Der schwere Weg nach Westen: Litauen 1990-1998
In: Aus Politik und Zeitgeschichte: APuZ, Heft B 37, S. 35-45
ISSN: 0479-611X
"Litauen hat auf seinem Weg nach Westen seit 1990 eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Innerhalb von acht Jahren wurden die institutionellen und gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, die eine innere Staatsordnung nach westlichem Vorbild ermöglichen. Im politischen Bereich ist der Systemwechsel inzwischen vollzogen. Demokratische Machtwechsel belegen ebenso wie ein inzwischen ausdifferenziertes Parteiensystem die politische Stabilität. Die wirtschaftliche Transformation, die in eine tiefe Krise Anfang der neunziger Jahre führte, weist inzwischen ermutigende makroökonomische Werte auf, doch gibt es nach wie vor auch negative Indikatoren wie etwa eine ausgeprägte Schattenwirtschaft, administrative Mängel und Schwächen im Privatisierungsprozeß. Bedenklich sind die tiefgreifenden sozialen Folgen der Transformation. Eine paternalistische Gesellschaft machte innerhalb kürzester Zeit Erfahrungen mit einem kapitalistisch ausgerichteten System. Viele Litauer mußten eine Verringerung ihres Lebensstandards hinnehmen; Inflation und bislang unbekannte oder vernachlässigbare Nebenkosten (Miete, Heizung usw.) dominieren die Ausgaben der litauischen Haushalte in massiver Weise. Trotz der sich konsolidierenden Lage lastet eine große soziale Hypothek auf dem neuen Staat. Noch vermag die wiedergewonnene Unabhängigkeit die junge Republik zu stabilisieren, doch mittelfristig kann nur eine Hebung des Lebensstandards für breite Bevölkerungsteile den 'Weg nach Westen' absichern. Die soziale Schichtung spiegelt diese Entwicklung wider, denn ein breiter Mittelstand existiert nicht. Neben dem gesunkenen Lebensstandard ist es bislang nicht gelungen, gegen Korruption und Kriminalität einschneidende Maßnahmen zu ergreifen. Direkt mit den sozialen Umbrüchen verbunden, schadet diese Entwicklung dem litauischen Staat sowohl nach innen wie nach außen. Die Außenpolitik Litauens ist geprägt durch gutnachbarschaftliche Beziehungen mit den Anrainerstaaten. Offene territoriale Fragen existieren nicht. Litauen hat sich klar nach Westen orientiert, das Land strebt die Mitgliedschaft in der NATO und der EU an. Die letzten Entscheidungen des Westens haben in Litauen zwar Enttäuschung ausgelöst, doch hofft man, das Ziel im zweiten Anlauf zu erreichen. Die Beziehungen zur Bundesrepublik sind gut, doch hat Deutschland in letzter Zeit deutlich an Bedeutung verloren, da Litauen mehr Unterstützung in den USA, Skandinavien und Polen findet und dementsprechend seine Außenpolitik orientiert. Das Ansehen der Bundesrepublik in der litauischen Öffentlichkeit leidet derzeit massiv unter der Weigerung, einen visumfreien Reiseverkehr mit Litauen aufzunehmen." (Autorenreferat)