Sammelwerksbeitrag(elektronisch)2012

Möglichkeiten und Grenzen der Prognose im Symbolischen Interaktionismus

In: Zukunftsgenese: Theorien des zukünftigen Wandels, S. 73-90

Abstract

"Der von Mead und Blumer entwickelte Symbolische Interaktionismus impliziert in seiner ursprünglichen Formulierung zwar bislang keine dezidierte Theorie der sozialen Prognose. Von Engelhardt entwickelt die Theorie aber eigenständig und konsistent in dieser Hinsicht weiter, indem er aus ihr die Prinzipien für ein Konzept der interaktiven, erfahrungsoffenen und lernfähigen Prognostik ableitet. Dieses Konzept zielt darauf ab, dass die Charakteristik der sozialen Wirklichkeit systematisch und bewusst in die Ausgestaltung der sozialen Prognose einbezogen wird. Der Symbolische Interaktionismus ist eine integrierte Handlungs-, Subjekt-und Gesellschaftstheorie, bei der die dynamischen Interaktionen zwischen wechselseitig aufeinander bezogenen Akteuren den Dreh- und Angelpunkt darstellen. Von Engelhardt betont, dass Entwicklungsverläufe grundsätzlich weder vollständig von Kontingenz noch vollständig von Notwendigkeiten geprägt sind. Das nichtdeterministische Verständnis gesellschaftlich-sozialer Entwicklungen ergibt sich aus der Auffassung, dass diese aus interaktiven Deutungs- und Handlungsprozessen hervorgehen, in die sich die Gesellschaftsmitglieder mit ihrer Fähigkeit zur Reflexion und Kreativität einbringen. Vorgegebene Regeln müssen ausgelegt, ausgehandelt und in praktisches Handeln umgesetzt werden, was immer auch deren unterschiedlich weit reichende Veränderung einschließt. Institutionen, Normen, Symbole und soziale Strukturen realisieren sich in den Deutungs- und Handlungsprozessen der Gesellschaftsmitglieder. Dabei besteht die Möglichkeit zur Reproduktion, zur Modifikation oder auch zum grundlegenden Wandel. In der sozialen Interaktion des Alltagslebens ist der Mensch auf Prognosen im Sinne von Zukunftserwartungen über die Reaktionen des sozialen Gegenübers angewiesen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Diese Prognosen gehen auf Extrapolationen aus der Vergangenheit hervor, die, um realitätsgerecht sein zu können, dem jeweiligen Gegenüber und dessen sozio-kultureller Lebenswelt sowie der aktuellen Handlungssituation angepasst werden müssen. Sie und die sie leitenden Grundsätze müssen, wenn sie partiell oder grundsätzlich scheitern, umgehend revidiert werden. Sie müssen die Erwartung des Nicht-Erwarteten einschließen und stellen in der Regel keine punktgenauen Vorwegnahmen dar, sondern umfassen einen Möglichkeitsraum potenzieller Handlungen. Auf gesellschaftlicher Ebene gilt zwar prinzipiell dasselbe, jedoch auf einem deutlich höheren Komplexitätsniveau. Prognosen selbst sind Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und können im Sinne von Self-fulfilling oder Self-denying Prophecies auf die Gesellschaft zurückwirken. Das im Symbolischen Interaktionismus angelegte Potenzial einer sozialen Prognostik steigt in dem Maße, in dem 1. natürliche und soziale Einflussfaktoren in die Analyse einbezogen werden, 2. von einer relativen Beständigkeit sozialer Strukturen und der Regelhaftigkeit sozialer Prozesse ausgegangen wird und 3. Historizitäten anerkannt werden. Während bei Mead die Möglichkeiten für eine soziale Prognostik relativ stark gegeben sind, werden sie in der von Blumer entwickelten Version des Symbolischen Interaktionismus eingeschränkt. Neben der formalen Erklärung von sozialem Wandel macht der Symbolische lnteraktionismus auch konkrete inhaltliche Aussagen zur gesellschaftlichen Zukunft. Bei Mead werden eine zunehmende Arbeits- und Funktionsteilung und eine Vervielfältigung von Sozialbeziehungen betont; die nationalen Grenzen werden zugunsten einer globalisierten Welt, einer Weltgesellschaft, an Bedeutung verlieren. Diese Zukunftserwartung verbindet Mead mit der Hoffnung auf eine ideale Welt der gleichberechtigten Kommunikation und Verständigung zwischen allen Menschen, sozialen Gemeinschaften und Kulturen. Für Blumer nehmen gesellschaftliche Dynamik, Komplexität und Vernetzung zu, wodurch Standardregelungen für soziales Verhalten und Routinevorgaben für Problemlösungen an Relevanz verlieren. Damit wächst die eigenständige Bedeutung der interaktiven Deutungs- und Handlungsprozesse der Gesellschaftsmitglieder, auf die der Symbolische Interaktionismus den Fokus der sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit gelenkt hat. Diese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgetragenen Zukunftsprognosen des Symbolischen Interaktionismus sind - so der Autor - einer eingehenden wissenschaftlichen Überprüfung zu unterziehen." (Autorenreferat)

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