Warum Tilly lesen?
In: Why? Was passiert, wenn Leute Gründe angeben ... und warum, S. 7-29
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In: Why? Was passiert, wenn Leute Gründe angeben ... und warum, S. 7-29
In: Andrew Abbott: Zeit zählt: Grundzüge einer prozessualen Soziologie, S. 7-61
Es handelt sich bei diesem Text um die Einführung in den Band "Zeit zählt" des Chicagoer Soziologen Andrew Abbott und skizziert die Grundzüge seines Werks. Abbott ist zeit seines Forscherlebens auf der Suche nach einer prozessualen Soziologie. Wer sich mit seinen Arbeiten befasst, kommt nicht umhin, sich gleichzeitig damit auseinanderzusetzen, wie sich die Soziologie als Disziplin entwickelt hat. Das liegt zum einen daran, dass Abbott die Soziologie selbst als einen empirischen Untersuchungsgegenstand behandelt. Zum anderen ist Abbott über seine gesamte Forscherbiografie hinweg ein Suchender, wobei er immer wieder die Soziologie als Ausgangs- und Bezugspunkt nimmt. Erstens, so ließe sich in lockerer Anlehnung an Marcel Proust formulieren, ist er auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es geht ihm darum, die Temporalität des Sozialen als zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Methodologie und soziologischer Theoriebildung zu verankern. Zweitens zielt Abbott auf sozialtheoretische Anschlussfähigkeit ab. Er findet eine Disziplin vor, in der seine Argumente zunächst kaum Gehör finden, da sie für gewöhnlich auf Basis grundlegend divergierender Prämissen verfährt. Drittens schließlich ist Abbott ständig damit beschäftigt, eigene Positionen zu revidieren. Er arbeitet fortlaufend daran, seine bisherigen Prämissen, Konzepte und Standpunkte zu überdenken, zu modifizieren oder auch fallen zu lassen.
In: Chimära mensura? Die Human-Animal Studies zwischen Schäferhund-Science-Hoax, kritischer Geschichtswissenschaft und akademischem Trendsurfing, S. 176-190
Der Beitrag befasst sich mit dem sogenannten "Schäferhund-Hoax". Das primäre Erkenntnisinteresse liegt dabei auf dem Problem der wissenschaftsinternen Kritik- und Ablehnungsfähigkeit. Die auf den konkreten Fall gemünzte These ist, dass wir es im Fall des "deutsch-deutschen Schäferhundes" mit der kommunikativen Validierung eines Quatschbeitrags zu tun haben, der als Normalisierung des Absurden funktioniert. Reiner Blödsinn erhält dabei unter der Beteiligung vieler - Autorinnen und Autoren, Tagungsteilnehmende, Zeitschriftenverantwortliche - seine wissenschaftliche Anerkennung, weil die Gemengelage aus nicht-kommunizierter Ablehnung und kommunizierter Zustimmung die Sinnfreiheit der Aussagen nicht als solche entlarvt. Der Vorgang ähnelt dabei, wie ich zeigen möchte, in seinen wesentlichen Zügen an das "Simon & Garfinkel-Prinzip" alltäglicher Kommunikation. In Gesprächen mit anderen sind wir regelmäßig dazu bereit, selbst die absurdesten Dinge zu glauben.
In: Wissensrelationen: Beiträge und Debatten zum 2. Sektionskongress der Wissenssoziologie, S. 547-556
Das Konzept des Awareness Context (Barney Glaser und Anselm Strauss) erlaubt es - so die These des Beitrags -, systematisch eine situative Konsequenzialität organisierten Handelns zu analysieren, die aus der konkreten Verteilung sachverhaltsspezifischen Wissens resultiert. Konsequenzialität meint dabei nicht einfach nur, dass organisiertes Handeln bestimmte Folgen hat. Der Begriff bezieht sich vielmehr darauf, warum bestimmte Folgen eintreten (oder auch ausbleiben). Er adressiert primär die temporale Ordnung, in der Handeln und Folgen miteinander verknüpft sind, und lenkt das Augenmerk auf das spezifische "Setting", in dem die Beteiligten handeln, und das spezifische "Timing" organisierten Handelns und seinen Effekten. Um meine These zu begründen, gehe ich in der Kürze, die durch das Format des Tagungsbands geboten ist, zweiteilig vor. Zunächst skizziere ich, dass das Konzept der Awareness Contexts als eine Theorie organisierter Wissensrelationen gelesen werden kann. Daraufhin präsentiere ich zwei empirische Schlaglichter, die nachzuvollziehen helfen, wie die Konfiguration organisierter Wissensrelationen bestimmte Handlungsfolgen zeitigen. Wie ich zeigen möchte, ist in dieser Perspektive die massenhafte Erschießung der jüdischen Bevölkerung von Józefów am 13. Juli 1942 durch Ordnungspolizisten des Reserve-Bataillons 101 ein paradigmatischer Fall plötzlicher Konsequenzialität. Die Entscheidung in der Verwaltungsbehörde eines Bistums, durch Pfarreibesuche gemeindespezifisch zu eruieren, wie sich das kirchliche Leben vor Ort entwickelt, ist im Vergleich dazu ein Fall suspendierter Konsequenzialität.
In: POSITIONEN Sozialforschung weiter denken
Soziologie ist eine Disziplin, die durch zahlreiche Kontroversen geprägt ist. Nicht jeder dieser Konflikte trägt jedoch dazu bei, die soziale Welt besser zu begreifen. Mit seinem Buch wendet sich Isaac Ariail Reed vor allem gegen den Gegensatz von Erklären und Verstehen, der in der Soziologie seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert gepflegt wird und vielerorts als unüberwindlich gilt. Sein Buch ist ein provokantes Plädoyer dafür, dass Sozialtheorie dazu dienen kann, anschauliche und historisch sensible Erklärungen für soziale Phänomene zu gewinnen. Der Clou ist, dass die Erklärungen, für die Reed wirbt, interpretativ angelegt sind. Der Gegensatz zwischen Erklären und Verstehen ist letztlich eine Scheinopposition. Er analysiert, wie Theorie in den Sozialwissenschaften tatsächlich genutzt wird, anstatt auf Prinzipien herumzureiten, die unabhängig von dieser Praxis sind. Reed gelangt so zu einem hermeneutisch angelegten Forschungsansatz, der Machtbeziehungen reflektiert und das Augenmerk darauf lenkt, wie soziale Interaktionen ablaufen. Selbst wer diesen Ansatz nicht teilt, gewinnt mit dem Buch die Möglichkeit, sein eigenes Arbeiten zu überdenken und schärfer zu profilieren. In der Reihe Positionen erscheinen klassische und neue Texte, die sich damit auseinandersetzen, was wegweisende Sozialforschung methodisch und theoretisch ausmacht, und die aufzeigen, was sie leisten kann. Sozialforschung weiterdenken heißt, mit Positionen zu experimentieren, die inspirieren und irritieren, weil sie die theoretischen und methodischen Konventionen sozialwissenschaftlichen Forschens hinterfragen, überwinden oder neu arrangieren. Die ausgewählten Werke fordern allesamt heraus; sie geben Orientierung und enthalten überraschende Einsichten; sie machen Deutungsangebote und ermuntern zu Kritik. Ziel der Reihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist es, methodisch und theoretisch kreativen Impulsen mehr Gewicht in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen zu verleihen. Dazu versammelt Positionen sowohl Originaltexte als auch Übersetzungen.
In: Positionen - Sozialforschung weiter denken
Klappentext: Was haben Mäuse, Chicago und die Französische Revolution gemeinsam? Sie nehmen in der Biologie beziehungsweise der Sozialforschung jeweils die Rolle von Modellfällen ein. Es handelt sich um besonders beforschte Einzelphänomene, deren Eigenschaften generalisiert werden und unser Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge unverhältnismäßig stark prägen. Auch wenn die Untersuchungsgegenstände und Erkenntnisinteressen in den Geistes- und Sozialwissenschaften schwerer zu umreißen sind als in anderen Bereichen, stürzen sich die Forschenden, wie Monika Krause in ihrer viel gelobten Studie zeigt, auf einen Kanon von Objekten: Die Französische Revolution etwa hat allgemeine Vorstellungen des Umsturzes, der Staatsbürgerschaft und der politischen Moderne tiefgreifend beeinflusst, ebenso wie Studien über Ärzt:innen die Agenda für die Forschung über Berufe bestimmt haben. Krause analysiert, wie und warum sich Forschende oft auf immer die gleichen Modellfälle verlassen und wie dieses Vorgehen einer problematischen Selbstbeschränkung gleichkommt, wenn diese Entscheidungen unreflektiert bleiben. Ihr Buch ist ein Wegweiser, um sich Potenziale und Begrenzungen einer Sozialforschung begreiflich zu machen, die selbst maßgeblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben hat.
World Affairs Online
In: Positionen - Sozialforschung weiter denken
In: Die Gegenwart der Gewalt und Macht der Aufklärung: Festschrift für Jan Philipp Reemtsma, S. 123-139
Die beiden Ausstellungen zu den Verbrechen der Wehrmacht sind zusammengenommen ein Lehrstück über eine durchaus komplizierte Konstellation des Zeigens von Gewalt und des Redens und Schweigens über sie. Das betrifft zum einen die öffentliche Kommunikation über Täterschaft an massenhafter Vernichtung. Zum anderen ist die Ausstellung selbst eine eigentümliche Zeige-Rede-Schweige-Konstellation, worauf gerade die skizzierte Tat- und Täterzentrierung aufmerksam macht. Sie zeigte die Bedrängten, Gemarterten, Ermordeten, ließ sie aber schweigen. Das Wort hatten die Täter bzw. Beobachter an der Seite der Täter. Die wenigen Ausnahmen, die sich wissenschaftlich mit Wehrmachtsverbrechen aus Betroffenenperspektiven befassten, belegen eindrücklich, dass der täterorientierte Betrachtungs- und Interpretationsrahmen für gewöhnlich unangetastet blieb. Jan Philipp Reemtsma hat nicht nur in diversen Reden und Aufsätzen, sondern insbesondere in seiner Studie Vertrauen und Gewalt erörtert, dass und wie über Gewalt in der Moderne geschwiegen wird. Im Kern entfaltet er ein kommunikationstheoretisches, an Niklas Luhmann erinnerndes Argument, weil er darauf aus ist, dass Gewalt nicht allein vom schieren Antun oder Erleiden her begriffen werden kann, von der Mitteilung einer Information, an der die drangsalierte, verletzte oder getötete Person erzwungenermaßen mitwirkt, sondern auch daher, wie Dritte sie verstehen. Dabei befasst er sich zugleich mit gesellschaftlichen Rahmensetzungen, in deren Folge nur ganz bestimmte und nur wenige Gewaltbilder gesellschaftlich zeigbar und kommunikabel sind, während jedoch vieles, insbesondere Autotelisches, aus diesen Rahmungen fällt bzw. keinen passenden Rahmen findet - nicht thematisierbar ist, schweigsam bleibt. Die beiden Wehrmachtsausstellungen machen an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass diese Rahmen womöglich weniger stabil sind, als Reemtsma selbst es in seinen Schriften nahelegt. In seiner Untersuchung behandelt er sie weitgehend als verfestigt, stark institutionalisiert, als von Dauer. Sind die beiden Schauen aber nicht ein Beleg dafür, dass sich zumindest einzelne Betrachtungsrahmen episodisch-spektakulär, möglicherweise auch kontinuierlich-unmerklich wandeln? Die Zeige-Rede-Schweige-Konstellationen von Gewalt sind in dieser Perspektive womöglich beweglicher, fragiler, gestaltbarer, als es Reemtsma ungeachtet seiner eigenen Mitwirkung an den Ausstellungen erörtert. Die Wehrmachtsausstellungen weisen hier gewissermaßen über sich hinaus, als ein Modell, an dem sich auch andere mehr oder weniger abrupte Konstellationsverschiebungen studieren lassen - Konstellationen, in denen das Zeigen, Reden und Schweigen über Gewalt seine Relation verändert, wie es seit einigen Jahren vielerorts der Fall ist, denken wir nur an Black Lives Matter, #MeToo oder sexuellen Missbrauch in den Kirchen.
In: Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen: Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018, S. 1-8
Beitrag zur Ad-Hoc-Gruppe "Prozessuale Soziologie oder Soziologie sozialer Prozesse? Methodologische, epistemologische und ontologische Debatten"
In: utb 5573
In: Soziologie, Schlüsselkompetenzen
In: POSITIONEN Sozialforschung weiter denken
Einführung von Thomas Hoebel, Wolfgang Knöbl und Aaron Sahr Eine zeitgemäße Sozialforschung sollte prozessual angelegt sein, argumentiert der US-amerikanische Soziologe Andrew Abbott. Damit vertritt er einen radikal anderen Blickwinkel auf die soziale Welt als in den Sozialwissenschaften üblich. Nicht die Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse ist der Normalfall, sondern ihr Wandel. Nicht die kontinuierliche Veränderung sozialer Strukturen und kultureller Deutungen ist erklärungsbedürftig, sondern ihre Konstanz. Nicht die Modellierung sozialer Vorgänge mit Variablen wie Bildungsniveau, Haushaltseinkommen oder soziale Herkunft ist die angemessene Methode ihrer Analyse, sondern die Narration ihrer prozesshaften Entfaltungen, Wendungen und Abbrüche. Andrew Abbott geht es darum, die Temporalität des Sozialen als zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Methodologie und soziologischer Theoriebildung zu verankern. Mit dem Band »Zeit zählt« liegen erstmals ausgewählte Aufsätze von Abbott gebündelt in deutscher Übersetzung vor. Sie eröffnen den Zugang zu einem Autor, der in den USA und in Frankreich längst zu den prominentesten Sozialwissenschaftlern der Gegenwart gehört und der nicht nur gegen den Strich, sondern auch gegen sich selbst zu denken vermag. In der Reihe Positionen erscheinen klassische und neue Texte, die sich damit auseinandersetzen, was wegweisende Sozialforschung methodisch und theoretisch ausmacht, und die aufzeigen, was sie leisten kann. Sozialforschung weiterdenken heißt, mit Positionen zu experimentieren, die inspirieren und irritieren, weil sie die theoretischen und methodischen Konventionen sozialwissenschaftlichen Forschens hinterfragen, überwinden oder neu arrangieren. Die ausgewählten Werke fordern allesamt heraus; sie geben Orientierung und enthalten überraschende Einsichten; sie machen Deutungsangebote und ermuntern zu Kritik. Ziel der Reihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist es, methodisch und theoretisch kreativen Impulsen mehr Gewicht in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen zu verleihen. Dazu versammelt Positionen sowohl Originaltexte als auch Übersetzungen.
In: Organisation von Arbeit und berufsbegleitendem Lernen, S. 407-425
Der Zusammenhang von Gewalt und Arbeit findet in der sozialwissenschaftlichen
Forschung keine große Aufmerksamkeit, sondern ist in vielen Subdisziplinen
nur ein Nischenthema. Gleichzeitig gibt es im gesellschaftlichen Alltag zahlreiche
Vorgänge, die gleichzeitig arbeits- und gewaltgeprägt sind. Ein stärkerer
Fokus darauf, in welcher systematischen Beziehung Arbeit und Gewalt zueinanderstehen,
scheint daher vielversprechend, um die bisher vorliegenden Erkenntnisse
zu bündeln und füreinander fruchtbar zu machen. Der Beitrag vertritt dazu
die These, dass sich in der jüngeren Sozialforschung zumindest drei Muster der
Verknüpfung von Arbeit und Gewalt abzeichnen: (1) Gewalt als Arbeit, (2) Gewalt
bei der Arbeit und (3) Gewalt durch Arbeit.