrukturellen Angebote noch die auf den Plan gerufenen Interventionen als lösungsorientiert verstanden werden. Vielmehr konstituieren sie ein System von Adaptionen und verweisen auf weitere Aktivitäten. Die wechselseitige Bedingtheit führt wiederum zum Paradox, dass Interventionen in die infrastrukturelle Umgebung digitaler Kulturen eingebunden sind. Folglich ist jeder Eingriff in diese Strukturen immer auch eine Bestätigung dieser, ein "feeding, unwillingly, the whole-earth-data-network" (S. 15). Das Buch hat nun den Anspruch zu überprüfen, in welcher Weise widerständige Praktiken dann überhaupt noch möglich sind. Auf methodischer Ebene ermöglicht dieses Fragen, Interventionen genealogisch einzubetten und die Konzepte und Diskurse dahinter neu zu denken. Schlüsselbegriffe wie 'resilience' unterliegen hierbei sinnigerweise keiner eindeutigen Definition, sondern sind bewusst offengelassen, um allen in den Band eingebetteten Zugängen Raum zu geben. Entsprechend fragen die Autor*innen bzw. Interviewten dann auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven danach, wie Interventionen als Störfaktor eines Systems fungieren, wann sie jedoch in ebenjenes System eingespeist und damit "ad absurdum" (S. 88) geführt werden. Nicht alle Beitragenden beziehen sich explizit auf digitale Kulturen; eine Historisierung zieht sich als Schlüsselkomponente durch viele Herangehensweisen. Zugrunde liegt dabei das Verständnis von Interventionen als "activities that engage in social and political contexts […] hoping to interrupt critical situations and ultimately change social, economic, or technological conditions" (S. 11). Dennoch geben die Herausgeber*innen keine klare Definition, sondern sehen den Band als ein "experiment in fostering thinking in ambivalences" (S. 139), was allein aufgrund der vielfältigen Zusammenstellung der Beiträge durchaus gelingt. Der erste Beitrag, ein Interview mit Fred Turner, stellt sogleich in einem historischen Vergleich das angeblich Neue in 'New Media' auf den Kopf. Turners These bezieht sich weniger auf eine technische, mehr auf eine gesellschaftskonstituierende Ebene, indem er Attribute wie egalitär, kollaborativ oder basisdemokratisch nicht allein dem digitalen Zeitalter zuschreibt, sondern Ideen eines gleichberechtigten Mediengebrauchs bereits in der us-amerikanischen Kurator*innenszene der 1940er-Jahre als Gegenentwurf zu "one-to-many media" wie das Radio oder die Zeitung (S. 23) sieht. Auch das problematische Demokratieverständnis hinter dieser 'unsichtbaren' Kuration ("some people know what is good for mankind better than others", S. 26) sieht Turner bereits dort begründet. Entsprechend warnt er davor, Interventionen mit künstlerischen Mitteln bereitwillig und unhinterfragt als kollaborativ zu verstehen, ohne ihre politisch relevante Geschichte mitzudenken. In der Frage, wie sich diese historiografische Betrachtungsweise auf aktuelle künstlerische Interventionen in digitalen Kulturen übertragen lässt, wird dieser Freiheitsanspruch von Turner wieder aufgegriffen. Denn die Imagination der 1940er- und 1950er-Jahre "as free in that world" findet sich in zahlreichen Versprechen sogenannter Sozialer Netzwerke wieder. Doch analog dazu müsse auch jetzt wieder der Gedanke an freie, bedingungslose Entscheidungen kritisch hinterfragt werden, denn: "I am free, but I am free in terms that are constantly being negotiated and set for me invisibly by managers, who work for states and companies" (S. 38). Turners Lösungsvorschläge sind insbesondere hinsichtlich des darauffolgenden Beitrags von Mitherausgeber Howard Caygill brisant. Denn während hier eine konstitutionelle Einmischung auf staatlicher Ebene denkbar wird, um die Macht des Oligopols digitaler Unternehmen zurückzudrängen, zeichnet Caygill die historische Entwicklung digitaler Netzwerke aus militärstrategischer Sicht nach. Bezugnehmend auf Carl von Clausewitz' posthum veröffentlichtes Werk Vom Kriege fokussiert Caygill seine Betrachtungen auf die Fragestellung nach der Bedeutung von strategischer Intervention ("strategic intervention", S. 47). Die von ihm beschriebene Ausgangslage ist die Forderung seitens staatlicher Mächte nach dem alleinigen Vorrecht auf Geheimhaltung und Informationsbeschaffung (insbesondere über digitale Medien, hier "the Internet"), was zwingend den Verzicht dieses Anspruchs seitens der Zivilgesellschaft nach sich zieht (vgl. S. 47). Zwar leugnet Caygill die schon frühe Entwicklung eines non-hierarchischen, dezentralisierten Netzwerkes nicht, doch betont er die Bestrebungen um Verschlüsselung und geheime Datenverfolgung sowie Informationsübertragung, die einer egalitären Nutzung von vornherein widersprach und das Internet als "an arcanum or space of secrecy [Herv. i. O.] " (S. 54) kennzeichnet. Alexander R. Galloway untersucht im Gespräch mit Martina Leeker die ambivalente Rolle der algorithmischen Bestimmung, die digitale Infrastrukturen offen und verschlossen zugleich erscheinen lässt. Die Frage bezüglich Interventionen richtet sich folglich nach den Möglichkeitsbedingungen widerständiger Praktiken innerhalb dieses ambivalenten Zustands (vgl. S. 62). Konträr zu Caygill sieht Galloway im Digitalen durchaus einen Raum für politischen Widerstand und spricht sich für "electronic civil disobedience" aus, dem durchaus nicht ganz unproblematischen Leitsatz folgend: "The Power isn't in the streets anymore" (S. 63). Konkrete Lösungen sind für Galloway sogenannte 'ad hoc networks', die außerhalb kommerzieller oder staatlicher Vermittlerpositionen funktionieren (S. 68). Widerständige Praktiken sind dabei als langfristige Projekte angelegt. Ein Gedankengang ist dabei besonders interessant: Obwohl digitale Kommunikation bereits auf Kürze und Schnelllebigkeit beruht, fordert Galloway diese weiter zu verkürzen und damit ein "network without data" zu konzipieren (S. 67), da lokal ohne weitere Vernetzung und Datenabgriff ausschließlich von Gerät zu Gerät kommuniziert werden könnte. Bezüglich der vieldiskutierten Algorithmen hinter digitalen Kulturen betont Galloway den Umstand, dass diese auf bestimmten Weltanschauungen basieren. Um ihre uniforme Darstellung zu durchbrechen, schlägt er vor, eben andere Perspektiven einzuschreiben, wie z. B. eine feministische und eilt damit Wendy Hui Kyong Chuns Betrachtungen voraus. Im Vordergrund stehen auch in ihrem Beitrag die technologischen Bedingungen von Intervention in digitalen Kulturen. Chun spricht sich allerdings dafür aus, Interventionen auf allen Ebenen zu suchen: "from hardware, protocols, software, and user interactions to how these are embedded in various economic and social systems and imaginaries" (S. 76). Damit ist sie die Erste des Bandes, die die Bedingungen digitaler Kulturen sowie das mögliche Eingreifen in diese multiperspektivisch betrachtet. Nicht neu, aber dennoch innovativ ist, technologische Infrastrukturen als Gewohnheiten ("habits") zu betrachten, denn dies eröffnet die Möglichkeit algorithmische Medien mit dem Prinzip der Homophilie zu denken. Homophilie nämlich ist es, was nach Chun die technologischen Strukturen und in weiterer Folge auch das Nutzer*innenverhalten beeinflusst und kennzeichnet. Eine Um- und Neugestaltung dieser Infrastrukturen könne nur über interdisziplinäre Zusammenschlüsse funktionieren, die der Gefahr entgegenlaufen, selbst Teil des Systems zu werden, in das eingegriffen werden soll (vgl. S. 83). Ulrike Bergermann wiederum bezieht sich in ihrem Artikel auf analoge Interventionen im Politischen, die sie als Eingreifen in eine laufende Sache, ein Stoppen, Innehalten, also als Blockade und Störfaktor versteht, der sich Fluidität und gleichbleibender Bewegung widersetzt. Ihr Beispiel betrifft das sogenannte 'human mic', eine Kulturtechnik ("social technologies", S. 88 und 95) des Protestes aus den 1970er-Jahren, die in der Protestbewegung Occupy Wall Street (OWS) im Herbst 2011 wieder aufgegriffen wurde. Bergermann versteht die Nutzung des human mic als neue politische Ästhetik eines Netzwerks von "human/technologies/imaginary" (S. 91). Bezugnehmend auf Nancys Konzept des Mitseins ("being-with"), stellt sie die Frage, welche Kollektivitäts- und Vereinzelungsstrategien darin hervortreten. Wenn Sein nur als Mitsein gedacht werden kann, steht die human mic-Bewegung vor der Herausforderung, ihre Behauptung "We are the 99 %" (S. 96) zu verteidigen: Formierungen wie die Gruppe POCupy legen offen, dass "[n]ot everybody had equal access to the human mic" (S. 98), was hier insbesondere für people of color zutrifft, die in der OWS-Bewegung größtenteils keine oder nur wenig Repräsentation finden. In dieser Weise muss nach Bergermann Nancy neu gedacht werden: "Interventions need mi-lieus insofar as re-thinking any space has to take into account how to connect in an unhierarchical manner, how this would be barred through supposedly antecedent structures, and how to approach the task of de-learning to put oneself first in line of perceiving and reasoning" (S. 100f.). Mit Steve Kurtz findet man wohl die techno-pessimistischste Perspektive des Bandes: Veränderungen hin zu weniger staats- oder ökonomiebedingter Überwachung hält er heutzutage für utopisch. Ähnlich wie Galloway vertritt Kurtz die Meinung, dass eine digitale Kommunikation ohne Metadaten – aus technischer Sicht – durchaus im Bereich des Möglichen und Umsetzbaren liegt, allerdings an den demokratiefeindlichen Strukturen des Kapitalismus scheitert. Eine systemimmanente Zäsur würde eine "reconstruction of the digital infrastructure" (S. 119) erfordern, die jedoch längst nicht mehr durchsetzungsfähig sei. Kat Jungnickel nutzt im abschließenden Beitrag des Bandes für ihre historiografische Arbeitsweise eine Anlehnung an die ANT, um über Interventionen zu sprechen. Ihr Fallbeispiel umreißt das Aufkommen des Fahrradfahrens im viktorianischen England und dessen Bedeutung für weibliche Mobilität, die durch die Bekleidung entweder ermöglicht oder eben verhindert wurde. Den Fokus auf "socio-technical systems and practices" richtend, die so weit in den Alltag integriert sind, dass sie selten bewusst wahrgenommen werden, eröffnet Jungnickel zumindest methodologisch neue Sichtweisen auf Interventionen in Bezug auf Körperlichkeit und Technologie, denn "the more mundane and trivialized something is, the more important its role probably is in daily life" (S. 126), entfernt sich jedoch von den titelgebenden digitalen Kulturen vollends. Die Stärke des Buches ergib sich sicherlich aus ihrer inter- und transdisziplinären Zusammenstellung: Theoretiker*innen der Philosophie, Politischen Theorie, Medienwissenschaft und Soziologie stehen im Austausch mit Aktivist*innen, woraus eine Methodenvielfalt entsteht, die wiederum die Ambivalenz von Interventionen veranschaulicht. Dieses Zusammenspiel bewusst nutzend, führen die Herausgeber*innen denn auch kein geringeres Ziel an, als die Konzeption eines "critical and practical guide for future interventions" (S. 17). Was diesen Band schlussendlich besonders interessant macht, sind also weniger die einzelnen Beiträge, die bereits aufgrund ihrer Kürze oft an der Oberfläche verbleiben. Doch der gegenseitige Bezug der Beitragenden aufeinander, ohne in einen tatsächlichen Austausch zu treten, stellt sich bei genauerer Betrachtung als enorme Bereicherung für interdisziplinäre Forschung im Bereich der Medienkultur- und Politikwissenschaft heraus. Während auf der einen Seite mehr staatliche Kontrolle des digitalen Kommunikationsbereichs (Turner) als Ausweg des ökonomisch bedingten Trackings betrachtet wird, wird dieser Gedanke im nächsten Beitrag (Caygill) aus historiografischer Perspektive hinsichtlich der Militarisierung digitaler Infrastrukturen, die Geheimhaltung, Verschlüsselung und Überwachung der Zivilgesellschaft impliziert, kritisch hinterfragt. Exitstrategien wie die bewusste Verweigerung digitaler Vernetzung (Galloway) finden ihren Gegenpol in der Herausarbeitung von Interferenzen zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen, die digitale Kulturen eben nicht in einen virtuellen Raum abgrenzten, sondern Konsequenzen der digitalen Infrastrukturen auch auf den nicht-digitalen Bereich übertragen sehen (Caygill, Chun, Kurtz). Konzepte wie die des Habituellen und der Homophilie (Chun) werfen Fragen zu Kulturtechniken der politischen Intervention wie die des 'human microphone' auf, das als basisdemokratisches Mittel der Verschmelzung des Einzelnen und der Vielen gefeiert wird, aber zugleich als Repräsentation und Verbreitung nur einer Stimme/Meinung dient und damit durchaus ausschließend wirkt (Bergermann). In dieser Weise treten die Beiträge in einen imaginierten Diskurs (denn keiner der Beiträge bezieht sich tatsächlich und namentlich auf andere Artikel oder Interviews) und werfen mehr Fragen auf als sie Antworten geben können. Damit werden vielfältige Perspektiven und Denkweisen eröffnet, die eine hohe Anschlussfähigkeit mit sich bringen und die Aufmerksamkeit auf die Komplexität des Gegenstandes lenken. Denn so inflationär der Begriff der Interventionen auch gebraucht wird, zeigt dieser Band dennoch auf, wie notwendig und erkenntnisreich eine weitere Beschäftigung mit diesem hinsichtlich digitaler Kulturen ist. Die reflexive Methode muss als großer Mehrwert betrachtet werden, da sie in ihrer rhizomatischen Denkweise produktive Leerstellen und Denkanstöße bietet, statt dem Imago allgemeingültiger Theorien zu verfallen. Demnach wird der Anspruch "thinking in ambivalences" (S. 139) der Herausgeber*innen durchaus erfüllt.
Inhaltsangabe: Einleitung: Das erste in die Arbeit einleitende Kapitel bringt die Problemstellung zum Ausdruck. Dabei wird eine Abgrenzung zu bisherigen Arbeiten vorgenommen und anschließend auf das Forschungsproblem sowie das Ziel der Arbeit hingeführt. Die Darstellung der einzelnen Kapitel bildet den Abschluss der Einleitung. Ausgangspunkt dieser Arbeit stellt der seit einigen Jahren in der Finanzbranche vollziehende Strukturwandel dar. Für die Finanzdienstleister ergibt sich daraus die Notwendigkeit geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um diesem einschneidenden Wandel zu begegnen. Die Banken und Versicherungen folgen dabei dem Vorbild der Industrie, in dem sie ihre Prozesse vermehrt auf den Prüfstand stellen. Die damit zunehmende Fokussierung auf die Leistungserstellung und die interne Organisationsstruktur wird unter dem Schlagwort "Industrialisierung der Finanzdienstleister" zusammenfassend betrachtet. Lamberti, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bank, sagte 2004 voraus "Die Kreditinstitute, die bei der Industrialisierung eine Vorreiterrolle spielen, werden sicherlich zu den Gewinnern der Neuordnung der Branche gehören". Damit liegt der Schlüssel in der Bewältigung dieser Transformation, in der Anwendung eines Konzeptionsmixes. Auf der einen Seite kommt es zur Standardisierung, Automatisierung und Verschlankung der Geschäftsprozesse durch Lean Management, dem Offshoring beziehungsweise Outsourcing von Funktionen. Zum Anderen findet eine unternehmensweite Qualitätsoffensive durch Six Sigma Anwendung. Ziel dieser Maßnahmen ist die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit. Auf Basis einer optimierten Kosten-, Leistungs- und Qualitätseffizienz kann eine Steigerung der Kundenzufriedenheit realisiert werden. Besonders im Umfeld der Finanzdienstleister, in dem die konsequente Prozessorientierung gerade erst an Bedeutung gewinnt, kann der integrierte Lean Six Sigma (LSS) Ansatz zu entscheidenden Vorteilen führen. De Koning et al. nehmen dazu Stellung: "The fact that services are not always tangible and the process performance in services is not usually transparent could be seen as an impediment to apply Lean Six Sigma. The opposite is, in fact, true. Six Sigma offers advanced methods for making the process performance measurable and some of the Lean Thinking tools explicitly deal with making the production flows visible. Especially in an environment where visibility and transparency are new, this can create breakthroughs". Die vorliegende Arbeit grenzt sich dabei von bisherigen Studien und Arbeiten im Bereich Lean Management und Six Sigma ab. Dafür werden die beiden Managementansätze nicht getrennt, sondern im Rahmen des Lean Six Sigma Konzepts zusammenfassend betrachtet. Lubowe/Blitz, definieren dabei Lean Six Sigma wie folgt: "Lean Six Sigma is a combination of Lean methods, which focus on reducing costs through process optimization, and Six Sigma approaches, which are about meeting customer requirements and stakeholder expectations and about improving quality by measuring and eliminating defects. Lean Six Sigma draws on the philosophies, principles, and tools of both". Ziel der Arbeit ist die Untersuchung des Lean Six Sigma Ansatzes im Rahmen der Managementprozesse von Finanzdienstleistern. Dabei werden ausgehend von der Strategie- und Zielausrichtung, die Bedeutung der einzelnen Phasen und die DMAIC-Werkzeuge untersucht. Neben der Überprüfung der Erfolgsfaktoren und Barrieren bei der Implementierung, steht im Vergleich zu bisherigen Arbeiten die Darstellung der Produktivitäts- und Qualitätsverbesserungen im Fokus. Die im folgenden Abschnitt dargestellte Vorgehensweise gewährleistet eine ganzheitliche Betrachtung der gesamten Methodik. Die empirische Untersuchung bildet demnach die Grundlage für die am Ende formulierten Handlungsempfehlungen bezüglich einer erfolgreichen Implementierung von Lean Six Sigma bei Finanzdienstleistern. Gang der Untersuchung: Das Kapitel 2 "Industrialisierung der Finanzbranche" bildet den Ausgangspunkt für die Bearbeitung der Forschungsfragen. Anhand fünf wesentlicher Treiber wird zunächst der Strukturwandel aufgezeigt. Daran anschließend werden verschiedene Maßnahmen zur Bewältigung des Strukturwandels aufgeführt. Über die Darstellung der Industrialisierungstendenzen in der Finanzbranche, wird die Notwendigkeit der Anwendung eines umfassenden Prozess- und Managementansatzes eröffnet. Die theoretischen Grundlagen für das Verständnis der Arbeit und für die empirische Untersuchung werden in Kapitel 3 "Lean Six Sigma bei Finanzdienstleistern" gelegt. Zunächst wird die historische Entwicklung von Lean Six Sigma in Abschnitt 3.1 beschrieben, dabei findet gleichzeitig eine Abgrenzung von bisher verfolgten Methoden statt. Anschließend wird ein Rahmenwerk für die Implementierung von Lean Six Sigma im Unternehmen unter Abschnitt 3.2 erarbeitet. Einbezogen werden dabei die Beschreibungen der notwendigen Organisationsstruktur und der Strategietreiber als Ausgangspunkte. Innerhalb der Implementierung sind die richtige Projektauswahl sowie der stringente Durchlauf des DMAIC-Zyklus wesentliche Aspekte. Abschließend werden dazu die kritischen Punkte infolge der Implementierung, durch die Darstellung der kritischen Erfolgsfaktoren und Barrieren, in die Betrachtung mit einbezogen. Beispiele aus dem Umfeld der Finanzdienstleister werden in Abschnitt 3.3 dargestellt. Damit wird die Praxisnähe der Arbeit gewährleistet. Neben der anfänglichen Darstellung von Produktivität und Qualität bei Banken und Versicherungen wird die Problematik der Auswahl und Durchführung von Pilotprojekten aufgegriffen. Mit der Darstellung der verschiedenen Anwendungsbereiche und Best Practice Beispiele aus der Finanzbranche wird die Aufmerksamkeit für die Thematik gestärkt und anschließend zur empirische Untersuchung übergegangen. Die Studie "Lean Six Sigma bei Finanzdienstleistern" wird in Kapitel 4 ausführlich vorgestellt. Zur Veranschaulichung des Ablaufs der empirischen Forschung wird zu Beginn eine theoretische Basis gelegt, in dem der gesamte Forschungsablauf in seinen Grundzügen diskutiert wird. Die Operationalisierung und Theoriebildung bilden dabei Schwerpunkte, da sie die wesentlichen Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens bilden. Im Anschluss werden die Ergebnisse deskriptiv und induktiv ausgewertet. Zurückführend auf das Forschungsziel werden in Kapitel 5 nach einer abschließenden kritischen Betrachtung der Methodik, verschiedene Empfehlungen für eine erfolgreiche Implementierung aufgezeigt. Ausschließlich durch die konsequente Darstellung von Stärken und Schwächen des Konzepts ist es dem Leser möglich ein umfassendes Verständnis hinsichtlich der Einführung von Lean Six Sigma in der Finanzbranche zu erhalten. Abschließend wird ein Ausblick gewährt.Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis: AbbildungsverzeichnisIV TabellenverzeichnisV AbkürzungsverzeichnisVII SymbolverzeichnisVIII 1.Einleitung1 1.1Einführung in die Problemstellung1 1.2Gang der Untersuchung2 2.Industrialisierung der Finanzbranche4 2.1Strukturwandel in der Finanzbranche4 2.2Bewältigung des Strukturwandels6 2.3Industrialisierung der Finanzdienstleister8 3.Lean Six Sigma bei Finanzdienstleistern10 3.1Die historische Entwicklung von Lean Six Sigma10 3.1.1Lean Management10 3.1.2Six Sigma12 3.1.3Integriertes Lean Six Sigma13 3.2Implementierung der Lean Six Sigma Methodik16 3.2.1Die Lean Six Sigma Organisationsstruktur16 3.2.2Die Strategietreiber von Lean Six Sigma17 3.2.3Die richtige Projektauswahl20 3.2.4Das Vorgehen bei Lean Six Sigma Projekten - der DMAIC+T21 3.2.4.1Define21 3.2.4.2Measure22 3.2.4.3Analyze23 3.2.4.4Improve24 3.2.4.5Control25 3.2.4.6Technology Transfer26 3.2.5Kritische Erfolgsfaktoren und Barrieren bei der Einführung27 3.3Lean Six Sigma in der Finanzbranche28 3.3.1Produktivität und Qualität bei Banken und Versicherungen28 3.3.2Auswahl und Umsetzung von Pilotprojekten30 3.3.3Arten von Verschwendung bei Finanzdienstleistern31 3.3.4Anwendungsbereich von Lean Six Sigma33 3.3.5Best Practice bei Finanzdienstleistern34 4.Empirische Untersuchung "Lean Six Sigma bei Finanzdienstleistern"36 4.1Ziel der Untersuchung36 4.2Theoretische Vorbetrachtung zur empirischen Untersuchung37 4.2.1Ablauf der empirischen Forschung37 4.2.2Hypothesen und Theoriebildung38 4.2.3Operationalisierung der zu untersuchenden Ausprägungen39 4.2.4Stichprobenbildung und Datenerhebung43 4.3Auswertung der empirischen Untersuchung44 4.3.1Einführung in das Forschungsvorhaben44 4.3.2Bestimmung der Reliabilität und Validität der Untersuchung44 4.3.3Deskriptive Auswertung der Daten46 4.3.4Modellierung der Ursache-Wirkungsbeziehungen55 4.3.3.1Wirkungszusammenhänge zwischen den Zielen57 4.3.3.2Zusammenhänge zwischen Ziele und Werkzeuge58 4.3.3.3Zusammenhänge zwischen den Zielen, Erfolg, Kommunikation und Unternehmenskultur59 4.3.3.4Beziehungen zwischen den Erfolgsfaktoren61 4.3.3.5Beziehungen zwischen den Barrieren63 4.3.3.6Zusammenhänge zwischen den Zielen, den Produktivitätsverbesserungen sowie den wirtschaftlichen Einflußgrößen65 4.3.3.7Zusammenhänge zwischen den Zielen, den Qualitätsverbesserungen sowie den wirtschaftlichen Einflussgrößen66 5.Abschließende Betrachtung der Lean Six Sigma Methodik69 5.1Kritische Würdigung69 5.2Fazit für die Implementierung71 5.3Ausblick73 Literaturverzeichnis75 Anhang88Textprobe:Textprobe: Kapitel 5.1, Kritische Würdigung: Die Literatur beschreibt eine Vielzahl von erreichten Erfolgen infolge von Six Sigma/Lean Six Sigma Initiativen in der Industrie sowie im Dienstleistungsbereich. Dennoch weisen verschiedene Forscher und Autoren auf bestimmte Schwächen hin. Dazu gehört zum Einen die bereits diskutierte nicht eindeutige Begriffsverwendung im Praxisumfeld. Weiterhin wird der geringe Neuigkeitsgrad der Teilaspekte von Lean Six Sigma aufgeführt. Milkau, nimmt dazu Stellung und schreibt, dass "… ein streng methodisches "Zählen, Messen und Wiegen" die Grundlage von vielen Methoden…" ist und war. Diese Aussage spiegelt sich vor allem in Juran`s Qualitätstrilogie und dem Kaizen Ansatz wider. Weiterhin gilt die eingeschränkte Anwendbarkeit des Konzeptes in der Finanzbranche als Kritikpunkt. Der Grund dafür liegt in der vertretenen Meinung, dass das gesamte Potential von Lean Six Sigma ausschließlich in der Industrie vollständige Anwendung findet. Desweiteren führt Töpfer auf, "… dass das geforderte Niveau praktizierter Null-Fehler-Qualität im Vergleich zu beispielsweise 99% Qualität viel zu aufwendig und deshalb praxisfern ist". Auf die Frage "Wie viel Six Sigma braucht eine Bank?" nimmt Milkau., kritisch Stellung. Er bezeichnet "… Six Sigma 'bewusst überzeichnet' als eine 30 Jahre alte Antwort von Motorola auf Fortschritte der japanischen Industrieproduktion .". Dabei stellen die angestrebten 3,4 DPMO weniger ein Ziel dar, sondern vielmehr einen Wert mit pädagogischer Wirkung. Daran schließen die Kritikpunkte von Lieber nahtlos an. Sie führt im Hinblick auf den Six Sigma Anteil die hohe statistische und mathematische Komplexität als weiteren Kritikpunkt auf. Dahlgaard/Dahlgaard-Park weisen außerdem Six Sigma eine fehlende Berücksichtigung des menschlichen Faktors zu: "Especially with six sigma quality there seems to be too much focus on training people in tools and techniques and at the same time too little focus on understanding the human factor, i.e. how to build the right company culture – a culture where people's basic needs are both understood and respected". Der hohe Ressourcenbedarf, bezüglich Zeit, Kosten und Training der Mitarbeiter, stellt eine weitere Schwachstelle dar. Dabei stellt Husby, heraus, dass die Ausbildung von internen Lean Six Sigma Fachberatern, einfache Teammitglieder aus dem Verbesserungsprozess sogar ausgrenzen kann. Weiterhin zeigen die Praxiserfahrungen, dass der messbare Erfolg einer Initiative sich erst nach einigen Monaten einstellt. Das ist der Ausbildung von geeigneten Mitarbeitern, der richtigen Projektauswahl sowie der Projektdurchführung und Implementierung geschuldet. Dadurch kann die Projektdurchführung in den ersten Monaten durch fehlende quantifizierbare Erfolge zum Stillstand kommen. Zur Verdeutlichung der bereits genannten Aspekte werden die Ergebnisse der Studie "Six Sigma bei Finanzinstituten" von Petzel herangezogen. Die befragten Finanzdienstleister nehmen vornehmlich Kritik an der formellen Anwendung der Methodik (19%), den hohen Ausbildungskosten (21%), der zu komplexen Anwendung (20%) sowie am notwendigen Aufbau eines ganzheitlichen Messsystems (28%). Für die Finanzdienstleister ergibt sich eine neue Situation einer strukturierten Vorgehensweise bei der Optimierung von Prozessen. Daher ist ein Umdenken der Finanzdienstleistern erforderlich. Ohne das für Lean Six Sigma grundlegende Basisverständnis, hinsichtlich Qualität, Kundenzufriedenheit und Vermeidung von Verschwendung ist der Projekterfolg zwangsläufig in Gefahr.Bei dem Blick auf die Kritikpunkte wird deutlich, dass vornehmlich der Six Sigma Anteil des Lean Six Sigma Konzeptes im Fokus steht.Husby nimmt zur Anwendung von Six Sigma mit vereinzeltem Einsatz von Lean Werkzeugen kritisch Stellung: "There is nothing wrong with inclusion of Lean tools in the Six Sigma toolkit. What's wrong is selling the combined solution as Lean or Lean Six Sigma, implying that this captures the real essence and purpose of Lean. Six Sigma has no process or tools for ensuring complete alignment of metrics and projects across the entire organization. This will lead to projects that serve one function well but don't provide the best total-business benefit". Ein wesentlicher Kritikpunkt seitens Lean Management ist die fehlende Nachhaltigkeit. Diese hat einen wesentlichen Einfluss auf den Projekterfolg und die Umsetzung, wird aber durch den integrierten Einsatz von Six Sigma egalisiert. Außerdem sollte es vermieden werden jeden nicht-quantifizierbaren Aspekt als Verschwendung im Sinne des Qualitätsmanagements anzusehen. Innovationen sind nur mit gestalterischem Freiraum möglich, der zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit notwendig ist. Six Sigma bietet eine datenbasierte Entscheidungsfindung, eine eindeutige Verteilung von Verantwortlichkeiten, sowie ein ausgereiftes Projektmanagement, dass auf Grundlage der Kundenbedürfnisse Qualitätsverbesserungen umgesetzt werden. Lean Management ist ein bewährter Ansatz zur Vermeidung von Verschwendung und kontinuierlichen Verbesserung. Verschiedene Praxisbeispiele unterstreichen, dass durch Anwendung von Lean Six Sigma die Durchlaufzeiten bis zu 80% sowie die Produktionsfix- und Qualitätskosten um 20% optimiert werden können. Die dargestellten Kritikpunkte sind ernst zu nehmen, dennoch zeigt die vorliegende Arbeit deutlich den Vorteil eines integrierten Lean Six Sigma Konzeptes gegenüber dem alleinigen Einsatz von Lean Management und Six Sigma.
Die eherne Mauer und die Aktualität der Herbartschen Ethik Von Renato Pettoello »Dem Inhalte [und .] der Methode nach [.] ist mit diesem Systeme ein ganz neues Bildungsmittel in die Philosophie der Gegenwart gekommen.« (I. H. Fichte, Ein Wort über die "Zukunft" der Philosophie, in "Zeitschrift f. Phil. u. philos. Kritik" XXI (1852), p. 239). Das Problem ist immer wieder dasselbe: Ist es möglich, eine feste Grundlegung für die Moral zu finden? Bzw. ist es möglich, ein Prinzip oder mehrere Prinzipien auszumachen, die es uns gestatten, zwischen Gut und Böse zu wählen? Die Schlange der Versuchung verspricht Adam und Eva keine immensen Reichtümer oder unendliche Macht; außer der Unsterblichkeit verspricht sie ihnen, wenn sie die Frucht des verbotenen Baumes essen, daß sie sein werden »wie Gott«, d.h. daß sie wissen werden, »was gut und böse ist.« Der Mensch ist also im selben Augenblick, in dem er zum Menschen wird, d.h. in dem Augenblick, in dem er seine Unschuld verliert, sozusagen dazu gezwungen, sich zu fragen, ob das, was er tut, gut oder böse sei. Einzig der Mensch besitzt diese gleichzeitig göttliche und teuflische Fähigkeit. In seiner Unschuld kann sich das Tier dieses Problem nicht einmal stellen; mit Ausnahme vielleicht der höheren Primaten hat es kein Bewußtsein von dem, was es tut. Das Tier kann unschuldigerweise grausam sein, der Mensch nicht. Doch was sind denn eigentlich Gut und Böse? Wie können wir feststellen, ob dies eine gute oder böse Sache ist? Und ob sie immer gut ist oder nur unter gewissen Umständen, unter anderen aber nicht? Sicherlich können wir das Problem nicht dadurch lösen, daß wir einfach behaupten, dies sei gut, dies hingegen böse. Schon Platon hatte dies mit großer Klarheit erkannt und im Menon den Sokrates folgendes sagen lassen: »Das Gleiche gilt denn auch von den Tugenden. Mag es ihrer auch viele und mancherlei geben, so stehen sie doch alle unter ein und derselben Begriffsbestimmung, die den Grund dafür enthält, daß sie Tugenden sind, und der Antwortende tut gewiß gut, auf diese sein Augenmerk zu richten, um so dem Fragenden Auskunft zu geben über das Wesen der Tugend.« Ähnlich steht es auch im Euthyphron zu lesen: »Erinnerst du dich nun, daß ich dich nicht dazu aufforderte, mich über eine oder zwei der vielen frommen Handlungen zu belehren, sondern über das Wesen selbst, durch welches alles Fromme fromm ist?« »Das Wesen der Tugend«. Ich kann mir vorstellen, daß viele der Anwesenden hier schon die Nase gerümpft haben und diesen Ausdruck für abstrakt und vielleicht sogar für verdächtig halten. Und dies mit Recht. Denn es liegt ja auf der Hand, daß Platon die von der griechischen Polis und mehr noch die von Athen anerkannten Tugenden im Sinne hatte und von diesen nun verlangte, daß sie universalen Wert besäßen. – Wir sind uns der Übel nur allzu bewußt, welche in der Vergangenheit – und vielleicht auch noch heute – von der Überzeugung verursacht wurden, die einzig mögliche Kultur sei die europäische. Aufgrund dieser Überzeugung haben wir uns dazu ermächtigt gefühlt, unser Model von Kultur und Sittlichkeit ganzen Volksgruppen auf dem Planeten aufzuzwingen und dies oft mit Gewalt. Heute akzeptieren wir zumindest formal, daß unterschiedliche Modelle nebeneinander existieren können und wir hüten uns davor – oder zumindest sollten wir uns hüten –, einen erneuten Kulturkolonialismus zu betreiben. Zum Glück. Und doch hat sich gerade unter den Personen, welche sich der Unterschiede stark bewußt sind und sie am meisten respektieren (zu denen ich hoffe, auch mich selbst zählen zu dürfen), oft eine Art von ethischem Relativismus verbreitet, der, wenn man genauer hinsieht, widersprüchlich ist und oft das Gegenteil erreicht. Oft nämlich endet es auf diese Weise mit der Verwechslung von Anthropologie und Ethik. Natürlich steht es außer Frage, daß jede Kultur das Recht hat, ihre eigenen ethischen Regeln selbständig zum Ausdruck zu bringen und wir haben die Pflicht, sie zu respektieren. Doch gilt dies immer und in jedem Fall? Während nämlich der Anthropologe sich darauf beschränken muß, Sitten und Traditionen ohne Wertung aufzuzeichnen, liegen die Dinge in der Ethik nicht so. Hier hat man das Recht/die Pflicht, Werturteile zu fällen. Der Kindermord an den Mädchen, gewisse schreckliche Praktiken, wie Infibulation, die Ausbeutung der Kinder, die Sklaverei, die Folter, die Todesstrafe – um nur einige Beispiele zu nennen, doch leider könnte man noch sehr viele andere hinzusetzen – sind Praktiken, welche bei einigen Kulturen als moralisch gleichgültig betrachtet werden, wenn nicht sogar als moralisch akzeptabel; können derartige Praktiken uns im Namen eines falsch verstandenen Relativismus gleichgültig sein? Und wenn sie uns nicht gleichgültig sind und uns sogar empören und unseren Protest erregen, aufgrund welcher Prinzipien fühlen wir uns dazu ermächtigt? Es könnte nun jemand einfach und einsichtig antworten: aufgrund der Anerkennung der menschlichen Würde. Wenn aber jemand sie ablehnt? Wenn aber, wie einer der Gesprächspartnern in einem Herbartschen Dialog in platonischem Stil über das Böse sagt, welcher das Kantische Prinzip diskutiert, demzufolge man stets so handeln soll, daß man die Menschen »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« behandelt, wenn also »jemand sich dessen weigert; wird nun das Böse unmittelbar anschaulich seyn, das daraus entsteht? Oder kann der, welcher den Andern als Maschine gebraucht, auch noch fragen: was denn darin Schlimmes liege?« (IV, 490). Es ist immer wieder dasselbe, werden Sie sagen: die Philosophen (und zudem noch die italienischen) müssen immer alles unnötigerweise kompliziert machen. Warum sollte man nach einer festen Grundlage suchen, soweit es eine solche überhaupt gibt, wenn der gesunde Menschenverstand und die Menschlichkeit ausreichen, um uns bei der Bewertung von Gut und Böse zu leiten? Einmal abgesehen davon, daß Philosophie sich nicht mit dem gesunden Menschenverstand zufriedengeben kann und seit je nach einem festeren und sichereren Wissen strebt, sind wir uns denn wirklich so sicher, daß uns der Gemeinsinn eine zuverlässige Führung bietet? Außerdem bringen die mit der Ethik zusammenhängenden Probleme wichtige Auswirkungen im juristischen und, allgemeiner, im politischen Bereich mit sich, welche, so denke ich, eine aufmerksame Reflexion und eine feste Grundlage verdienen. Es ist auf der anderen Seite auch klar, daß die Grundlage, die wir suchen, allgemeine Gültigkeit haben muß, ohne deshalb bloß abstrakt zu sein, denn sonst bliebe sie in der Schwebe und im Leeren, ohne als Anleitung für den wirklichen Menschen fungieren zu können. Sie wird ebenfalls die fundamentalen Prinzipien der Moral auf klare und endgültige Weise zu definieren haben, ohne deshalb jedoch die Existenz unterschiedlicher moralischer Normen auszuschließen. Es ist nicht schwer zu sehen, daß sowohl diachronisch im Verlauf der Geschichte als auch synchronisch in den verschiedenen heutigen Gesellschaften unterschiedliche moralische Regeln existiert haben und existieren, die zu respektieren sind, solange sie nicht mit den Prinzipien in Konflikt geraten (sicherlich hat es keinen Sinn und ist vielmehr beleidigend und demütigend, den Masai-Kriegern die Unterhosen aufzuzwingen, wie es das viktorianische England getan hat); im gegenteiligen Falle jedoch sind sie in aller Schärfe anzuprangern. Zwei Beispiele: Der im alten Griechenland und in Rom verbreitete Brauch, die Neugeborenen auszusetzen, ist aus dem historischen Blickwinkel heraus eine einfache Tatsache, aus ethischer Sicht aber ein Greuel. Wer würde dies heute wieder einführen wollen? Die Verurteilung zum Tode durch Steinigung einer Frau, weil sie einem unehelichen Sohn das Leben geschenkt hat, nachdem sie vergewaltigt wurde, ist nicht nur ein juristisches Ungeheuer, sondern auch moralisch inakzeptabel. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei klargestellt, daß wir uns hier auf einer ausschließlich ethischen Ebene bewegen, die in keiner Weise Formen der Aufzwingung zuläßt. Ich bin mir auf der anderen Seite auch vollkommen der komplexen Implikationen, welche all dies mit sich bringen könnte und des Konflikts bewußt, der zwischen traditionalen Formen von Kultur und ethischen Prinzipien aufkommen könnte, doch denke ich auch, daß wir uns nicht hinter derartigen Schwierigkeiten verstecken können. In jedem Fall lassen wir für den Moment diese Probleme außer Acht und konzentrieren uns auf das Hauptproblem: Die Grundlage. Ich bin davon überzeugt, daß Herbarts Philosophie bei dieser Suche in die richtige Richtung führen kann und daß sie uns auch heute noch wichtige Anregungen auch im ethischen Bereich zu bieten hat. Bevor wir uns jedoch in Herbarts Reflexionen zur Moral vertiefen, ist es notwendig, vorher noch schnell auf Kant zu sprechen zu kommen, der für Herbart konstanter Bezugspunkt ist und auch für das zeitgenössische Denken einen unausweichlichen Probierstein darstellt. Natürlich werde ich nur auf einige wenige zentrale Punkte der Kantschen Ethik zu sprechen kommen. Ich fürchte, eine etwas technische Terminologie nicht vollkommen vermeiden zu können, doch ich hoffe, mich trotzdem klar verständlich zu machen. Welche Eigenschaften muß ein moralisches Prinzip besitzen, um wahrhaft universal zu sein? Vor allem müssen hier die Grenzen geklärt werden, indem das moralische Prinzip klar und deutlich von den theoretischen Prinzipien unterschieden wird, da der Gegenstand, mit dem diese sich beschäftigen ein grundlegend anderer ist. Dies bedeutet, daß die Moral der Metaphysik, der Psychologie usw. gegenüber autonom ist. Wenn wir wollen, daß das Prinzip, welches wir suchen, auch wirklich universal ist, ist es des weiteren notwendig, daß es nicht auf subjektiven Elementen fußt oder auf solchen, die nicht verallgemeinerbar sind, und daß es absolut autonom ist, d.h. seine Rechtfertigung nicht von fremden Elementen erhält. Die subjektiven Neigungen, die Gefühle, die Leidenschaften usw. können also die Moral nicht fundieren. Dies heißt allerdings nicht, daß sie an sich böse wären, sondern nur, daß sie das Prinzip subjektiv beeinflussen, welches dementsprechend keine universale Geltung mehr besäße. Dies eben ist Kant zufolge die Grenze aller vergangenen Versuche, die Moral zu begründen. Sie suchten die Grundlage der Moral nämlich in materiellen und heteronomen Prinzipien, wie der Glückseligkeit oder dem Nützlichen – doch meine Glückseligkeit, mein Nützliches kann das Unglück und den Schaden eines anderen bedeuten –; die Vollkommenheit oder das höchste Gute – welche jedoch entweder vergängliche Begriffe sind oder von der Geschichtsepoche bzw. der Gesellschaft beeinflußt wurden, welche sie hervorgebracht hat. Man kann also auch nicht, wie Platon es wollte, mit der Definition des Guten und des Bösen beginnen: Böse und Gut sind lediglich Gegenstände der praktischen Vernunft, ja eigentlich »die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft.« Schließlich kann auch die Religion die Moral nicht begründen, sondern eher das Gegenteil: Die Religion ist eventuell eine moralische Forderung. Andernfalls gründete Moral sich auf ein heteronomes Prinzip, d.h. ihre Rechtfertigung käme von außen. Das Prinzip, das wir suchen, muß also folgende Eigenschaften haben: Es muß autonom, bedingungslos und formal sein. Der Sitz, um uns so auszudrücken, dieses Prinzips kann nirgendwo anders als in der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch liegen. Im Gegensatz zu dem, was immer wieder wiederholt wird, ist die Kritik der praktischen Vernunft in keiner Weise eine "Moral", eine Tugendlehre; sie ist vielmehr eine Art von Metaethik. Sie bewegt sich sozusagen auf einer zweiten Ebene, auf einer metanormativen Ebene, welche eben die Moral als ihren Gegenstand hat. Genauso wie die theoretische Vernunft die Mathematik und die Physik zum Gegenstand hat, oder genauer: so wie sie die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft untersucht, so fragt die praktische Vernunft nach den Bedingungen der Möglichkeit der Moral, d.h. einer Modalität von Erfahrung, welche ihre spezifische Selbständigkeit besitzt. Die Philosophie, sagt Kant, muß sich darauf beschränken, »eine neue Formel« der Moral zu entwerfen; weder kann sie noch soll sie beanspruchen, eine neue Moral zu erfinden. Dies erklärt auch eine gewisse Bestürzung, die bei einer ersten, oberflächlichen Lektüre des Werkes aufkommen kann. Wie denn – will man sagen – am Ende all dieser Mühsal weiß ich nicht einmal, ob ich gut handle, wenn ich einer alten Dame helfe, die Straße zu überqueren. Der Grund hierfür besteht darin, daß dies nicht die Aufgabe der Kritik der praktischen Vernunft ist. Das Problem der Normen und der Regeln wird sich natürlich stellen, doch hierfür muß man andere Werke Kants heranziehen, wie etwa die Metaphysik der Sitten. Objektivität der Moral bedeutet für Kant allgemeine Gültigkeit dessen, was er das moralische Gesetz nennt und dieses Gesetz ist ein »Faktum der Vernunft«, weil es seit je in den vernünftigen Wesen vorhanden ist, d.h. in den Menschen als Menschen. Das moralische Gesetz bedarf keinerlei philosophischer Rechtfertigung; es ist hier eine Grundlegung weder möglich noch notwendig. Und zwar deshalb, weil es sein Fundament in sich selbst findet bzw. weil es an sich gültig ist und sich uns gegenüber von selbst durchsetzt. Diese Behauptung nun scheint paradox. Was heißt das, das moralische Gesetz brauche keine Grundlegung? Die Antwort auf diese Frage finden wir in der Kritik der reinen Vernunft, wo zu lesen ist: »Von der Eigenthümlichkeit unsers Verstandes aber […] läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.« Es hat demnach keinen Sinn, nach einer weiteren Grundlage der Grundlage zu suchen: wir müssen uns mit diesem Faktum begnügen. In den Menschen tritt das moralische Gesetz als Imperativ auf, der berühmte kategorische Imperativ: Du sollst, weil du sollst. Nicht: Du sollst dieses oder jenes tun, sondern du sollst das moralische Gesetz befolgen. Aber aufgepaßt, das moralische Gesetz und der kategorische Imperativ stimmen keineswegs überein. Sie scheinen nur für den Menschen übereinzustimmen, welcher nicht nur ein Vernunftwesen, nicht reine Vernunft ist, sondern der auch (zum Glück) ein sinnliches Wesen ist, das Neigungen, Wünschen, Impulsen usw. unterliegt. All diese Gefühle sind natürlich legitim, aber sie können nicht, wie wir gesehen haben, zur Grundlegung der Moral beitragen. Für einen Engel etwa wäre der Imperativ absolut nicht notwendig, weil sein Wille vollkommen mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen würde. Dem kategorischen Imperativ stehen wie bekannt die hypothetischen Imperative entgegen; Wenn du dies tun willst, wenn du das erreichen willst, mußt du dies oder jenes tun. Sie können jedoch keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Doch auch in diesem Fall müssen vereinfachende Banalisierungen vermieden werden. Der Gegensatz zwischen kategorischem Imperativ und hypothetischen Imperativen ist nicht der Gegensatz zwischen Moralität und Unmoralität. Freilich ist es wahr, daß der kategorische Imperativ der moralische Imperativ ist, doch das bedeutet nicht, daß der hypothetische Imperativ notwendigerweise unmoralisch sein muß. Auch ist die sinnliche Natur des Menschen nicht schon als solche ein Übel; sie wird dazu erst in dem Moment, in dem sie mit dem moralischen Gesetz in Konflikt gerät. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Vorstellung scheint mir Kant eine rigorose, aber keine rigoristische Moral vorzuschlagen, die sich der Grenzen des Menschlichen und seiner Rechte als sinnliches Wesen vollkommen bewußt ist. Aus dem Faktum des moralischen Gesetzes wird die Willensfreiheit abgeleitet. Die Freiheit, sagt Kant, ist »allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes« bzw. die Bedingung der Wirklichkeit des moralischen Gesetzes. Wäre der Mensch nicht frei, könnte man von Moral überhaupt nicht sprechen, denn er wäre dann wie die Tiere. Auf der anderen Seite ist das moralische Gesetz »die ratio cognoscendi der Freiheit« , d.h. das, was es uns erlaubt, die Freiheit zuzulassen. Nur so können wir verstehen, daß wir einen freien Willen haben. Noch einmal, die transzendentale Freiheit, von der Kant hier spricht, ist nicht so sehr die Freiheit, dieses oder jenes zu tun, als vielmehr die Möglichkeit selbst von Freiheit, eine Freiheit als solche und absolut unbedingt. Ich entschuldige mich für diese allzu kurze und schematische Darstellung der Kantschen Morallehre, die notwendigerweise eine ganze Reihe von wichtigen Problemen außer Acht gelassen hat. Doch war es meines Erachtens notwendig, einige zentrale Themen dieser Theorie wieder ins Gedächtnis zu rufen, um nun Herbarts Position verstehen zu können. Seine Stellung ist, um die Wahrheit zu sagen, komplex und zweideutig, denn seine Kritiken an Kant, und nicht nur diejenigen im moralischen Bereich, sind oft ungerechtfertigt und doch ist er gerade in diesen Fällen besonders anregend. Bevor ich jedoch endlich zu Herbart komme, sei es mir erlaubt, Sie noch einmal auf die Wichtigkeit des ethischen Formalismus Kants aufmerksam zu machen, denn eben hier kann man meines Erachtens die Aktualität der Herbartschen Ethik voll und ganz ausmessen. Das ethische Prinzip, haben wir gesagt, muß formal sein, da es sonst durch materielle Elemente bedingt wäre, welche seine Universalität herabsetzen würden, weil es »von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden [kann], ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde.« In diesem Sinne ist der meines Erachtens fehlgeschlagene Versuch von John Rawls bezeichnend, der eine Metaethik verwirklichen wollte ohne den Formalismus, wie auch immer man ihn verstehen will, oder auf jeden Fall durch seine Schwächung. In der Tat ist er in den Werken nach A Theory of Justice dazu gezwungen, seine Position zu revidieren, den Anspruch auf Universalität seiner Moral zu verleugnen und ihre Geltung auf die industrialisierten Gesellschaften des Abendlandes einzuschränken. Der Kantische Formalismus allerdings impliziert keineswegs Leere. Esi ist mir klar, daß die allgemeine Form sehr wohl ohne Inhalte erkannt werden kann, doch das heißt noch lange nicht, daß sie der Inhalte entbehrt. Die Form gibt es in Wahrheit nie ohne die Inhalte, doch bedeutet das nicht, daß man sie nicht unabhängig von ihnen betrachten kann. Wie bekannt riefen der vorgebliche Rigorismus Kants und der Formalismus seiner Ethik unmittelbar negative Reaktionen hervor. Man denke, nur um einige Namen zu nennen, an Schiller und Hegel, an Fichte und Schleiermacher. In einer seiner Xenien schreibt Goethe sogar sarkastisch: »Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung | Und so wurmt mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.« Doch die Diskussion setzte sich weit über das eben vergangene 18. Jahrhundert hinaus fort. So hat Husserl, der eine formale Ethik in Analogie zur Logik aufbauen wollte, Kant kritisiert, weil seine Ethik nicht formal genug sei, während Max Scheler, der im Gegenteil eine materielle Wertethik begründen wollte, den Kantschen Formalismus glattweg ablehnte. Doch nun ist es Zeit, zu Herbart überzugehen, der ja auch als Inspirationsquelle und als Bezugspunkt allen Hauptdarstellern dieser Debatte gegenwärtig ist, H. Cohen ebenso wie Vorländer, die meines Erachtens entscheidende Beiträge zum ethischen Formalismus Kants geliefert haben , Scheler ebenso wie, auf vermittelte Weise, Husserl. Auch Herbart reiht sich in den Chor der Kritiken ein. Auch er weist den Kantschen Formalismus zurück, weil er ihm leer erscheint und deshalb unfähig, wirklich vom Besonderen Rechenschaft zu geben, das sich im Allgemeinen verliert. Des weiteren lehnt er die transzendentale Freiheit (auch wegen ihrer unheilvollen pädagogischen Konsequenzen) und den kategorischen Imperativ ohne Vorbehalt ab, da sie für ihn nichts anderes sind, als begriffliche Absurditäten. Natürlich hat auch für ihn die Pflichtmäßigkeit eine zentrale Funktion in der Behandlung der Moral; doch der kategorische Imperativ und die Kantschen Pflichten sind am Ende eben wegen ihres leeren Formcharakters dazu gezwungen, auf eine höhere Autorität zu rekurrieren, auf einen ewigen Herrn. Allerdings erkennt er an, daß mit Kant »der wichtige Theil der Reform, welche die Sittenlehre treffen mußte.« (III, 235) abgeschlossen wurde. Kant hat das Verdienst, die Selbständigkeit der Moral klar erkannt zu haben: selbständig gegenüber dem Gegenstand, der nicht mit dem der theoretischen Vernunft verwechselt werden darf und selbständig gegenüber der Form, welche nach Kants Absicht von jeder Bestimmung unabhängig sein sollte, es sei denn der des reinen Wollens in seiner Universalität. Kant wird also auf der einen Seite das Verdienst zuerkannt, Ethik und Metaphysik klar voneinander getrennt zu haben: Der verfehlte Ausdruck Metaphysik der Sitten – sagt Herbart – ist lediglich eine unglückliche Redensart, die der Tatsache keinen Abbruch tut, daß Kant die ursprüngliche, besondere und absolute Evidenz des moralischen Elements erkannt hat, welches keiner äußeren Stützen bedarf (XII, 348). Auf der anderen Seite kommt ihm das Verdienst zu, »gleichsam eine eherne Mauer« (III, 70) zwischen der Totalität der materiellen Prinzipien des Wollens und den formalen Prinzipien aufgerichtet zu haben. Das Bestreben Herbarts besteht also in folgendem: ein moralisches Prinzip oder besser moralische Prinzipien ausmachen, welche allgemeinen Wert haben, jedoch gleichzeitig das Besondere wahren; welche formal sind, aber nicht leer, ohne deshalb von materiellen Elementen bedingt zu sein. Wie sollen wir uns also bewegen? Zunächst einmal ist klar, daß das ethische Urteil, welches der Herbartschen Moral zugrunde liegt, keinen Anspruch darauf erheben kann, im logischen Sinne universal zu sein, da es auf diese Weise das Besondere vollkommen aus dem Auge verlöre; auch kann es keineswegs auf dem Wege der Abstraktion erreicht werden, wie es die Empiristen möchten, da es auf diese Weise die Allgemeingültigkeit verlöre. Des weiteren muß man sich davor hüten, um alles in der Welt ein einziges Prinzip zu suchen, das es nicht gibt und das auch nicht gesucht werden soll. Wir werden also eine Vielfalt von Prinzipien vor uns haben, ähnlich dem, was in der Metaphysik auch passiert. Ein einziges Prinzip ist eine reine Abstraktion, welches das richtige Verhältnis zwischen Gegebenem und Prinzipien umkehrt. Zuerst werden die einzelnen Werturteile gefällt und dann wird künstlich ein einziges Prinzip aufgestellt. So läßt Herbart in seinen Gesprächen über das Böse, die ich schon erwähnt habe, einen seiner Gesprächspartner, und zwar Otto, zu einem anderen, der die Thesen Fichtes vertritt, sagen: »Sie tadeln erst den Streit, und alsdann aus diesem Grunde die Trägheit; Sie verurtheilen den Hass, und darum hintennach das, was Sie als Quelle des Hasses ansehen, und so weiter.« (IV, 491) Doch was geschieht nun eigentlich, wenn wir ein moralisches Urteil fällen oder wenn wir sagen, dies sei gut, das sei schlecht? Um welche Form von Urteil handelt es sich? Und betrifft das Urteil die Form oder den Inhalt? Zunächst leuchtet ein, daß das Urteil (A ist B zum Beispiel) eine Beziehung vorsieht und das gilt auch für das Werturteil: Ein einzelnes materielles Element ist moralisch indifferent, es ist weder gut noch böse. Hat man einmal eine Güterlehre ausgeschlossen und das Problem des Werts oder Unwerts für den Willen gestellt, dann kann dieser letztere, da er von allen Beziehungen zu den Dingen befreit ist, sich einzig durch die Form der Beziehung charakterisieren, welche er angenommen hat: »Jede Zusammenfassung – so Herbart -, welche als solche eine neue Bedeutung erlangt, ergiebt eine Form; im Gegensatze gegen die bloße Summe dessen, was zusammengefasst wird, welche Summe in sofern Materie heißt. Also kann nur der Form des Wollens ein Werth oder Unwerth beygelegt werden.« (X, 348) Das Geschmacksurteil betrifft also lediglich die Form, nicht den Inhalt und ist doch nicht abstrakt: Es ist nichts anderes als der Name für besondere Beziehungsurteile. Doch muß sich die praktische Philosophie keineswegs schämen, keine solche Universalität erreichen zu können, welche alle Tatsachen des Lebens vollkommen erfassen könnte: »das menschliche Leben ist viel zu bunt, als daß die einfachen Willensverhältnisse im Voraus wissen könnten, wie sie einander darin begegnen werden.« (II, 351) Das Werturteil, welches für die Ästhetik und mehr noch für die Ethik bezeichnend ist, stellt sich als Geschmacksurteil dar, welches unmittelbar Billigung oder Mißbilligung auslöst. Aus dem Geschmacksurteil muß jeder subjektive Gemütszustand ausgeschlossen werden. Es handelt sich um ein reines Urteil und das unterscheidet Herbart sicherlich klar von den englischen Moralisten, mit denen er trotzdem, wie wir gleich sehen werden, bedeutsame Punkte gemein hat. In Über die ästhetische Darstellung der Welt schreibt er denn auch, indem er sich ausdrücklich auf Platon beruft: Die ästhetische, und das heißt für Herbart auch die ethische Notwendigkeit »charakterisiert sich dadurch, daß sie in lauter absoluten Urtheilen, ganz ohne Beweis, spricht, ohne übrigens Gewalt in ihre Forderung zu legen. Auf die Neigung nimmt sie gar keine Rücksicht; sie begünstigt und bestreitet sie nicht. Sie entsteht beym vollendeten Vorstellen ihres Gegenstandes.« (I, 264) Die ethischen Urteile müssen demnach absolut und unbedingt sein und können deshalb nicht im Willen als einer subjektiven Wirklichkeit gesucht werden, sondern einzig in einer objektiven Wirklichkeit, die – wie wir gleich sehen werden – in den praktischen Ideen ihren Ausdruck findet, welche typische Willensverhältnisse sind, die mit ihrer Beispielhaftigkeit notwendige Urteile hervorrufen. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Obschon wir uns in der Heimatstadt dieses großen Denkers befinden (meines Erachtens sicherlich einer der größten Denker nach Kant), ist nicht gesagt, daß auch alle seine Ethik aus der Nähe kennen. Deshalb scheint es, so hoffe ich, nicht unnütz, kurz die wichtigsten Züge darzustellen. Herbart lehnt also, wie gesehen wurde, Kants Formalismus ab, dem er einen Formalismus entgegenzusetzen beabsichtigt, welcher ein solcher nur deshalb ist, weil er vom besonderen Inhalt der menschlichen Handlungen absieht, allerdings die typischen Verhältnisse, welche diese Handlungen aufweisen, einschließt. Die Absolutheit, die mit dem Formalismus eng verbunden ist, wird dann Herbart zufolge nicht im Willen als einer subjektiven Wirklichkeit gesucht (in Herbarts Augen wäre dies der Kantsche gute Wille), sondern in einer objektiven Wirklichkeit, in unwillkürlichen Urteilen der Billigung oder Mißbilligung, welche jeden Aspekt des menschlichen Lebens einbeziehen. Die moralische Pflichtmäßigkeit besteht aus absoluten, atheoretischen Urteilen. Die Haltung des urteilenden Subjekts muß also der des reinen Beobachters entsprechen oder, wie er mit evidentem Bezug auf Adam Smiths "interesselosen Zuschauer" auch sagt, der des »inneren Zuschauers.« (I, 118, siehe auch X, 338-340) Die praktischen Ideen sind eben Ausdruck von typischen Willensverhältnissen und rufen mit ihrer Beispielhaftigkeit unwillkürliche Urteile der Billigung oder Mißbilligung hervor. Die moralische Pflichtmäßigkeit wird also durch die unmittelbare Notwendigkeit des "ästhetischen" Urteils garantiert, eine Notwendigkeit, die sich den Menschen aufdrängt; eine Notwendigkeit, die aus dem objektiven "Wert" herkommt, der in jenen Urteilen beschlossen liegt, die in ihm ihren Inhalt finden und der stark an den Respekt erinnert, den Kant zufolge das moralische Gesetz unmittelbar und notwendig hervorruft, aber auch an den "ästhetischen Geschmack" der englischen Moralisten. Allerdings sind es nicht die Ideen, welche unmittelbar Gehorsam verlangen; die Pflicht vielmehr, die aus ihnen herkommt, fordert ihn. Das Gebieterische der Pflicht leitet sich eben gerade von der Billigung oder Mißbilligung her, welche die Urteile gegenüber den moralischen Ideen zum Ausdruck bringen, insoweit sie als objektiv gültige und universale anerkannt sind und dies unabhängig von der Befriedigung, die daraus entstehen kann. Ursprünglich jedenfalls ist nicht die Pflicht. Erst wenn man sich seiner eigenen Verpflichtung bewußt wird, indem man einer Richtschnur folgt, hat man es mit dem Begriff der Pflicht zu tun, wodurch man nun wirklich in die Moralität eintritt. Der Begriff der Pflicht kann nicht das erste Fundament der moralischen Wissenschaft sein, denn, wäre dem so, dann müßte eine unmittelbare Sicherheit bestehen für den Wert eines ursprünglichen Befehls. Doch dies ist nicht möglich, denn befehlen bedeutet wollen, und sollte der Befehl einen ursprünglichen Wert haben, dann käme ein Konflikt zwischen den unterschiedlichen Willen auf, wobei die einen untergeordnet, der andere herrschend wäre; doch jedes Wollen ist als Wollen jedem anderen gleich und keines kann sich über das andere erheben. Die Grundlage der Ethik besteht also weder im Begriff der Pflicht noch in dem des Guten und auch nicht in dem der Tugend, sondern einzig in einer spontanen Reaktion gegenüber den jeweiligen Situationen, welche erst in der Folge moralisch wird, wenn man von den reinen ethischen Ideen übergeht zu den moralischen Maximen. Die ethischen Ideen sind also natürlich anerkannte "Werte", die angemessene Handlungen anraten, weil sie ein gemeinsames Gut der menschlichen Natur sind, dem man widerspricht, wenn man nicht gehorcht. Die ursprünglichen praktischen Ideen sind fünf und nicht gegenseitig auseinander deduzierbar; das wahrhaft moralische Urteil muß alle fünf Ideen vereinigen. Keine von ihnen kann isoliert und von den anderen getrennt genommen werden. Die erste praktische Idee ist die »Idee der inneren Freiheit«, die in keiner Weise mit der transzendentalen Freiheit verwechselt werden darf. Es handelt sich vielmehr, wie Herbart schreibt, um »diejenige Freyheit der Wahl, die wir alle in uns finden, welche wir als die schönste Erscheinung unsrer selbst ehren, und welche wir unter den andern Erscheinungen unsrer selbst hervorheben möchten« (I, 261). Herbart zieht also die Beziehung in Betracht, welche die innere Kohärenz bei der Bewertung des Willens betrifft bzw. die Beziehung zwischen dem Willensakt und dem Werturteil. Ihr Zusammenstimmen ist eben die Idee der inneren Freiheit, der innigen und tiefen Einheit der einzelnen Personen mit sich selbst. Dieses Zusammenstimmen ruft unmittelbar Billigung hervor, während im Falle, daß der Wille nicht mit den Forderungen des Werturteils übereinstimmt, sich eine Beziehung einstellt, welche unmittelbar mißfällt. Die zweite praktische Idee ist die »Idee der Vollkommenheit« und sie beschäftigt sich mit den Beziehungen der einzelnen Willensakte untereinander. Die dritte praktische Idee ist die »Idee des Wohlwollens.« Mit dieser Idee befinden wir uns in einer mittleren Stellung zwischen der Betrachtung eines einzelnen Willens und der Beziehung zwischen mehreren Willen. Die Idee des Wohlwollens nämlich setzt einen einzelnen Willen mit einem anderen in Beziehung, insoweit er von jenem vorgestellt wird. Das Wohlwollen besteht somit in der Harmonie des eigenen Willens mit einem anderen, insoweit er vorgestellt wird. Dieses Verhältnis ruft unmittelbar Billigung hervor, während das Gegenteil, d.h. der intentionale Kontrast zwischen zwei Willen mißfällt. Die vierte praktische Idee ist die »Idee des Rechts.« Ein weiteres Mal schwimmt Herbart gegen den Strom, denn er unterscheidet nicht zwischen Moralphilosophie und Philosophie des Rechts; mehr noch, er denkt, daß einige der grundlegenden Fehler der Philosophie des Rechts seiner Zeit eben in dieser Trennung zu suchen seien. Und wir Italiener können davon eine Geschichte erzählen. Das Recht, behauptet Herbart, ist das Zusammenstimmen mehrerer Willen, welches als Regel verstanden wird, um dem Konflikt zuvorzukommen. Die Idee des Rechts hat also die Aufgabe, Kontraste, die zwischen zwei realen, in Beziehung stehenden Willen aufkommen, zu vermeiden oder zu überwinden, wobei beide diese Idee als Einschränkung ihrer Willkür spontan und wie eine Notwendigkeit akzeptieren. Die fünfte und letzte praktische Idee ist die »Idee der Billigkeit.« Wenn in der Idee des Rechts das intentionale Element keine Rolle spielte, so ist es hingegen zentral in der Idee der Billigkeit. Herbart versucht die Notwendigkeit klarzumachen, daß zwischen Schuld und Strafe ein genaues Gleichgewicht herrsche. Durch die fünf praktischen Ideen sind Herbart zufolge alle möglichen Grundverhältnisse zwischen Urteil und Willen nach einer klaren Ordnung bestimmt, die vom Einfachen zum Komplexen aufsteigt. Bisher hat er nur die Verhältnisse des Willens einer und derselben Person oder zwischen einzelnen Personen in Betracht gezogen, doch dies schöpft natürlich die Zahl aller möglichen praktischen Verhältnisse nicht aus. Es müssen nun Strukturen von Verhältnissen zwischen mehreren Willen untersucht werden, zwischen einer unbestimmten Vielheit von vernünftigen Wesen. Dieser Übergang von den einzelnen Individuen zur Gesellschaft hat nach Herbart nicht die Notwendigkeit zur Folge, neue Verhältnisse einzuführen: Alle Grundverhältnisse werden von den ursprünglichen moralischen Ideen ausgeschöpft. Lediglich die Komplexität der Verhältnisse zwischen den verschiedenen Willen ist nun größer, von denen wir annehmen müssen, daß sie sich in einem konstanten Fortschritt hin zu einer immer vollkommeneren Einheit befinden. An diesem Punkt nun führt Herbart die abgeleiteten Ideen ein, die den ursprünglichen Ideen entsprechen – auch sie sind fünf an der Zahl, doch keine Angst, ich habe nicht die Absicht, sie hier aufzuzählen –, auch wenn die von ihm angewandte Darstellung in gewisser Weise der vorhergegangenen gegenüber umgekehrt verfährt. Man muß nämlich bei den letzten beiden Verhältnissen beginnen, welche den anderen gegenüber eine weniger vollkommene Kommunikation zwischen den Willen impliziert, um dann zu einer immer größeren Vollkommenheit emporzusteigen. Was aus der Untersuchung dieses Teils des Herbartschen Werks hervorginge, wäre die Feststellung, daß seine Ethik in einer Philosophie der Gesellschaft mündet. Herbart achtet denn auch immer stark auf die praktische Anwendbarkeit seiner Konzeptionen und ist der Überzeugung, daß eine Theorie der Pflichten einzig in der konkreten Wirklichkeit durchgeführt und auf die Probe gestellt werden könne. Herbarts Ideenlehre ist zum Teil auch scharfen Kritiken unterzogen worden. Schon Hartenstein, einer seiner wichtigsten Schüler, hatte aus der Moral die Idee der Vollkommenheit und die daraus abgeleitete der Kultur ausgeschlossen, weil bei ihnen auf den Grad Bezug genommen wird und das bedeutet auf quantitative Beziehungen ; was Adolf Trendelenburg betrifft, so meinte er, daß alle fünf verworfen werden müßten . Doch auch Paul Natorp wird eine aufmerksame und kritische Analyse der praktischen Ideen Herbarts durchführen . Sicherlich ist dies nicht der richtige Ort, um diese Kritiken im Detail zu untersuchen und um zu bewerten, inwieweit sie zutreffen und noch weniger können wir hier bewerten, ob die praktischen Ideen auch wirklich fünf sein müssen und ob es gerade diese fünf sind. Was mich hier interessiert, ist vielmehr die grundlegende Idee, welche Herbarts Theorie beseelt. Die Idee nämlich, daß unter Beibehaltung des Kantschen Prinzips, daß die ethische Grundlage eine formale zu sein hat, welches, wie wir gesehen haben, auch für Herbart die einzige Garantie für die Allgemeingültigkeit der ethischen Prinzipien darstellt, es trotzdem notwendig sei, typische Prinzipien auszumachen, welche verhindern, daß man sich in der reinen Abstraktion verliere und welche als Model dienen, auf dessen Grundlage die einzelnen Normen und die einzelnen Verhaltensweisen bewertet werden können. Heutzutage sind die Bedingungen wahrscheinlich besser, um befriedigendere Resultate in der Richtung zu erzielen, die von Herbart angezeigt wurde. Die besseren anthropologischen, paleoanthropologischen und ethologischen Kenntnisse, die wir der Epoche gegenüber besitzen, in der Herbart lebte, erlauben es, mit größerer Klarheit das typisch Menschliche jenseits aller geschichtlichen und kulturellen Bedingungen zu bestimmen und es mit mehr Bewußtsein beurteilen zu können. Wir können ja auch gar nicht umhin, vorauszusetzen, daß es Elemente gibt, welche für alle Menschen typisch sind, für den Menschen als homo sapiens. Das Gegenteil vorauszusetzen, nämlich daß die Menschen verschieden sind, hätte von diesem Standpunkt aus (auf welcher Grundlage? Auf der Rasse?) gravierende Folgen. Es wäre leicht nachzuweisen, daß die von mir anfangs zitierten Beispiele in klarem Widerspruch zu Herbarts fünf praktischen Ideen stehen und wahrscheinlich auch zu den Prinzipien, die man mit seiner Methode erarbeiten könnte. Es bleiben natürlich noch viele Probleme offen, die ich hier auch absichtlich aus Gründen der Zeit weglasse. An Stelle all dieser Probleme sei dieses eine genannt: Wie können wir die unmoralischen Verhaltensweisen erklären? Wenn das ethische Urteil unmittelbar Billigung oder Mißbilligung hervorruft, warum verhalten sich die Menschen dann so schlecht? Wenn man Herbarts praktische Philosophie detailliert analysieren würde, dann könnte man entdecken, daß sein Ansatz auch von diesem Gesichtspunkt aus überraschend aktuell und fruchtbar ist. Dies jedoch führte uns zu weit und es ist Zeit, daß ich schließe, denn ich habe Ihre Geduld schon viel zu sehr ausgenutzt.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Der Ministerclub hat neue Gesichter an seiner Spitze – das sorgte in und nach seiner Sitzung für einen neuen Sound. Aber merkte man das auch seinen Beschlüssen an? Von der KMK-Reform über die Lehrkräftebildung bis zu neuen Leitlinien für die Grundschule: ein Überblick.
ES WAR in der Zusammensetzung eine Premiere. Als am Freitagmorgen die Kultusministerkonferenz (KMK) zur Pressekonferenz lud, um wie immer über die Ergebnisse ihrer zu Ende gegangenen Sitzung zu berichten, saß auf dem Podium nicht nur die seit Januar amtierende neue KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot aus dem Saarland, sondern sie war eingerahmt von den ebenfalls neuen Koordinatorinnen. Für die Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung (=A-Seite) Stefanie Hubig aus Rheinland-Pfalz, für die Union (=B-Seite) Karin Prien aus Schleswig-Holstein.
Doch nicht nur das Bild war neu, sondern in Teilen auch der Stil. Wie die drei Ministerinnen sich rhetorisch die Bälle zuspielten, wirkte flüssig, weitgehend ohne Selbstdarstellung und Konkurrenzgehabe, allerdings gelegentlich etwas länglich. Man konnte den Eindruck bekommen: Die Kombination passt, und das könnte sich gerade in diesem Jahr noch als wichtig herausstellen. Denn bis Ende des Jahres müssen zentrale Beschlüsse unter Dach sein, die die Zukunft der föderalen Bildungspolitik, aber auch der KMK selbst, über viele Jahre bestimmen könnten.
Die langfristig womöglich wichtigste Weichenstellung tauchte dabei fast schon unter ferner liefen auf. Es war in Minute 32 der Pressekonferenz, als Hubig mitteilte, in Sachen KMK-Strukturreform hätten die Minister jetzt ein Thema vorgezogen. Die Frage der künftigen Abstimmungsmechanismen in der Kultusministerkonferenz. "Bleiben wir bei dem Einstimmigkeitsprinzip bei den Fragen der Mobilität und in Fragen der notwendigen Einheitlichkeit und haushaltsrelevanten Fragen und solchen, die die KMK betreffen? Oder können wir uns auch einen anderen Abstimmungsmodus vorstellen?" Eine Antwort darauf, "einen Vorschlag", so hätten die Minister beschlossen, soll jetzt die bestehende KMK-Strukturkommission erarbeiten, "auch unter Hinzuziehung juristischer Expertise, externer Expertise, weil das keine einfachen Fragen sind."
Jetzt ist er da, der Mut
Schon die Aussicht, dass sich die Kultusminister dem Thema stellen, ist bemerkenswert, denn über Jahrzehnte haben sie es nicht getan. Dabei gilt das Einstimmigkeitsprinzip seit langem als eine der Haupthürden hin zu einem schlagkräftigeren Bildungsföderalismus. Sie kommt laut KMK-Geschäftsordnung, deren erste Fassung von 1955 stammt, bei so ziemlich allen KMK-Beschlüssen zum Tragen, die Bedeutung haben. Was dazu führt, dass ein Land oder wenige Länder ihnen unangenehme Vorhaben stets blockieren können – mit der Folge, dass ambitionierte Vorhaben meist gar nicht erst in Angriff genommen werden. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum sich bislang keiner an die ebenfalls einstimmig zu behandelnde Reform der Einstimmigkeit gewagt hat.
Aber jetzt ist er da, der Mut. Es gebe gute Gründe für die Einstimmigkeit, sagte Hubig. "Aber es gibt auch gute Gründe zu überlegen, ob wir nicht in bestimmten Bereichen dann doch mal schneller werden können." Und das war's dann auch schon in der Pressekonferenz zu dem Thema, Vorhang wieder runter. Was zeigt, dass gestalterischer Mut manchmal ganz leise daherkommen kann. Und es könnte schnell gehen: Bis Ende des Jahres soll die KMK-Strukturreform insgesamt in allen wesentlichen Punkten aufs Gleis gesetzt sein, dazu dürften dann, wenn denn die Kultusminister unterwegs ihre Courage nicht verlieren, endlich auch Abstimmungsregeln gehören.
So zurückhaltend die Ministerinnen bei der Darstellung dieses so wichtigen Beschlusses waren, so (berechtigt) selbstbewusst zeigten sie sich an anderer Stelle dann doch. "Länder setzen auf innovative Wege zur Bewältigung des Lehrkräftemangels", lautete die Überschrift über eine parallel zur Pressekonferenz verbreiteten Mitteilung – doch bei genauem Hinschauen müssen diese neuen Wege noch warten, und ob sie alle wirklich so innovativ sind, hinterfragen einige Experten.
Doch der Reihe nach. Die KMK habe zusätzliche Maßnahmen in der Lehrkräftebildung beschlossen, reagiere damit auf den anhaltenden Bedarf an Lehrkräften und setze auf eine flexiblere Gestaltung der Lehrkräftebildung, hieß es in der Pressemitteilung. "Dadurch werden zukünftig mehr Lehrende mit unterschiedlichen Biografien unsere Schulen bereichern", sagte KMK-Präsidentin Streichert-Clivot. "Zudem gestalten wir das Studium praxis- und berufsorientierter, indem wir die Studien- und Vorbereitungsdienstphase stärker verschränken. So stellen wir sicher, dass künftige Lehrkräfte frühestmöglich ihr theoretisches Wissen mit praktischen Erfahrungen verbinden können. Der Weg ins Lehramt wird dadurch flexibler und lebensnaher!"
Die Minister wollen unbedingt das duale Lehramtsstudium
Konkret einigten sich die Minister auf ein Papier, das einen gemeinsamen Rahmen für drei Ausbildungsmodelle setzen soll, die zum bestehenden System zusätzlich etabliert werden sollen: duale Lehramtsstudiengänge, Masterprogramm zum Quereinstieg und für die Qualifizierung sogenannter Ein-Fach-Lehrkräfte. Die KMK orientierte sich dabei an Empfehlungen des Wissenschaftsrats und der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK), wobei letztere das duale Lehramtsstudium vor allem im Bachelor explizit abgelehnt hatte.
Erst am Mittwoch hatte die SWK-Kovorsitzende Felicitas Thiel erneut vor der Einführung gewarnt. Ökonomen wiesen zurecht darauf hin, dass eine Senkung der Zugangsanforderungen unweigerlich auch Personen anziehe, die weniger leistungsbereit und weniger motiviert seien, sagte Thiel hier im Blog. Damit sinke das Berufsprestige und im schlimmsten Fall werde der Mangel sogar perpetuiert. "Deshalb müssten wir eigentlich genau das Gegenteil tun: Die Zugangsschwellen erhöhen, Eingangstests vorschalten und attraktive Aufstiegschancen für die besonders Leistungsbereiten eröffnen."
Trotzdem sieht das beschlossene KMK-Konzept nun unter anderem ein duales Studium schon vom Bachelor an vor. Man sei in der Frage "tendenziell eher beim Wissenschaftsrat als bei der SWK", sagte Karin Prien und bestätigte die "Differenzen" in den Gutachten. "Aber auch das ist unsere Aufgabe, die Empfehlungen, die uns geliefert werden, zu bewerten und dann zu einer Entscheidung zu kommen."
Im Gegensatz zum dualen Studium weitgehend unumstritten ist die Einführung von Ein-Fach-Masterprogrammen. Sie ermöglichen nicht nur Absolventen mit einem Studienfach, wissenschaftsbasiert in einem zweijährigen Master aufs Referendariat vorbereitet zu werden, sondern öffnen zugleich einen regulären Weg für ausländische Lehrkräfte, schneller an Schulen in Deutschland zu starten. Denn in den meisten Ländern weltweit sind Ein-Fach-Lehramtsmodelle üblich. Die Weiterbildung mit einem zweiten Fach würde dann berufsbegleitend stattfinden. SWK-Expertin Thiel sagte, der Ein-Fach-Master habe das "Potenzial, ein vollwertiger zweiter Weg ins Lehramt zu werden. Er schafft ein atmendes System, das in Phasen des Lehrkräftemangels wie des Überschusses anpassungsfähig ist." Die Kultusminister geben sich in der Frage bislang zurückhaltender – und betonten auch am Freitag wieder, dass die neuen Zugänge nur "zusätzlich" seien und am bestehenden System nichts ändern sollen.
Kaum mehr als eine Absichtserklärung?
Was die KMK allerdings auf ihre nächste Sitzung verschob: die Klärung der Mobilitätsfragen und damit der gegenseitigen Anerkennung der neuen Angebote. Was bedeutet, dass das beschlossene Papier im Sinne eines länderübergreifenden Vorgehens bislang kaum mehr als eine Stoffsammlung und Absichtserklärung ist. Hubig widersprach einem solchen Eindruck indes auf Nachfrage. "Wir weichen damit von den Regelungen ab, die wir uns als KMK gegen haben, bisher ging das nicht", und der gefundene ländergemeinsame Rahmen sei unabhängig von der Frage der Mobilität.
Tatsächlich unabhängig? Prien versicherte, die Länder seien sich über die Frage der Mobilität "grundsätzlich einig, die Frage ist wie sie ausgestaltet sein wird", und das werde Gegenstand des insgesamt noch zu treffenden rechtlichen Beschlusses zur Lehrkräftebildung sein, der den sogenannten Quedlinburger Beschluss von 2005 ergänzen werde, das werde, habe man jetzt beschlossen, im Juni geschehen.
Dass die KMK-Pressekonferenz 75 Minuten dauerte, hatte auch mit dem dichten Programm zu tun, dass die Ressortchefs absolviert hatten. Neben den aufreibenden Krisentreffen mit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zum Digitalpakt standen Gespräche mit den Botschaftern der Ukraine und Israels auf dem Programm, die Lehrerverbände waren ebenfalls eingeladen – und die Vizepräsidentin der Special Olympics Deutschland: Britta Ernst, bis April 2023 selbst Bildungsministerin in Brandenburg und KMK-Präsidentin im Jahr 2021. Zum zweiten Jahrestag des Ukrainekrieges verabschiedeten die Kultusminister eine Solidaritätserklärung mit der Ukraine, und sie knüpften mit zwei Beschlüssen an ein früheres Reformvorhaben an, die 2020 abgeschlossene "Ländervereinbarung über die gemeinsame Grundstruktur des Schulwesens und die gesamtstaatliche Verantwortung der Länder in zentralen bildungspolitischen Fragen".
Zu den darin festgelegten Hausaufgaben zählte die Überarbeitung der bereits bestehenden gemeinsamen Leitlinien für die Grundschule, die jetzt einen für alle Länder verbindlichen Charakter erhielten und damit laut KMK "einen bundesweit einheitlichen Rahmen für die Arbeit in der Grundschule" darstellen, etwa durch die Festschreibung einer Stundentafel von mindestens 94 Wochenstunden für die Jahrgangsstufen 1 bis 4, wovon die Kernfächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht mindestens 53 Stunden und zudem mindest die Hälfte der Gesamtstunden umfassen müssen – unter anderem eine Reaktion auf das schwache Abschneiden deutscher Schüler in internationalen Schulleistungsvergleichen. Ebenfalls Konsequenz des Länderabkommens von 2020 ist ein Qualitätsrahmen zur laut KMK "kontinuierlichen Verbesserung der Wirksamkeit und der Nachhaltigkeit des Lernens" in Berufsschulen.
Die meisten Prognosen sehen einen anhaltenden Lehrermangel
Während aus SWK und Wissenschaftsrat nach der KMK-Entscheidung zur Lehrkräftebildung zunächst keine offiziellen Äußerungen zu hören waren, sprach der Stifterverband von einem "Meilenstein im Kampf gegen den Lehrkräftemangel". Indem die KMK den Weg freimache für Ein-Fach-Lehrkräfte und duale Studienmodelle, greife sie zentrale Forderungen des vergangenes Jahr vom Stifterverband veröffentlichten "Masterplans Lehrkräftebildung neu gestalten" auf, sagte Bettina Jorzika, die für Lehrkräftebildung zuständige Programmleiterin.
Prognosen zeigten, dass sich der Lehrkräftemangel in den kommenden Jahren weiter verstärken werde und schon im Jahr 2030 bis zu 68.000 Lehrkräfte in den Schulen fehlen würden. "Doch der Wohlstand der Gesellschaft, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und der Zustand unserer Demokratie hängen davon ab, dass mehr Menschen mit den Kompetenzen ausgestattet werden, die gebraucht werden, um in einer Welt im Wandel orientierungs- und handlungsfähig zu sein", sagte Jorzik.
Sie bezog sich offenbar auf Berechnungen des IW Köln. Die KMK selbst erwartet laut aktuellen Modellierungen rechnerisch ebenfalls 68.000 fehlende Lehrkräfte, allerdings bis 2035. Das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (Fiby) sagt bis Mitte der 2030er Jahre sogar eine Lücke von voraussichtlich mindestens 115.000 voraus, "es können aber auch über 175.000 werden".
Gleichzeitig gab es zuletzt auch Stimmen, die ein Abebben des Lehrkräftemangels zumindest im Grundschulbereich erwarten. Für den Zeitraum von 2023 bis 2035 würden bundesweit voraussichtlich 45.800 Grundschullehrkräfte mehr zur Verfügung stehen, als erforderlich wären, um den Unterricht abzudecken, hatte die Bertelsmann-Stiftung im Januar ermittelt. Allerdings mahnten auch die Bertelsmann-Experten, die Ausbildungswege "so flexibel gestaltet sein, dass sie besser auf demografische Schwankungen reagieren können, etwa durch Quereinstiegs-Masterstudiengänge". So könne der schon oft beobachteten Zyklus aus Mangel- und Überschussphasen in der Ausbildung von Lehrer:innen durchbrochen werden.
Hinweis: Dieser Artikel wurde am 17. März 2024 ergänzt.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Es geht so nicht mehr
Dieser Blog hat sich zu einer einschlägigen Adresse der Berichterstattung über die bundesweite Bildungs- und Wissenschaftspolitik entwickelt. Doch wirtschaftlich steht die Idee seiner freien Zugänglichkeit vor dem Scheitern.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Der Wissenschaftsratsvorsitzende Wolfgang Wick schwört Hochschulen und Politik auf Strategien für bundesweit stagnierende Studierendenzahlen ein und hofft auf eine demographische Rendite.
Demnächst mehr freie Plätze? Foto: Michal Jarmoluk / Pixabay.
JEDES JAHR Ende Januar gibt der oder die Vorsitzende des Wissenschaftsrats einen Bericht zu aktuellen Tendenzen im Wissenschaftssystem ab, über den das Gremium anschließend diskutiert. In Dorothea Wagners letzter Bestandsaufnahme Anfang 2023 stand die Frage im Mittelpunkt, ob die Wettbewerbsorientierung in der Wissenschaft an ihre Grenzen gestoßen sei. Wagners Nachfolger Wolfgang Wick, der dieses Jahr zum ersten Mal mit dem Berichten an der Reihe war, widmete sich der Hochschullehre und dem Watershed-Moment, den viele Hochschulen gerade erleben. Es ist die Realisierung, dass die Zeit bundesweit stetig wachsender Studierendenzahlen zu Ende geht. Weshalb Wick zielsicher die passende hochschulpolitische Agenda fürs neue Jahr setzte, indem er von Hochschulen und Hochschulpolitik neue Strategien für den demographischen Wandel forderte.
Wick verweist auf die aktuelle Vorausberechnung der Kultusministerkonferenz (KMK), dass die Zahl der Studienanfänger deutschlandweit wohl spätestens von 2027 an für einen längeren Zeitraum stagnieren wird. Tatsächlich gingen die Erstsemesterzahlen zwischen 2018 und 2021 sogar über mehrere Jahre zurück, doch schien das kaum einer wahrzunehmen, solange die Gesamt-Studierendenzahlen noch von Rekord zu Rekord jagten. Obwohl es eine mathematische Gewissheit war, dass letztere mit zeitlicher Verzögerung ersteren folgen würden. Im Wintersemester 2022/23 war es dann soweit. Die Gesamtzahl der Studierenden in Deutschland sank zum ersten Mal seit 2007, im Wintersemester 2023/24 ging es weiter runter auf zuletzt 2,871 Millionen. Was allerdings immer noch satte 850.000 mehr waren als 20 Jahre zuvor und der Einbruch teilweise pandemiebedingt. So dass es bei den Erstsemestern – wenn auch nur leicht – die vergangenen beiden Jahre sogar schon wieder aufwärts ging.
Wie ein Luftholen von der scheinbar ewig laufenden Bildungsexpansion
Insofern fühlte sich der demographische Wandel an vielen Hochschulen vor allem in den westdeutschen Metropolen bislang allenfalls wie ein Luftholen von der scheinbar ewig laufenden Bildungsexpansion an. Das zu Recht von Wolfgang Wick angemahnte strategische Umdenken mag gerade dort noch aus anderen Gründen schwer fallen: Die Rektorate und Präsidien haben bis zur Pandemie die Erfahrung gemacht, dass die Zahl der Neuimmatrikulationen die mutigsten Prognosen von Hochschulforschern immer aufs Neue übertrafen. Und auch jetzt ist ja nicht von einem weiteren starken Rückgang die Rede, sondern von einer Stagnation auf hohem Niveau.
Absehbar ist zudem, auch das führt der Wissenschaftsratsvorsitzende, aus, dass diese bundesweite Entwicklung sich je nach Region und Disziplin in ein deutliches Minus oder gar ein weiteres kräftiges Plus bei den Studierenden übersetzt (siehe hierzu auch meinen Bericht von Ende November 2023). Weshalb, so Wick, die Hochschulen individuelle, "maßgeschneiderte" Strategien entwickeln müssten. Sehr viele ostdeutsche Standorte und auch etliche westdeutsche sind, nebenbei bemerkt, den Umgang mit dem Schrumpfen schon länger gewöhnt.
Von ihnen können die erstmals seit langem mit Rückgängen konfrontierten Einrichtungen viel lernen. Dabei bietet sich ihnen zumindest auf den ersten Blick eine große Gelegenheit: "Die Hochschulen bekommen die Chance, Fehlentwicklungen der Wachstumsperiode zu korrigieren, die Qualität der Lehre zu verbessern, den Anteil erfolgreicher Abschlüsse zu steigern und die Digitalisierung voranzutreiben", sagt Wolfgang Wick.
Womit die große Gelegenheit übrigens auch auf Seiten der jungen Menschen liegt. Denn wenn die Studierenden nicht mehr Schlange stehen vor den Immatrikulationsbüros, müssen sich die Hochschulen mehr einfallen lassen, um sich neue Zielgruppen zu erschließen und alte Zielgruppen im Studium zu halten: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern zum Beispiel, Berufstätige, Einwanderer und internationale Studierende. Die erstaunliche Erfolgsgeschichte privater Hochschulen in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren erklärt sich zu einem großen Teil erst dadurch, dass viele ihrer staatlichen Pendants ihren Fokus auf dem vermeintlichen "Normstudenten" hatten.
"Small is beautiful, too", findet der Vorsitzende
Auf den zweiten Blick ist das mit der großen Gelegenheit für alle Beteiligten allerdings so eine Sache – womit auch erklärbar wird, warum vielerorts gerade nicht das große Jubeln ausbricht. Denn die Hochschulfinanzierung läuft in den meisten Fällen hauptsächlich über die Zahl der Köpfe. Werden die weniger, stehen sie dann eben nicht der gleichen Menge an Geld gegenüber, die Hochschulen müssten Personal abbauen, und es wäre wenig bis nichts gewonnen. Erst recht, wenn dann auch noch einseitig bei den Fächern und Standorten eingespart würde, die gerade weniger am Arbeitsmarkt gefragt sind. Bei Wick hört sich diese Warnung so an: "Wir dürfen nicht aufgrund von Nachfrageschwankungen Fächer und Institute kaputtsparen, die wir später nur langwierig und mit hohen Kosten wieder aufbauen müssen."
Immerhin: Andere Finanzierungslogiken sind in der Hochschulpolitik in Ansätzen längst installiert. So haben Bund und Länder den gemeinsamen Hochschulpakt 2020, einst geschlossen, um die hunderttausenden zusätzlichen Erstsemester abzufangen, nach seinem Auslaufen in den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" transformiert, der die Finanzierung allmählich von der Zahl der Erstsemester unabhängiger macht. Auf Anraten des Wissenschaftsrats. Zuletzt einigten sich Bund und Länder sogar noch darauf, die Zukunftsvertrags-Ausgaben pro Jahr um drei Prozent zu erhöhen – unabhängig von der Studierendenzahl.
Wolfgang Wick postuliert in seinem jährlichen Bericht denn auch ganz grundsätzlich: "Small is beautiful, too." Eine Hochschule, die weniger Studierende aufnehme und diese dafür besser betreue, müsse belohnt und nicht durch Stellenabbau bestraft werden. Eine ähnliche Hoffnung wurde in der Schulpolitik einst unter dem Stichwort "demographische Rendite" diskutiert: Bis in die Zehnerjahre hinein rechnete man dort mit bald sinkenden Schülerzahlen und appellierte an die Politik, die bisherigen Bildungsausgaben trotzdem beizubehalten – der Qualität zuliebe. Aus den sinkenden Schülerzahlen wurde dann übrigen nichts. Mal sehen, wie es sich mit der von der KMK prognostizierten Stagnation bei den Studierendenzahlen verhalten wird.
Entscheidend für die Durchschlagskraft von Wicks Appell wird freilich sein, dass er nicht nur von den Wissenschaftsministern ernstgenommen und beklatscht wird, die – mit Ausnahme von Hamburgs Finanzssenator (derzeit Andreas Dressel) – die Länderseite im Wissenschaftsrat vertreten. Vielleicht hilft bei der Vermittlung Richtung Haushaltspolitiker und Regierungschefs, dass seit April 2022 mit Jakob von Weizsäcker aus dem Saarland immerhin ein Landeswissenschaftsminister auch das Finanzressort verantwortet. Umgekehrt intensivieren gerade verschiedene Landesregierungen die Suche nach jeder sich auftuenden Sparmöglichkeit – oder streiten darüber (jüngstes Beispiel: Berlin). Eine aus Sicht vieler Hochschulen unschöne Koinzidenz mit der erwarteten Entwicklung der bundesweiten Studierendenzahlen.
Was der Wissenschaftsrat zu Brandenburgs Hochschulsystem und zum neuen Max-Planck-Institut "caesar" sagt
In seiner Wintersitzung beschloss der Wissenschaftsrat auch seine Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Hochschulsystems des Landes Brandenburg. Zuvor hatte das Gremium auf Bitten von Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) eine umfangreiche Begutachtung durchgeführt und dessen Ergebnisse auf über 600 Seiten dargestellt. Insgesamt erhielten dabei die Hochschulen recht viel Lob für ihre positive Entwicklung und die ihre Rolle beim gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Auch das Land kam gut weg: Es habe mit seinem finanziellen und politischen Engagement dazu beigetragen, die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Hochschulen zu steigern und Transfer, Digitalisierung sowie Qualitätssicherung zu stärken.
"Das Land sollte sein finanzielles Engagement fortsetzen und gemeinsam mit den Hochschulen Maßnahmen ergreifen, um die Qualität von Forschung und Lehre weiter zu verbessern und Herausforderungen zu begegnen, wie der an einigen Standorten rückläufigen Studierendennachfrage, dem Fachkräftemangel oder der Bildung kritischer Massen in der Forschung an den überwiegend kleinen Hochschulen", sagte der Vorsitzende Wolfgang Wick. Außerdem sollte das Wissenschaftsministerium seine Finanzierungs- und Steuerungsarchitektur vereinfachen, die Forschungsförderung stärker an den Stärken der Hochschulen ausrichten und zugleich die kooperative Spitzenforschung stärken.
Den Hochschulen empfahl der Wissenschaftsrat unter anderem, sich stärker überregional zu profilieren, ihre Kooperationen untereinander, mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aber auch mit Akteuren außerhalb der Wissenschaft auszubauen. Mit innovativen Ansätzen in Studium und Lehre sollten sie dem Rückgang der Studierendenzahlen entgegenwirken und besser auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Studierenden eingehen.
Der Wissenschaftsrat lobte die Strategie der Landesregierung, den Strukturwandel in der Region Cottbus mithilfe der Bundesgelder aus dem Strukturstärkungsgesetz für die Kohleregionen wissenschaftspolitisch zu gestalten. Die aus der Fusion einer Universität mit einer Fachhochschule entstandene BTU Cottbus-Senftenberg müsse forschungsstärker werden und sich auch, um attraktiver für Studierende zu werden, zu einer reinen Universität entwickeln. Ein besonderes Lob erhielt die Universität Potsdam, die durch die Einwerbung kompetitiver Forschungsprojekte und die intensive Zusammenarbeit mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen überzeuge. Angesichts der geplanten Neugründung einer medizinischen Universität in Cottbus forderte der
Wissenschaftsrat eine enge Kooperation mit der BTU und die Auflösung der hochschulübergreifenden Fakultät für Gesundheitswissenschaften.
BTU-Präsidentin Gesine Grande sagte laut Research.Table, bei den Studierenden scheine die Trendwende bereits geschafft und mit rund 40 Prozent internationalen Studierenden sei man sogar Vorreiter. Die Forderung des Wissenschaftsrats, eine reine Universität zu werden, begrüßte sie, weil das derzeit noch 18 Semesterwochenstunden umfassende Lehrdeputat der ehemaligen FH-Kollegen diesen kaum Potenziale in der Forschung ermöglichten.
Wissenschaftsministerin Schüle kommentierte: "Wir sind auf dem richtigen Weg." Brandenburgs Wissenschaftslandschaft habe sich in den vergangenen Jahren exzellent entwickelt. "Zusammen müssen wir innovative Wege gehen, indem unsere Hochschulen noch klarere Profile entwickeln und Kooperationen weiter ausbauen sowie noch stärker auf Studienerfolg, auf durchlässige Bildungswege und auf gute Integration internationaler Studierender setzen." Man werde die Empfehlungen jetzt gemeinsam mit den Hochschulen auswerten. "Für das Land kann ich schon jetzt versprechen: Wir werden auch die Punkte angehen, die für das Ministerium unbequem sind."
Der Wissenschaftsrat nahm außerdem zur Eingliederung des Bonner Forschungszentrums "caesar" in die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) Stellung. Er sehe darin einen folgerichtigen Schritt für die Sicherung der Zukunft caesars. Die wissenschaftliche Verantwortung des heutigen "Max-Planck-Instituts für Neurobiologie des Verhaltens – caesar" habe bereits seit über 15 Jahren bei der MPG gelegen. "Durch die Integration übernimmt die MPG nun sowohl die rechtliche als auch die finanzielle Gesamtverantwortung."
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat den Wissenschaftsrat 2021 gebeten, den Eingliederungsprozess begleitend zu evaluieren. Dabei sollte allerdings keine inhaltliche Bewertung der wissenschaftlichen Qualität des "caesar" vorgenommen werden.
Um das "caesar" hatte es im Vorfeld der Eingliederung heftige Vorwürfe des Bundesrechnungshofs gegeben. Das BMBF wolle Stiftungsgelder in dreistelliger Millionenhöhe am Parlament vorbei an die Max-Planck-Gesellschaft übertragen. MPG und Ministerium widersprachen. Der Bundestag hatte der Eingliederung dann zwar zugestimmt, aber strenge Auflagen gemacht.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Welche guten Nachrichten ich in Sachen Blogfinanzierung habe, warum ich weiter dringend Ihre Unterstützung brauche – und welche Artikel im Dezember am meisten gelesen wurden.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Wie steht es um die Freiheit des Wortes in der Wissenschaft? Wo liegen die Grenzen? Ihr Umgang mit dieser Frage hat zwei Uni-Präsidentinnen in den USA den Job gekostet. Doch die Folgen und Implikationen reichen tiefer und bis nach Deutschland.
Campus der Harvard University in Cambridge, USA. Foto: giggel, CC BY 3.0 / Wikimedia Commons.
EINEN TAG nachdem Claudine Gay Anfang Januar von ihrem Amt als Harvard-Präsidentin zurückgetreten war, veröffentlichte sie in der "New York Times" einen Meinungsbeitrag. Ja, sie habe Fehler gemacht, schrieb sie. Doch in der Kampagne gegen sie sei es in Wirklichkeit um mehr gegangen als eine Universität oder eine Unipräsidentin. "Nur ein Scharmützel in einem größeren Krieg" sei das gewesen, "der zum Ziel hat, das öffentliche Vertrauen in tragende Säulen der amerikanischen Gesellschaft zu zerstören."
Sie hoffe, mit ihrem Rücktritt hindere sie Demagogen daran, ihre Präsidentschaft weiter als Waffe einzusetzen in ihrer Kampagne, die Ideale zu unterminieren, die Harvard seit seiner Gründung ausmache: "Exzellenz, Offenheit, Unabhängigkeit, Wahrheit."
Waren das mehr als Schutzbehauptungen? Sind die Universitäten in den USA tatsächlich Geisel eines Kulturkampfes von rechts? Und zeichnen sich in Deutschland vielleicht längst ähnliche Entwicklungen ab?
Die fast unbedingte Freiheit des Wortes
Alles hatte damit begonnen, dass Gay und zwei weitere Präsidentinnen von US-Eliteuniversitäten im Dezember auf Initiative der Republikaner vor dem Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses Stellung nehmen sollten zu sich häufenden antisemitischen Vorfällen auf dem Campus.
Befragt von der Ex-Präsident Trump nahestehenden republikanischen Abgeordneten Elise Stefanik, ob der Aufruf zum Völkermord an den Juden gegen universitäre Richtlinien zu Mobbing und Belästigung verstoße, antwortete Gay zweimal, das sei möglich, hänge aber vom Kontext ab. Die Präsidentin des Massachusetts Institute of Technology (MIT), Sally Kornbluth, stimmte Gay zu, ebenso ihre Kollegin von der University of Pennsylvania, Liz Magill: "Wenn das Reden in ein Verhalten übergeht, kann es sich um Belästigung handeln."
Die öffentliche Empörung war gewaltig. Magill trat schon wenige Tage später zurück, nachdem mit Verweis auf ihre Äußerungen unter anderem ein Geldgeber eine 100-Millionen-Spende an die University of Pennsylvania zurückgezogen hatte. Gay hielt sich zunächst im Amt, doch gingen kurz nach ihrem Auftritt im US-Kongress mehrere Plagiatsvorwürfe online. Eine unabhängige Prüfung bescheinigte Gay unzureichend kenntlich gemachte Zitate, aber kein wissenschaftliches Fehlverhalten. Den Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses hinderte dies nicht daran, mit republikanischer Mehrheit eine eigene Untersuchung einzuleiten.
Als Gay schließlich ihren Rücktritt bekannt gab, postete Elise Stefanik auf "X": "Two Down. One to Go." Und die Wall-Street-Größe Bill Ackmann, Harvard-Absolvent und Großspender, kündigte an, die wissenschaftlichen Arbeiten aller MIT-Angehörigen, inklusive Präsidentin Kornbluth, per KI auf Plagiate zu untersuchen.
"Natürlich ist das ein Angriff von rechts", sagt der deutsche Ökonom Rüdiger Bachmann von der University of Notre Dame im US-Bundestaat Indiana. "Schon Elise Stefanik hatte es darauf angelegt in ihrer Befragung."
Gay, erst seit vergangenem Sommer im Amt, war die erste afroamerikanische Harvard-Präsidentin. Sie stand als Sinnbild für die Bestrebungen führender US-Universitäten, sich auch in ihren Führungsstrukturen diverser aufzustellen. Das gehe auf Kosten der akademischen Exzellenz, kam umgehend als Vorwurf von rechts.
Der Freiheitsindex
Umgekehrt, sagt Bachmann, führten solche Attacken angesichts der Machtverhältnisse an den linksliberalen US-Universitäten nur dann zu Rücktritten, wenn die tatsächlichen Verfehlungen tatsächlich schwerwiegend genug seien. "Diese Mischung aus Hilflosigkeit, Unprofessionalität, fehlendem Vorbereitetsein und Arroganz, die alle drei Präsidentinnen bei der Anhörung zeigten, war schon dramatisch." Die an sich nicht so gravierenden Plagiatsvorwürfe seien bei Gay noch dazugekommen.
Die Politologin Katrin Kinzelbach von der Universität Erlangen-Nürnberg war im Oktober, kurz nach dem Hamas-Angriff, in Harvard. Mit Wissenschaftlerkollegen erstellt die Politologin jährlich einen aktualisierten "Academic Freedom Index" (AFI). Dieser soll den Grad der Wissenschaftsfreiheit weltweit beziffern. Zur Wissenschaftsfreiheit diskutierte Kinzelbach auch in Harvard. Sie sei erschrocken gewesen, "mit welcher Nonchalance bestimmte Gruppen israelfeindliche Inhalte vertraten, ohne jede Verurteilung der Hamas-Verbrechen", und wie umgekehrt öffentliche Namenslisten kursierten, die Studierende als Antisemiten brandmarkten. Man müsse aber bedenken, dass "das Verständnis von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in den USA ein unbedingteres" sei als "bei uns". Es gebe hier "fast keine Grenzen". Die Überzeugung auch der meisten Wissenschaftler laute: "Absolute Redefreiheit ist die Voraussetzung von Demokratie."
So habe der Supreme Court schon 1969 mit Berufung auf den ersten Verfassungszusatzartikel festgehalten: "Jede Meinungsäußerung ist erlaubt, nur die Anstachelung zur unmittelbaren Gewalt nicht." Genau vor diesem Hintergrund müsse man dann auch die "Kontext"-Aussagen der Uni-Präsidentinnen vor dem Bildungsausschuss sehen. "Sie sind ein Skandal, aber die Präsidentinnen wollten sich offenbar nicht Vorwürfen aussetzen, sie würden die freie Rede beschränken."
An der Stelle, sagt Bachmann, seien die Präsidentinnen allerdings einem Irrtum aufgesessen: "Ausschlaggebend ist an privaten Hochschulen nicht der Erste Zusatzartikel der Verfassung, sondern der sogenannte Civil Rights Act." Der besage: Wenn eine Hochschule von der Regierung Fördergelder beziehe, "hat sie die Verpflichtung, gegen belästigende Hassreden auf dem Campus vorzugehen".
Trumpistische Aneignung
So oder so ist es vielleicht das größte Paradoxon der Causa Gay: Normalerweise sind es in den USA Republikaner und Trumpisten, die zwar selbst etwa die Evolutionstheorie aus Schulbüchern tilgen, "alternative Fakten" propagieren oder Gendertheorien in Uni-Pflichtkursen verbieten, gleichzeitig aber mit großem medialen Erfolg linksliberalen Akademikern eine Verengung des Meinungsspektrums vorwerfen. Schlagworte: "Politische Korrektheit" oder "Wokeness", Motto: Ideologie statt Exzellenz.
Doch diesmal erregten sie sich über das genaue Gegenteil: über die fehlende Positionierung führender Hochschulrepräsentantinnen. Sie taten es in diesem Falle sogar mit Recht, aber eben doch auch mit klarer politischer Agenda.
Was bedeutet all das für die Wissenschaftsfreiheit in den USA? Der "Academic Freedom Index" sei für die USA in den vergangenen zehn Jahren "signifikant abgerutscht", sagt Kinzelbach, "bewegt sich aber immer noch auf hohem Niveau". Der Konsens, dass sich der Staat nicht einmischen dürfe in akademische Belange, sei dort weiter sehr stark. Private Geldgeber aber hätten einen großen, teilweise problematischen Einfluss. Bachmann sagt: Gerade weil die meisten US-Spitzenunis privat seien, hätten Politiker keine direkte Durchgriffsmöglichkeit, "selbst dann nicht, wenn Trump ein protofaschistisches Regime etablieren würde, zumal die staatlichen Universitäten alle in der Hand der Bundesstaaten sind".
Tribalismus? Polarisierung?
Die wirkliche Gefahr, sagt Bachmann, sei der zunehmende Tribalismus, "wenn sich jetzt auch Leute aus dem linksliberalen Spektrum plötzlich eines Orwell’schen Neusprechs (der Begriff stammt aus George Orwells Roman '1984', in dem politisch umgestaltete Sprache zum Ausdruck gleichgeschalteten Denkens wird) bedienen, um Gay im Amt zu halten, obwohl sie nicht im Amt zu halten war".
Wenn etwa, wie das Magazin The Atlantic kritisierte, Unterstützer Gays fehlende Zitatkennzeichnungen als "technical attribution issues" redefinierten oder als "repeating banal phrases". Wobei die Klimaaktivistin Genevieve Guenther, von der letztere Aussage stammte, "The Atlantic" prompt vorwarf, sie absichtlich verfälscht wiedergegeben zu haben.
So oder so, fügt Bachmann hinzu, habe der Polarisierer Trump angesichts einer solchen Debatte schon gewonnen, "selbst wenn er am Ende nicht erneut Präsident würde, sondern ins Gefängnis müsste".
Lektionen für Deutschland
Der Amerikanist Martin Klepper von der Berliner Humboldt-Universität sagt, er würde eher von Polarisierung als von Tribalismus sprechen, aber auch er meint: "Wenn selbst in der Wissenschaft inzwischen manche finden, sie müssten eine Seite wählen und deren Angehörige um jeden Preis in Schutz nehmen, ist ganz viel verloren."
Und in Deutschland? Auch wenn der Fall Gay zuerst von den persönlichen Umständen zu beurteilen sei: "Es ist gut, wenn wir in Deutschland genau hinschauen, was da in den USA gerade passiert, und, wo möglich, daraus lernen", sagt Lambert Koch, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV). Es gebe Entwicklungen, die "hier wie dort" in eine gefährliche Richtung wiesen.
Die größte Gefahr sei, dass die Hochschulen einer immer stärkeren Politisierung ausgesetzt würden. "Wissenschaft lebt von dem Mut und der Unverstelltheit eines lebendigen Diskurses um des Findens neuer Erkenntnisse und Wahrheiten willen." Dazu brauche es wissenschaftlich unangreifbares Führungspersonal und einen Vorschuss an Vertrauen. Und man müsse "einander auf der Grundlage wissenschaftlicher Methoden korrigieren können, ohne dass dies zu Aggressionen oder politischen Zerwürfnissen führt".
Stimmenfang mit Anti-Gendern
Martin Klepper sagt, in Deutschland sei die Wissenschaft im guten wie im schlechten Sinne noch abgeschotteter als in den USA. "Sie ist stärker auf sich selbst bezogen, sie bestimmt nicht in vergleichbarem Maße öffentliche Diskurse mit." Das bringe sie "natürlich auch seltener ins politische Fadenkreuz". Allerdings ändere sich dies allmählich. Ein Beispiel seien die Gender Studies, deren Gegner ebenfalls mit persönlichen Diffamierungen arbeiteten. "Und die Politik geht mit politisch fragwürdigen Verboten von Gendersternchen auf Stimmenfang." Mehr als rechte Kampagnen sorge ihn allerdings derzeit, dass die Politik in die Universitäten hineinregulieren könnte, etwa in Form einer Bekenntnisklausel gegen Antisemitismus, wie sie bereits in der Berliner Kulturszene etabliert worden sei.
Insgesamt aber, sagt Katrin Kinzelbach, belegten alle seriösen Daten, dass in Deutschland ein sehr hohes Maß an Wissenschaftsfreiheit herrsche. "Diesen Befund kann man natürlich angreifen, etwa mit dem Narrativ, man könne sich an den Hochschulen zu bestimmten Themen nicht mehr frei äußern." Das sei zwar "selbst in den USA absurd". Doch wenn man solch ein Narrativ oft genug wiederhole, werde es irgendwann zu einer "erlebten Wahrheit".
In der Corona-Zeit mussten Wissenschaftler in Deutschland bereits teilweise massive persönliche Anfeindungen und Angriffe aushalten, besonders aus rechtspopulistischen Kreisen, sagt Bachmann. Manche Fachleute hätten sich nach solchen Erfahrungen weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Der deutschen Wissenschaft stehe die echte Bewährungsprobe vielleicht erst noch bevor, "wenn die AfD die prognostizierten großen Wahlerfolge feiert".
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jedenfalls hat die "Freiheit" zum Thema des Wissenschaftsjahres 2024 gemacht. Das Grundgesetz gewährt den Menschen seit fast 75 Jahren umfassende Freiheitsrechte. Doch diese Freiheit stehe unter Druck. "Das Wissenschaftsjahr 2024 richtet daher ein ganzes Jahr lang seinen Fokus in unterschiedlichen Formaten der Wissenschaftskommunikation auf die Freiheit", heißt es beim BMBF. Man wolle den Dialog über Freiheit fördern, hieß es schon in der Projektausschreibung, "sowohl innerhalb als auch zwischen Gesellschaft und Wissenschaft".
Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
Brandbriefe aus Jerusalem
Israels Hochschulleitungen fordern Solidarität von ihren Kollegen aus aller Welt – und kritisieren ausgerechnet die US-Eliteunis Harvard und Stanford scharf. (17. Oktober 2023)
Die richtigen Worte finden
Wie gehen Deutschlands Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen mit dem Nahostkonflikt um? Wie mit Antisemitismus und einer extrem aufgeheizten politischen Stimmungslage? Eine Analyse. (07. Dezember 2023)
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Welche guten Nachrichten ich in Sachen Blogfinanzierung habe, warum ich weiter dringend Ihre Unterstützung brauche – und welche Artikel im Dezember am meisten gelesen wurden.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Wie gehen Deutschlands Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen mit dem Nahostkonflikt um? Wie mit Antisemitismus und einer extrem aufgeheizten politischen Stimmungslage? Eine Analyse.
"AN DEUTSCHEN HOCHSCHULEN ist kein Platz für Antisemitismus", sagte Walter Rosenthal, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) am Tag nach der HRK-Mitgliederversammlung Mitte November 2023. Die Hochschulen müssten Orte sein, an denen sich Jüdinnen und Juden wohl und sicher fühlen können, "ohne Wenn und Aber". Die Erklärung, die Rosenthal diesmal im Namen aller HRK-Mitgliederhochschulen abgab, war nicht seine erste, und sie kam fünf Wochen nach dem Terrorangriff auf Israel.
Dennoch kam sie genau zum richtigen Zeitpunkt. Denn seit Hamas-Terroristen am 7. Oktober die Grenzanlagen überwunden und wahllos Männer, Frauen und Kinder misshandelt und ermordet und rund 240 Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt hatten, war viel passiert. In Israel, im Gazastreifen, aber auch auf dem deutschen Hochschulcampus. Die HRK zählt auf: "Unverhohlene Drohungen mit körperlicher Gewalt, das Anbringen von Plakaten oder Graffiti sowie Kundgebungen, die den Terror der Hamas gutheißen, die Opfer ausblenden oder aufrechnen, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen und Jüdinnen und Juden insgesamt angehen und einschüchtern sollen".
Erste Einigkeit bröckelte schnell
Dabei hatte es direkt nach den Hamas-Verbrechen so ausgesehen, als würde Deutschlands Wissenschaftscommunity in großer Einigkeit reagieren. Vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) über die Allianz der Wissenschaftsorganisationen bis hin zu Studierendenverbänden und Hochschulen überall im Land: Die Verurteilungen der Untaten waren fast immer ohne Zögern und Relativierungen, unmissverständlich, mitfühlend und zugleich kämpferisch ausgefallen. "Wir stehen solidarisch an der Seite des Staates Israel. Wir gedenken der Israelis und der Menschen aus aller Welt, die dem Terror der Hamas zum Opfer gefallen sind. Unser Mitgefühl gilt ihren Familien und Freunden, insbesondere auch unseren Kolleginnen und Kollegen an den israelischen Universitäten und am Weizmann Institute of Science", schrieben etwa Max-Planck-Gesellschaft und Minerva-Stiftung am 11. Oktober 2023. "Sehr klar" und "außergewöhnlich" nannte denn auch etwa die Vizepräsidentin für Internationales der Universität von Tel Aviv, Milette Shamir, im Research.Table die deutschen Reaktionen.
Während die Hochschulleitung der Hebräischen Universität in Jerusalem den amerikanischen Elite-Unis Stanford und Harvard vorwarf, diese hätten "uns im Stich gelassen". Die ersten Erklärungen der beiden US-Universitäten hätten trotz der extremen Immoralität der Hamas-Terrorakte nicht klar Täter und Opfer benannt. Das Ziel, eine geschlossene Hochschul-Gemeinschaft zu erhalten, sei von Stanford und Harvard über die eindeutige Verurteilung des Bösen gestellt worden, so der Vorwurf aus Jerusalem.
Weitere Aufregung verursachte ein Brief des studentischen "Harvard Undergraduate Palestine Solidarity Committee", demzufolge allein das "israelische Regime" mit seinem "Apartheid"-System die Verantwortung trage für alle kommende Gewalt. 33 weitere Harvard-Studierendengruppen setzten ihre Unterschrift darunter. Woraufhin unter anderem der frühere US-Finanzminister und ehemalige Harvard-Präsident Larry Summers auf der Plattform "X", vormals Twitter, kommentierte, dieses Statement mache ihn krank: Das "Schweigen der Harvard-Leitung" verbunden mit dem Brief der Studierenden sorge dafür, dass Harvard "bestenfalls neutral" dastehe angesichts der "Terrorakte gegen den jüdischen Staat Israel".
Den richtigen Ton treffen
Es sollte nur ein paar Tage länger dauern, bis die Auseinandersetzungen um die Einordnung der Ereignisse in Israel und Gaza dann doch die deutsche Wissenschaft erreichten. So löschte die Hochschule Düsseldorf (HSD) Mitte Oktober 2023 einen Instagram-Beitrag, in dem sie ihre Solidarität mit Israel erklärt hatte, nachdem die antisemitischen Kommentare darunter überhandnahmen. In einer neuen Version, diesmal ohne Kommentarfunktion, sprach die Hochschule dann von einer politischen Diskussion, die zum Teil "in Ton und Inhalt nicht angemessen war". Der Post sei so verstanden worden, "dass nur das Leid der Menschen in Israel gesehen wird. Aber die HSD steht selbstverständlich an der Seite aller Opfer von Krieg und Gewalt." Ein Schritt hin zur nötigen Ausgewogenheit – oder das Einknicken vor dem Mob?
Fest steht: In den Chef*innen-Etagen vieler deutscher Wissenschaftseinrichtungen war in den vergangenen Wochen die Sorge groß, nicht den richtigen Ton zu treffen. Man möchte in der jetzigen politischen Lage alles richtig machen, aber was heißt das? Das Ergebnis waren mitunter gleich klingende, schablonenhaft ähnliche Formulierungen.
Eine blutige Nase wiederum holte sich der Potsdamer Universitätspräsident Oliver Günther, als er – nach einem ersten sehr klaren Solidaritätsstatement zugunsten Israels – einen verunglückten Versuch der vermeintlichen Differenzierung unternahm. Günther kritisierte die durch die israelische "Besetzung verursachten prekären und teilweise menschenunwürdigen Lebensumstände weiter Teile der palästinensischen Bevölkerung" und fügte hinzu: "Offensichtlich ist auch, dass sich diese Probleme nicht durch eine aggressive Siedlungspolitik und Schikanen gegen die Zivilbevölkerung – schlicht: Gewalt jeglicher Art lösen lassen. Ganz im Gegenteil führen solche Maßnahmen, wie wir vor wenigen Tagen gesehen haben, nur zu mehr Gewalt." Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) kommentierte flugs im Berliner Tagesspiegel: "Was Israel in diesen schweren Stunden nicht braucht, sind Schuldzuweisungen, Belehrungen, Relativierungen oder gar Versuche einer Täter-Opfer-Umkehr ausgerechnet aus Deutschland."
Trauerfeier eskaliert
Besonders eindrücklich sind die Ereignisse, die sich in den vergangenen Wochen an der Universität Kassel zugetragen haben. Ein autonomes AStA-Referat hatte einen Film zeigen wollen, der ausschließlich Position für Palästina ergreift. Was die Hochschulleitung um Unipräsidentin Ute Clement untersagte. Als wenig später die Jüdische Hochschulunion einen Stand auf dem Campus aufbaute, inklusive Israel-Flagge, kochte die Stimmung hoch. Umso mehr, als bekannt wurde, dass ein früherer Kasseler Student mitsamt seiner Familie im Gazastreifen getötet worden war, laut "Palestinian Lives Matter" bei einem israelischen Angriff.
Clement erlaubte eine Trauerfeier auf dem Campus unter der Auflage, sie nicht zu einer politischen Kundgebung zum Konflikt zwischen Israel und Palästina zu missbrauchen. Clement hielt sogar eine Rede. "Zuerst sah es so aus, als würde es eine würdige Veranstaltung bleiben, dann wurde sie aber doch gekapert." Ihre Palästinensertücher hatten Teilnehmer nach Aufforderung der Unipräsidentin während deren Trauerrede noch abgenommen. Als dann Redner doch gegen Israel zu agitieren begannen, stellte Clement das Mikrofon ab. Später erklärte die Hochschulleitung, sie sehe ihr "Vertrauen missbraucht".
"Morgens, mittags und nachts", denke sie seitdem über sie Situation nach, sagt Clement, ihr sei dabei immer klarer geworden: Es gebe bei dem Thema in Deutschland ein Schisma, auch an den Hochschulen. "Da sind Menschen meiner Generation, etwas jünger und älter, die alle ihr Leben lang gesagt haben: Nie wieder. Und die jetzt fassungslos vor dem stehen, was Juden in Israel und anderswo geschieht. Und da sind viele Studierende und Angehörige der jungen Generation, viele mit arabischen Wurzeln, aber nicht nur, die das für einseitige Parteinahme halten und das Gefühl haben, ihre Stimme werde in dem Konflikt nicht gehört. Die uns Älteren, die wir an das Existenzrechts Israels als deutsche Staatsräson glauben, vorwerfen, wir würden in unserem Rassismus nicht das Leid der getöteten Kinder in Gaza und anderswo sehen.“
Sie sei erschrocken über solche Wahrnehmungen, sagt Clement, aber es sei wichtig, ihnen einen Rahmen zu geben, um Radikalisierungen zu verhindern. "Genau das sehen wir als Hochschulleitung jetzt als unsere Aufgabe: eine gewaltfreie Debatte ermöglichen, die auf der Grundlage von Argumenten und Fakten stattfindet." Weshalb sie auf dem Zentralcampus jetzt zwei Banner aufgehängt haben, auf Deutsch und auf Englisch, mit den Grundsätzen, die für alle gelten sollen. Unter anderem steht da: "Klar muss sein: Wir schauen nicht weg, wenn Menschen leiden. Das Existenzrecht Israels wird nicht in Frage gestellt. Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat wird nicht in Frage gestellt." Jede Form des Terrors sei abzulehnen, jegliche NS-Vergleiche verböten sich. "Genau wie jede Form von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit." Der gesamte Uni-Senat stehe dahinter, sagt Clement. Was sie sich wünscht: dass sich alle Hochschulen in Deutschland gemeinsam einen solchen Diskursrahmen geben.
Hitzige Töne und gegenseitig Vorwürfe
Und tatsächlich lud HRK-Präsident Walter Rosenthal direkt nach der HRK-Mitgliederversammlung zu einer weiteren virtuellen Austauschrunde ein "mit einem besonderen Fokus auf Maßnahmen zum Schutz von jüdischen Studierenden sowie auf die Moderation von Konflikten auf dem Campus". Wie hatte er in seiner Erklärung gesagt: "Wir dulden keine Gewalt, weder verbal noch physisch, keinen Antisemitismus, keinerlei Ausgrenzung – auch nicht gegen Studierende und Mitarbeitende palästinensischer Herkunft, die sich aktuell ebenfalls Sorgen machen." Und er fügte hinzu: Das Miteinander an einer Hochschule und die produktive Diskussion auf und neben dem Campus beruhten auf wechselseitigem Respekt, der Wahrung wissenschaftlicher Grundsätze, auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der Einhaltung der Gesetze.
Doch statt produktiven Diskussionen und wechselseitigem Respekt gibt es seit Wochen hitzige Töne und gegenseitige Vorwürfe. Etwa als die Staatsekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Sabine Döring auf "X" kritisierte, die international bekannte US-Philosophin Judith Butler kontextualisiere in einem Meinungsbeitrag das "Opfer" Hamas, aber nicht den "Täter" Israel. "So kommt – trotz ‚Ich verdamme den Terror der Hamas‘ — am Ende eben doch eine Relativierung desselben heraus". Und Döring, zugleich Philosophieprofessorin an der Universität Tübingen, fügte hinzu: Wenn man Butlers "hehre Vision" umsetze, würde der Staat Israel empirisch aufhören zu existieren und jüdisches Leben würde aus der Region rückstandsfrei getilgt.
Dörings Post löste Zustimmung, aber auch empörte Reaktionen in der Wissenschaftsszene aus. Der Historiker Ben Miller bezeichnete es ebenfalls auf "X" als "intellektuell grotesk, wenn jemand, insbesondere eine Deutsche, auf die Arbeit einer jüdischen Philosophin, die in der jüdischen intellektuellen Tradition arbeitet, mit dem Vorwurf reagiert, sie würde das jüdische Leben nicht genug wertschätzen". Was Döring pessimistisch resümieren ließ: "Sehen Sie, das ist genau der Grund, warum wir keine Chance mehr haben, miteinander einen fruchtbaren Diskurs zu führen."
Ein praktisches Ausrufezeichen der Verbundenheit mit Israel setzte derweil die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und vereinbarte mit ihrer israelischen Partnerorganisation Israel Science Foundation (ISF) eine weitere Stärkung ihrer Zusammenarbeit. Zu den Zielen gehört, die gemeinsame Förderung deutsch-israelischer Forschungsprojekte zu ermöglichen und die Ausarbeitung eines bilateralen Begutachtungsverfahrens. DFG-Präsidentin Katja Becker betonte, das sogenannte Memorandum of Understanding sei bereits vor dem Terrorangriff der Hamas ausgearbeitet worden. "Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Israel und in der Region bekommt die Stärkung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit nun zusätzliche Bedeutung, auch als Zeichen der Solidarität."
Dieser Artikel erschien zuerst im DSW Journal 4/2023.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Blog-Finanzierung
Wie dieser Blog finanziell aufgestellt ist, warum er Ihre Unterstützung braucht – und welche Artikel im November am meisten gelesen wurden.
Die Inhalte der verlinkten Blogs und Blog Beiträge unterliegen in vielen Fällen keiner redaktionellen Kontrolle.
Warnung zur Verfügbarkeit
Eine dauerhafte Verfügbarkeit ist nicht garantiert und liegt vollumfänglich in den Händen der Blogbetreiber:innen. Bitte erstellen Sie sich selbständig eine Kopie falls Sie einen Blog Beitrag zitieren möchten.
Bund und Länder haben sich mit drei Wochen Verspätung auf die Fortführung des HAW-Forschungsprogramms geeinigt. Eine gute Nachricht für die Hochschulen – und für die Wissenschaftspolitik insgesamt.
DIE WICHTIGSTE NACHRICHT des Tages für die Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW): Die Verlängerung ihres Forschungsprogramms steht. Natürlich unter dem derzeit nicht ganz unerheblichen Vorbehalt, dass der Bundeshaushalt 2024 demnächst beschlossen wird, und zwar inklusive der im Entwurf enthaltenen Millionen für die HAW. Mit der am Montagnachmittag verkündeten Einigung von Bund und Ländern in der Sondersitzung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) endet somit die Hängepartie der vergangenen Wochen – zumindest, siehe Haushaltskrise, der Teil, auf den die Wissenschaftsminister von Bund und Länder Einfluss nehmen können.
Der GWK-Vorsitzende, Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume (CSU) hatte insofern Recht, als er in der begleitenden Pressekonferenz von einem "wichtigen Signal in diesen herausfordernden Zeiten" sprach, dass Bund und Länder in schwierigen Zeiten gemeinsam handlungsfähig seien. Ob allerdings Blumes gleichzeitige Formulierungen von einem "echten Paukenschlag für die deutsche Forschungslandschaft" und einem "echten Mehr" doch etwas groß geraten sind, kann man angesichts der Eckwerte der Einigung durchaus fragen.
Insgesamt 528 Millionen Euro stecken Bund und Länder gemeinsam in den Fortsetzung des Programms, davon sind sind bis zu 493 Millionen für die direkte Forschungsförderung vorgesehen. Macht auf die mit sieben Jahren erfreulich lange Laufzeit bis 2030 rechnerisch 70,4 Millionen pro Jahr. Eine Steigerung um gut zehn Millionen im Vergleich zum bisherigen Jahresvolumen für die Jahre 2019 bis 2023. Wobei zur Vollständigkeit gehört: Rechnet man die Geldentwertung der vergangenen vier Jahre ein, bleibt real nicht viel Zuwachs übrig.
Vielleicht ist das aber dann doch etwas kleinkariert angesichts des Umstandes, dass die Vereinbarung bis vor kurzem noch ganz auf der Kippe stand. Hatten sich Bund und Länder doch in kaum vereinbar erscheinende Verhandlungspositionen hineinmanövriert: Das BMBF bestand lange auf der Umsetzung des Ampel-Kabinettsbeschlusses, dass der Finanzierungsanteil des Bundes bei neuen Maßnahmen, bei denen der Bund die Länder unterstütze, nur noch maximal 50 Prozent betragen dürfe. Und die Landesfinanzminister hatten bei ihrer Sitzung in Brüssel erst kürzlich darauf beharrt: Auf keinen Fall dürften in der neuen Vereinbarung zum HAW-Programm, und sei es nur für ein einziges Jahr der Laufzeit, die 50 Prozent stehen, um keinen Präzedenzfall für andere Vereinbarungen zu schaffen.
Alles eine Frage der Kommunikation
In der Pressekonferenz nach dem Ampel-Kabinettsbeschluss gefragt, antwortete Bundesforschungsministerin (und GWK-Kovorsitzende) Bettina Stark-Watzinger (FDP) ausweichend, Bund und Länder hätten gemeinsam mehr für die HAW erreicht, beide Seiten hätten sich aufeinander zubewegt. Und sie betonte darüber hinaus: "Dass wir eine Einigung zur Weiterentwicklung und Fortsetzung erzielen konnten, zeigt, welche herausgehobene Bedeutung das Programm und damit die angewandte Forschung für uns hat."
Ganz ähnlich hörte sich das bei Markus Blume an: Es sei am Ende nicht mehr um Prozentanteile gegangen, die Länder brächten in jedem Fall künftig einen "signifikanten Anteil" der 528 Millionen auf. Konkret: knapp 83 Millionen Euro. Was rund 15,7 Prozent entspricht und in der Tat ein großen Unterschied zur bisherigen Kostenverteilung (Bund: 100 Prozent, Länder 0 Prozent) bedeutet – und auch mehr als die zehn Prozent, die die Landesfinanzminister ihrerseits lange zu geben bereit waren. In Wirklichkeit ist die Kostenverteilung freilich noch viel komplizierter, weil altes und neues Programm in der finanziellen Abwicklung ineinanderlaufen.
Jedenfalls hatte man offenbar miteinander vereinbart, sich öffentlich keinen kommunikativen Schlagabtausch über die Frage zu liefern, wer denn nun am Ende seine Maximalposition hat räumen müssen. Eine kluge Entscheidung. Freilich wäre es noch klüger gewesen, wenn die Finanzseite die Wissenschaftspolitik gar nicht erst in solch eine Bredouille hineingebracht hätte.
Auf nochmalige Nachfrage ergänzte Stark-Watzinger, Bund und Länder hätten sich auf ein Stufenmodell geeinigt, bei dem sich die Anteile der Länder über die Jahre hinweg erhöhten. Aber wie genau? Die Bund-Länder-Vereinbarung, auf die Blume und Stark-Watzinger in der Pressekonferenz für die Details verwiesen, war zunächst auf der GWK-Website noch nicht abrufbar.
Hamburgs Finanzsenator: Kein Präjudiz für andere Förderverfahren
Klar ist indes: Der Bund ist über die sieben Jahre hinweg mit durchschnittlich 63 Millionen Euro pro Jahr dabei, er hält damit seine bisherige Finanzierungshöhe in der Summe über die Gesamtlaufzeit wie versprochen stabil. Die 2024er-Finanzierung übernimmt er sogar noch allein, weil für das Jahr in den Landeshaushalten noch kein Geld vorgesehen ist – und weil 2024 noch viel Geld für bis Ende 2023 im Vorgängerprogramm beantragte Projekte fließt. In den Jahren 2025 bis 2030 werden die Länder wegen des Stufenplans gegen Ende der Laufzeit stark steigende Summen drauflegen. Bis zu 50 Prozent im Jahr 2030?
Auf Seiten der Landesfinanzminister, die gleichberechtigte Mitglieder in der GWK sind, hatte Hamburgs Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) die Verhandlungen koordiniert. "Wir haben im Interesse der Sache intensiv um eine pragmatische Lösung gerungen", sagte er am Nachmittag. Letztlich sei es gelungen, "in finanzpolitisch extrem herausfordernden Zeiten die wissenschaftspolitisch bedeutsame Förderung der Profilbildung von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in der Forschung fortzuführen". Und dann kam doch die Bemerkung zu der 50-Prozent-Agenda der Ampel: "Ohne Präjudiz für andere Förderverfahren haben wir dazu heute nach Abstimmung mit den Finanzministerien der Länder für dieses Programm grünes Licht gegeben."
Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) sagte, "gerade in diesen Zeiten" seien Investitionen in Wissenschaft und Forschung "wichtiger denn je, um die Innovationsfähigkeit unseres Landes zu erhalten – das sollten auch alle bedenken, die jetzt in Berlin über die Haushalte beraten".
Zu den inhaltlichen Neuerungen am HAW-Programm zählt laut BMBF-Chefin Stark-Watzinger, dass es ein regelmäßiges Monitoring zum Erreichen der Programmziele geben soll. Im BMBF-Haushalt wurde die HAW-Forschungsförderung bereits 2023 in die Titelgruppe der geplanten Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) überführt. Was diese Einbindung praktisch für die Programmabwicklung bedeuten wird, dazu äußerte sich Stark-Watzinger zunächst noch nicht. Geplant ist in der neuen Programmphase aber ein Nebeneinander themenoffener Forschungsförderung und der Möglichkeit, zu aktuellen Bedarfen kurzfristig Förderlinien mit thematischen Schwerpunkten aufzusetzen.
Die Hochschulen für angewandte Wissenschaften begrüßten den GWK-Beschluss. Auch freuten sie sich, dass Blume und Stark-Watzinger sich in der Pressekonferenz deutlich zur hohen Bedeutung der angewandten Forschung und des Transfers an HAWs geäußert hätten, hieß es in einer Stellungnahme des Sprecherkreises der HAW in der Hochschulrektorenkonferenz.
Gleichwohl bleibe das Gesamtvolumen deutlich hinter den von den HAWs geforderten 150 Millionen Euro jährlich zurück und "versetzt sie nicht in die Lage, ihr enormes Potenzial in der anwendungsorientierten Forschung zur Lösung der großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen deutlich stärker als bisher auszuschöpfen". Die Hochschulen setzten ihre Hoffnung für die Zukunft auf die sich gegenseitig verstärkende Wirkung von angewandter Forschung durch die HAW-Forschungsprogramm und die separate Transferförderung die DATI, "die insbesondere den Bedarfen der HAWs gerecht werden soll".
GWK beschließt Aktionsplan gegen Antisemitismus
In ihrer GWK-Sitzung verurteilten die Minister zugleich mit Entschiedenheit "alle antisemitischen Vorfälle an wissenschaftlichen Einrichtungen in Folge des barbarischen Terrorangriffs der Hamas gegen Israel". Bund und Länder seien sich einig, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen sichere Orte für Bildung und Forschung sein müssten, "in denen Antisemitismus, Hassreden und Rassismus nicht geduldet werden und gegen Rechtsverstöße entschieden vorgegangen wird". Die GWK beschloss, gemeinsam einen Aktionsplan zu erarbeiten, der im Rahmen der nächsten Sitzung der Kultusministerkonferenz beraten werden soll. Diese findet schon in zehn Tagen statt.
"Wir sind uns einig: Jüdinnen und Juden in Deutschland müssen sich sicher fühlen können – auch und gerade an unseren Hochschulen", sagte Markus Blume. Die Hochschulen seien Orte gelebter Demokratie, der Toleranz und der Vielfalt sowie Lernorte für Zivilcourage. "Wir lassen deshalb nicht zu, dass unter dem Deckmantel der Wissenschaftsfreiheit Antisemitismus verbreitet wird." Bettina Stark-Watzinger sagte, durch den "Zivilisationsbruch" des Hamas-Terrorangriffs sei "ein schamloser Antisemitismus auch an Hochschulen in Deutschland sichtbar geworden. Das ist unerträglich und wir müssen uns dem klar entgegenstellen."
Nachtrag am 28. November:
So sieht der Stufenplan aus
Wie Bund und Länder den 50-Prozent-Konflikt lösten – und warum im Jahr 2030 nur noch 60 Millionen in die Projektförderung gehen
Jetzt ist die am Montag in der GWK abgeschlossene neue Bund-Länder-Vereinbarung online. Unter Paragraph 5 findet sich denn auch das, worüber weder Blume noch Stark-Watzinger in der Pressekonferenz im Detail sprechen wollten: die Ausbuchstabierung des Stufenplans. Und tatsächlich: Der Länderanteil an den neu zur Verfügung gestellten Fördermitteln steigt von 0 Prozent (2024) über 2,2 Prozent (2025), 6,8 Prozent (2026), 13,7 Prozent (2027), 20 Prozent (2028) und 25 Prozent (2029) auf 50 Prozent im letzten Jahr der Laufzeit, 2030, an.
Allerdings stehen die Prozentwerte, wohl ganz bewusst, nicht in der Vereinbarung, sondern nur die absoluten Zahlen. Klar wird aber auch so, weshalb Hamburgs Finanzsenator Dressel das mit dem "Kein Präjudiz" am Montag so hervorgehoben hatte.
Ganz echt sind die 50 Prozent Länderanteil im letzten Jahr allerdings nicht, denn die Kosten für das Programmmanagement und das in der Form neue programmbegleitende Monitoring trägt der Bund laut Vereinbarung allein. Dieser Ausgabenposten ist über die gesamte Laufzeit mit 35 Millionen berechnet, beträgt also rechnerisch sieben Millionen pro Jahr. Was, auf die Gesamtausgaben fürs Jahr 2030 bezogen, den Bundesanteil wiederum auf gut 55 Prozent erhöhen würde.
Eigentlich der perfekte Kompromiss, weil so beide Seiten intern sagen können, sie hätten ihr Ziel erreicht. Was allerdings aus Sicht der HAWs bitter ist: Der Bund fährt seine Beteiligung parallel zum stark steigenden Länderanteil von 2029 an drastisch zurück. 2030 gibt er so nur noch 30 Millionen in die Projektförderung, das Programmvolumen insgesamt sinkt dann auf 60 Millionen Euro (plus Abwicklungskosten) ab. Die höchste Jahrestranche wird 2028 mit 81,25 Millionen Euro erreicht.
Kostenfreien Newsletter abonnieren
In eigener Sache: Bitte unterstützen Sie meine Arbeit
Die Finanzierung des Blogs bleibt eine Herausforderung – bitte unterstützen Sie meine Arbeit!